OLG Stuttgart Beschluss vom 08.11.2001 - 3 Ss 251/01 - Notwendige Verteidigung wegen Schwierigkeit der Rechtslage
OLG Stuttgart v. 08.11.2001: Notwendige Verteidigung wegen Schwierigkeit der Rechtslage
Das OLG Stuttgart (Beschluss vom 08.11.2001 - 3 Ss 251/01) hat entschieden:
Schwierig im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist die Rechtslage, wenn bei Anwendung des materiellen oder des formellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt bislang nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen.
Durch Urteil des Amtsgerichts Böblingen vom 15. März 2001 wurde der Angeklagte wegen vier tatmehrheitlicher Vergehen der wiederholten Zuwiderhandlung gegen eine Aufenthaltsbeschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz zu der Gesamtgeldstrafe von 70 Tagessätzen á 10,00 DM verurteilt. Gegen dieses Urteil hat er zunächst Berufung eingelegt und sodann gegenüber dem Amtsgericht innerhalb der Revisionsbegründungsfrist zulässig (Kleinknecht/Meyer- Goßner, StPO, 45. Aufl. § 335 Rdnr. 9) erklärt, zur Sprungrevision überzugehen. Mit der Revision beantragt der Angeklagte die Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils und die Zurückverweisung der Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Böblingen; er rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts.
II.
Seine Revision hat mit der Rüge, die Hauptverhandlung hätte nicht ohne Beisein eines Verteidigers stattfinden dürfen, (vorläufig) Erfolg. Auf die weiteren Verfahrensrügen und die ebenfalls erhobene Sachrüge kommt es nicht mehr an.
1. Der Rüge liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:
Der Angeklagte hatte in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren Rechtsanwalt ... als Verteidiger gewählt und mit Schriftsätzen vom 04. und 18. Dezember 2000 dessen Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragen lassen. Durch Beschluss vom 11. Januar 2001 wies das Amtsgericht den Antrag zurück; die hiergegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten verwarf das Landgericht Stuttgart mit Beschluss vom 02. Februar 2001 (18 Qs 6/00). Mangels Beiordnung blieb der Verteidiger der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Böblingen am 15. März 2001 fern, die daraufhin ohne Beisein eines Verteidigers bis zur Urteilsverkündung durchgeführt wurde.
2. Mit der Durchführung der Hauptverhandlung ohne Beisein eines Verteidigers hat das Amtsgericht gegen § 140 Abs. 2 StPO verstoßen, da die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der schwierigen Rechtslage geboten gewesen wäre. Der Verstoß gegen § 140 Abs. 2 StPO bildet stets einen unbedingten Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO (BGHSt 15, 306).
Schwierig ist die Rechtslage, wenn bei Anwendung des materiellen oder des formellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt bislang nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen (KK- Laufhütte, 4. Aufl., § 140 StPO, Rdnr. 23). Hier war entscheidungserheblich, ob das nicht genehmigte Verlassen des zugewiesenen Aufenthaltsbereichs am 04. August, 19. September, 07. Oktober und 10. November 2000 wegen eines schon zuvor erfolgten gleichgelagerten Verstoßes jeweils eine wiederholte Zuwiderhandlung nach § 85 Nr. 2 AsylVfG darstellte.
In Rechtsprechung und Literatur zu § 85 AsylVfG ist die Frage, unter welchen Umständen ein vorausgegangener Verstoß gegen eine Aufenthaltsbeschränkung die im Tatbestandsmerkmal des Wiederholungsverstoßes mitnormierten Voraussetzungen an einen Erstverstoß ausreichend erfüllt, (bislang) nur teilweise geklärt. So dürfte zwar die Annahme eines wiederholten Verstoßes nicht zwingend voraussetzen, dass der Betroffene zuvor wegen eines gleichgelagerten Fehlverhaltens rechtskräftig mit einem Bußgeld belegt worden ist (anders etwa Amtsgericht Bad Homburg, StV 1984, 381); nach der überwiegenden Meinung ist eine Ahndung der ersten Tat durch Bußgeldbescheid, Urteil oder Beschluß (§ 72 OWiG) keine Voraussetzung für die Strafbarkeit der Wiederholungstaten (vgl. OLG Celle, NStZ 1984, 324; OLG Karlsruhe, NStZ 1988, 560; OLG Stuttgart, NStZ- RR 1996, 173; Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 2001, § 85 AsylVfG Rdnr. 8; aus BVerfGE 96, 10 dürfte Gegenteiliges nicht herzuleiten sein). Noch nicht eindeutig beantwortet erscheint indes, ob auf den vorangegangenen Verstoß -- wozu der Senat neigt -- wenigstens andere polizeiliche oder sonst behördliche Maßnahmen gefolgt sein mussten, die geeignet waren, dem Täter sein Fehlverhalten vor Augen zu führen und eine besondere Warnfunktion zu entfalten (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.; Marx, AsylVfG, 3. Aufl., § 85 Rdnr. 21; offen bei OLG Celle a.a.O.; unklar Göbel- Zimmermann, Asyl- und Flüchtlingsrecht, Rdnr. 456) oder ob die bloße Feststellung früherer Zuwiderhandlung genügt (so wohl Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 85 AsylVfG Rdnr. 11).
3. Wegen der bisherigen Beschränkung der Verteidigung möchte der Senat zu dieser Rechtsfrage noch nicht abschließend Stellung nehmen. Er weist aber darauf hin, dass die Feststellungen des Amtsgerichts, der Angeklagte sei "Kontrollen" unterzogen worden, nach der erstgenannten Auffassung (schon) den Straftatbestand nicht auszufüllen vermögen, weil sich ihnen nicht entnehmen lässt, inwieweit der Angeklagte nach den Umständen dieser Kontrollen gewarnt sein musste, sich durch weitere Verstöße den Vorwurf beharrlichen Fehlverhaltens zuzuziehen. Im Übrigen sind solche Feststellungen, auch wenn man sie nicht für tatbestandsrelevant hält, jedenfalls für die Strafzumessung von Bedeutung.