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Kammergericht Berlin Beschluss vom 22.07.2015 - 3 Ws 336/15 - 141 AR 339/15 - Haftbefehl oder Vorführungsbefehl bei Säumnis des Angeklagten
KG Berlin v. 22.07.2015: Haftbefehl oder Vorführungsbefehl bei Säumnis des Angeklagten bei angeordnetem persönlichen Erscheinen
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 22.07.2015 - 3 Ws 336/15 - 141 AR 339/15) hat entschieden:
- In einem Verfahren nach Einspruch gegen einen Strafbefehl ist der Erlass eines Vorführungsbefehls oder Haftbefehls im Falle des unentschuldigten Nichterscheinens des Angeklagten trotz ordnungsgemäßer Ladung und Anwesenheit eines mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidigers bei angeordnetem persönlichen Erscheinen des Angeklagten zulässig.
- Allein der Wohnsitz des Angeklagten im Land Brandenburg in einem Umkreis von weniger als 100 km von Berlin entfernt steht dem Erlass eines Vorführungsbefehls als milderes Zwangsmittel nicht entgegen.
Siehe auch Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen und Säumnis des Betroffenen bzw. Angeschuldigten in der Hauptverhandlung im OWi- oder Strafverfahren
Gründe:
Das Amtsgericht Tiergarten hat gegen den Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort einen Strafbefehl über 20 Tagessätze zu je 30,00 Euro erlassen und zusätzlich wegen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO eine Geldbuße in Höhe von 55,- Euro festgesetzt. Gegen diesen Strafbefehl hat er Einspruch eingelegt. Zum anberaumten Hauptverhandlungstermin ist der Angeklagte, dessen persönliches Erscheinen nach § 236 StPO angeordnet war, ohne hinreichende Entschuldigung nicht erschienen. Daraufhin hat das Amtsgericht gegen ihn gem. § 230 Abs. 2 StPO Haftbefehl erlassen. Die gegen diesen Haftbefehl gerichtete Beschwerde des Angeklagten hat das Landgericht durch Beschluss vom 29. Juni 2015 verworfen. Seine dagegen gerichtete weitere Beschwerde hat Erfolg.
Die weitere Beschwerde des Angeklagten ist nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO zulässig. Nach allgemeiner Meinung kann ein nach § 230 Abs. 2 StPO erlassenen Haftbefehl unabhängig davon, ob er bereits vollzogen wird, mit der weiteren Beschwerde angegriffen werden (vgl. KG, Beschluss vom 1. November 2001 - 4 Ws 168/01 - in juris; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 230 Rn. 46 m.N.).
2. Die weitere Beschwerde ist auch begründet. Der gemäß § 230 Abs. 2 StPO wegen des Ausbleibens des Angeklagten in der Hauptverhandlung erlassene Haftbefehl kann keinen Bestand haben. Zwar steht dem Erlass des Haftbefehls nach dieser Vorschrift nicht entgegen, dass sich der Angeklagte nach Einspruch gegen einen Strafbefehl gemäß § 411 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten lassen kann. Denn das Amtsgericht hatte vorliegend gemäß § 236 StPO das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet. Diese Maßnahme und im Falle ihrer Nichtbefolgung die Verhängung angedrohter Zwangsmittel - Erlass eines Vorführungs- oder Haftbefehls - werden durch die im Strafbefehlsverfahren nach § 411 Abs. 2 StPO bestehende Möglichkeit der Vertretung durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger nicht ausgeschlossen (vgl. KG a.a.O. m.w.N.).
Bei der Anordnung von Zwangsmitteln nach § 230 Abs. 2 StPO gilt jedoch der allgemeine Grundsatz, dass das mildeste Mittel anzuwenden ist. Dem an erster Stelle genannten Vorführungsbefehl gebührt als dem weniger einschneidenden Eingriff in die persönliche Freiheit stets der Vorrang vor dem Haftbefehl. Letzterer darf nur angeordnet werden, wenn nach Würdigung aller Umstände der Zweck des Absatzes 2, die Durchführung der Hauptverhandlung in Gegenwart des Angeklagten zu ermöglichen, anderenfalls nicht oder nicht mit der erforderlichen Sicherheit erreichbar wäre (vgl. Becker a.a.O. Rn. 25 m.N.).
Nach diesen Grundsätzen wäre es, zumal angesichts der im Strafbefehl verhängten geringen Geldstrafe, angemessen gewesen, zunächst nur die polizeiliche Vorführung des Angeklagten anzuordnen. Der Angeklagte hat einen festen Wohnsitz in Fehrbellin und hält sich nach Aktenlage auch dort auf. Umstände, aus denen sich ergeben würde, dass die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung durch Anordnung der Vorführung nicht sichergestellt werden kann, sind nicht ersichtlich. Auch der Wohnsitz des Angeklagten außerhalb Berlins steht einer Vorführung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Entfernung - wie hier - deutlich unter 100 Kilometer liegt und der Zeitaufwand für eine Vorführung denjenigen, der auch für eine solche innerhalb Berlins erforderlich sein kann, nicht erheblich überschreitet.
Der Senat sieht davon ab, den Haftbefehl, wie grundsätzlich möglich (vgl. Becker a.a.O. Rn. 45), in einen Vorführungsbefehl umzuwandeln. Aufgrund des Vortrags des Verteidigers nach Erlass des Haftbefehls, das fragliche Fahrzeug sei zur Tatzeit am fraglichen Ort gewesen, der Angeklagte habe es geführt und die Fahrereigenschaft des Angeklagten dürfe „daher als unbestritten gelten“, wird das Amtsgericht zu prüfen haben, ob es der persönlichen Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung noch bedarf.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last, weil sonst niemand dafür haftet.