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OLG Hamburg Beschluss vom 19.11.2015 - 1 Ws 160/15 - Zur Prüfung der Beiordnungsnotwendigkeit
OLG Hamburg v. 19.11.2015: Zur Prüfung der Beiordnungsnotwendigkeit bei anwaltlicher Vertretung des Nebenklägers
Das OLG Hamburg (Beschluss vom 19.11.2015 - 1 Ws 160/15) hat entschieden:
- Hat sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe eines anwaltlichen Beistands versichert, folgt aus diesem möglichen strukturellen Verteidigungsdefizit noch keine zwingende Beiordnungsnotwendigkeit.
- Notwendig aber auch hinreichend ist eine an den Umständen des Einzelfalls orientierte gerichtliche Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung, in die namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletzten einerseits und das Verteidigungsverhalten des Angeklagten sowie die Komplexität von Anklagevorwurf und Beweislage andererseits einzustellen sind.
- Hierbei kommt insbesondere einer differenzierenden Betrachtung der dem Verletzten im Einzelfall konkret zustehenden rechtlichen Befugnisse besondere Bedeutung zu; Bedacht ist etwa darauf zu nehmen, dass der nebenklagende Verletzte eine mit der Stellung der Anklagebehörde korrespondierende - die Beiordnung regelmäßig begründende - Verfahrensrolle innehat.
Siehe auch Beigeordneter Rechtsanwalt / Pflichtverteidiger und Verteidigung in Straf- und OWi-Sachen
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Hamburg hat den Angeklagten am 26. Februar 2015 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen sowie zur Zahlung von € 3.000 an den Adhäsionskläger verurteilt. Zur Last gelegt werden ihm zwei „wuchtige Fausthiebe" und ein „Ellenbogenschlag" in das Gesicht eines Bekannten anlässlich einer verbalen Auseinandersetzung beim gemeinsamen Grillen, wodurch der Geschädigte unter anderem einen Nasenbeintrümmerbruch und eine Augapfelquetschung erlitt. Die hiergegen vom Angeklagten fristgerecht eingelegte Berufung hat das Landgericht am 9. November 2015 verworfen. Mit seiner vor Beginn der Berufungshauptverhandlung eingegangenen Beschwerde wendet sich der Angeklagte gegen die Ablehnung seines Antrag auf Bestellung eines Verteidigers.
II.
Die Beschwerde des Angeklagten gegen die Versagung der Verteidigerbestellung ist zulässig (§ 304 StPO); in der Sache bleibt ihr indes der Erfolg versagt.
1. Die Anordnungsvoraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO liegen nicht vor.
a) Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO ist ein Fall notwendiger Verteidigung nur dann gegeben, wenn dem Verletzten nach § 397a oder § 406g Abs. 3 und 4 StPO ein Rechtsanwalt gerichtlich beigeordnet worden ist. Daran fehlt es hier.
b) Auch eine entsprechende Anwendung dieser Regelung kommt nicht in Betracht. Es fehlt bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Vor dem Hintergrund des aus den Gesetzesmaterialien klar erkennbaren gesetzgeberischen Willens besteht kein Raum für ein weitergehendes Normverständnis (vgl. BT- Drucks. 17/6261, S. 11; ferner KG, Urteil vom 14. März 2012 - (4) 161 Ss 508/11 (41/12), StV 2012, 714; so auch vgl. LR/Lüderssen/Jahn, 26. Aufl., Nachtrag § 140 Rn. 36).
2. Auch nach den Voraussetzungen der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO war eine Verteidigerbeiordnung hier nicht geboten. Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft ausgeführt:
„aa) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist nicht wegen der Schwere der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Tat geboten. ...
Der Beschwerdeführer ist in erster Instanz lediglich zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt worden. Die Verhängung einer höheren Strafe gegen ihn ist nach § 331 Abs. 1 StPO ausgeschlossen. Eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr ist daher nicht zu erwarten. Sonstige schwerwiegende unmittelbare oder mittelbare Nachteile ... die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat, sind nicht ersichtlich. Dem nicht vorbestraften Angeklagten droht insbesondere kein Bewährungswiderruf ...
bb) Auch wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage erscheint die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht erforderlich.
(1) Die Rechtslage lässt keine Schwierigkeiten erkennen. Schwierig ist die Rechtslage, wenn bei Anwendung des materiellen oder des formellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt bislang nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. November 2001 - 3 Ss 251/01, Rn. 6, juris). Hier geht es allein um geklärte Fragen des Körperverletzungsbestands, die eine Mitwirkung eines Verteidigers nicht erforderlich machen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist die Rechtslage ebenfalls einfach.
(2) ... Es ist nach dem Geständnis des Angeklagten weder ein länger andauerndes Verfahren mit zahlreichen Zeugenvernehmungen, noch die Erhebung schwieriger (Indizien-) Beweise zu erwarten. Es handelt sich um ein ausschließlich gegen den Angeklagten geführtes Verfahren ohne Mitangeklagte. Dem Angeklagten wird eine einzige Tat zur Last gelegt, der ein zeitlich und situativ eng umgrenzter Lebenssachverhalt zu Grunde liegt. Die amtsgerichtliche Hauptverhandlung hat an nur einem Tag stattgefunden und lediglich rund eindreiviertel Stunden angedauert. Das Amtsgericht hat in der Hauptverhandlung neben der Entgegennahme der Erklärungen des Angeklagten, der sich zur Sache eingelassen hat, einen Zeugen vernommen, Lichtbilder in Augenschein genommen und Urkunden verlesen. Das amtsgerichtliche Urteil umfasst lediglich rund fünf Seiten. Das Aktenmaterial ist begrenzt und beschränkt sich auf einen Aktenband. [...]
cc. Schließlich sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen könnte. Nach den von dem Angeklagten gegenüber dem Amtsgericht gemachten Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen hat er nach Erlangung der Fachhochschulreife eine Lehre als Buchhändler erfolgreich abgeschlossen und verfügt damit über eine überdurchschnittlich hohe Bildung. Jedenfalls zuletzt hat er danach als selbstständiger Massagetherapeut sein Einkommen bestritten, was zudem auf eine gewisse Geschäftsgewandtheit schließen lässt. Der Angeklagte kann sich unschwer bei der hier vorliegenden Fallgestaltung selbst verteidigen. Dass er hierzu in der Lage ist, hat er im vorliegenden Verfahren schon mehrfach - zuletzt in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht und durch Einlegung des Rechtsmittels - unter Beweis gestellt (Bl. 98/108 d.A.)."
Dem schließt sich der Senat an.
3. Der Senat bemerkt ergänzend:
Eine Beiordnung war hier auch nicht aus Gründen der - ebenfalls in der Generalklausel des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO angelegten - Verfahrensfairness und Waffengleichheit veranlasst.
a) Die durch das Gericht herzustellende Waffengleichheit für den Angeklagten kann eine Verteidigerbeiordnung gebieten, wenn der Verletzte durch einen von ihm gewählten Rechtsanwalt vertreten wird (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 140 Rn. 31 m.w.N.; Lüderssen/Jahn, a.a.O., Rn. 36; KMR- StPO/Haizmann, Stand März 2012, § 140 Rn. 38).
aa) Dies folgt bereits aus den Wertungen des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (BGBl. 2013 I, S. 1805 - StORMG). Hiermit wurde § 140 Abs. 1 StPO um solche Konstellationen erweitert, in denen dem Verletzten nach § 397a oder § 406g Abs. 3 und 4 StPO ein Rechtsanwalt gerichtlich beigeordnet worden ist (vgl. § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO). Damit sollte aus Gründen des fairen Verfahrens solchen problematischen Verfahrenssituation vorgebeugt werden, in denen ein unverteidigter Angeklagter einem anwaltlichen vertretenen Verletzten „alleine gegenübertreten muss" (vgl. BT-Drucks. 17/6261, S. 11). Diese - schon durch den „fachkundigen Rechtsrat" für den Verletzten begründete (vgl. BT-Drucks. 10/6124, S. 13 - OpferschutzG) - unterlegene Position eines unverteidigten Angeklagten kann indes in gleicher Weise auch dann bestehen, wenn sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe (§ 397a Abs. 2 StPO) eines anwaltlichen Beistands versichert. Diesem stehen - abgeleitet aus dem Recht des Verletzten in seiner konkreten Verfahrensrolle (vgl. Wenske in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., Nachtrag zu § 397 Rn. 15 und zu § 406f Rn. 7) - dieselben rechtlichen Befugnisse wie dem durch einen gerichtlich bestellten Beistand vertretenen Verletzten zu. Dem auch hierdurch begründeten strukturellen Verteidigungsdefizit kann durch die Maßgaben des § 147 Abs. 7 StPO oder durch gerichtliche Fürsorge für den in der Hauptverhandlung unverteidigten Angeklagten nicht in jedem Fall in geeigneter Weise begegnet werden (zur Reichweite gerichtlicher Fürsorge etwa Maiwald in FS Lange, 1976, S. 745 m.w.N.), zumal da bei vielfachen gerichtlichen Hinweisen an den Angeklagten erhebliche Verfahrensverzögerungen auch wegen hierdurch veranlasster Ablehnungsgesuche des anwaltlich vertretenen Verletzten zu besorgen stehen.
bb) Mit Blick auf die eindeutige gesetzgeberische Wertentscheidung in § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO folgt aus diesem möglichen strukturellen Verteidigungsdefizit für § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO indes keine zwingende Beiordnungsnotwendigkeit. Notwendig aber auch hinreichend ist eine an den Umständen des Einzelfalls orientierte gerichtliche Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung trotz einer bestehenden anwaltlichen Vertretung des Verletzten (BT-Drucks. 17/6261, S. 11; BR-Drucks. 213/11, S. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 140 Rn. 31; KK-StPO/Laufhütte/Willnow, 7. Aufl., § 140 Rn. 19; a.A. SSW/Beulke, § 140 Rn. 33; Lüderssen/Jahn, a.a.O., Rn. 36).
cc) In diese nach pflichtgemäßem vorzunehmende Würdigung der Umstände des Einzelfalls sind namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletzten und ihr tatsächlicher, auch absehbarer Gebrauch durch diesen einerseits und das Verteidigungsverhalten des Angeklagten - etwa sein Einlassungsverhalten - sowie die Komplexität von Anklagevorwurf und Beweislage andererseits einzustellen. Hierbei kommt namentlich einer differenzierenden Betrachtung der dem Verletzten im Einzelfall konkret zustehenden rechtlichen Befugnisse besondere Bedeutung zu. Bedacht ist insbesondere darauf zu nehmen, dass der nebenklagende Verletzte (§ 395 StPO) mit den in § 397 StPO geregelten prozessualen Gestaltungsrechten sowie mit seinen weitreichenden Informationsrechten (vgl. etwa § 406e Abs. 1 Satz 2 StPO) eine mit der Stellung der Anklagebehörde korrespondierende Verfahrensrolle innehat. Diese Verfahrensmacht wird regelmäßig bereits für sich die Annahme eines die Beiordnung erfordernden strukturellen Verteidigungsdefizits begründen, es sei denn die Sachlage ist ausnahmsweise rechtlich wie tatsächlich ganz besonders einfach gelagert. Dies gilt für den Verletzten nach §§ 406d, 406f, § 406h StPO sowie den nebenklagebefugten Verletzten - schon mangels Anwendbarkeit des § 397 StPO - nicht in gleicher Weise. In jedem Fall aber ist weiter zu bedenken, dass ein anwaltlich vertretener Verletzter von seinen Gestaltungsrechten regelmäßig in einer über den Verfahrensgegenstand durch die Akteneinsicht umfassend informierten Weise Gebrauch macht (zu im Einzelfall etwa bestehenden Versagungsgründen vgl. Senatsbeschluss vom 24. Oktober 2014 - 1 Ws 110/14, NStZ 2015, 105 mit Anm. Radtke). Auch hierdurch kann sich ein Verteidigungsdefizit vertiefen.
b) Gemessen an hieran gebieten weder die Waffengleichheit noch die Verfahrensfairness eine Verteidigerbestellung durch die Berufungsstrafkammer. In diese Bewertung hat der Senat zunächst die vom Verletzten eingenommene Verfahrensrolle eingestellt. Nachdem er seinen Antrag auf Zulassung der Nebenklage zurückgenommen und in der Hauptverhandlung lediglich noch seinen Adhäsionsantrag gestellt hat (§ 404 StPO), behandelte ihn das Amtsgericht fortan erkennbar als nebenklagebefugten Verletzten (§ 406g StPO); anders ist die durchgehende Anwesenheit seines anwaltlichen Beistands in der Hauptverhandlung nicht erklärlich (vgl. §§ 406f, § 406g Abs. 2 StPO). Dass diesem - die Befugnisse aus § 406g StPO gar überschießend - das Recht auf einen Schlussvortrag nach § 258 Abs. 1 StPO gewährt wurde (vgl. allein für den Nebenkläger § 397 Abs. 1 Satz 2 StPO), ist für die Bewertung seiner Verfahrensrolle freilich ohne Aussagekraft. Daher verfügt der Verletzte und Adhäsionskläger hier über die weitreichenden rechtlichen Befugnisse aus § 406g StPO sowie über die in §§ 406d ff. StPO begründeten umfassenden Informationsrechte. Letztere betätigte der Verletztenbeistand. Ihm wurde im Ermittlungs- bzw. Zwischenverfahren jeweils Akteneinsicht bewilligt (vgl. § 406e StPO).
Dem steht ein über den Inhalt der Verfahrensakten informierter Angeklagter gegenüber. Zwar war dem Angeklagten vor Bewilligung der Akteneinsicht an den Verletzten und damit vor dem Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte - was gesetzlich geboten gewesen wäre (vgl. nur Wenske in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., Nachtrag zu § 406e Rn. 4) - weder durch die Anklagebehörde noch durch das Amtsgericht rechtliches Gehör gewährt worden. Auch waren dem Angeklagten keine Aktenauskünfte nach § 147 Abs. 7 StPO erteilt worden. Ein Vertreter der Öffentlichen Rechtsauskunfts- und Vergleichsstelle Hamburg hatte aber den gesamten Akteninhalt mit dem Angeklagten besprochen und sodann in dessen Namen eine geständige Einlassung zur Akte gebracht. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den besonders einfach gelagerten Sachverhalt, das bereits im Ermittlungsverfahren durch den Angeklagten gegenüber der Polizei abgelegte und zumindest in Teilen in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht wiederholte Geständnis sowie die erleichterten Beweisführungsmöglichkeiten der §§ 325, 254 StPO im Berufungsrechtszug lag im hier maßgeblichen Zeitpunkt für das Landgericht kein strukturelles Ungleichgewicht vor. Daran ändert es schließlich auch nichts, dass keine Belehrung des Angeklagten über sein Recht erfolgt ist, als Adhäsionsbeklagter Prozesskostenhilfe beantragten zu können (§ 404 Abs. 5 StPO).
c) Dass die vom Amtsgericht verhängte Geldstrafe ihren Zweck, gerechter Schuldausgleich zu sein, schon angesichts der Schwere der durch den Geschädigten erlittenen Gesichtsverletzungen auch bei dem geständigen und bisher unbestraften Angeklagten verfehlt, ändert mit Blick auf § 331 StPO an dieser rechtlichen Bewertung durch den Senat für den Berufungsrechtszug nichts.