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BGH Beschluss vom 16.02.2016 - VI ZR 428/15 - Anforderungen an den Darlegungsumfang bei Tinnitus
BGH v. 16.02.2016: Anforderungen an den Darlegungsumfang bei Tinnitus und Verletzung des rechtlichen Gehörs
Der BGH (Beschluss vom 16.02.2016 - VI ZR 428/15) hat entschieden:
Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten.
Siehe auch Tinnitus als Unfallfolge und Stichwörter zum Thema Personenschaden
Gründe:
I.
Der Kläger nimmt die Beklagte nach einem Verkehrsunfall am 15. September 2010, für den die Beklagte als Haftpflichtversicherer des Fahrzeughalters einzustehen hat, auf weiteres Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 25.000 €, Schadensersatz und Feststellung in Anspruch.
Am Tag des Unfalls begab sich der Kläger in ärztliche Behandlung. Er hat unter Vorlage verschiedener ärztlicher Bescheinigungen sowie unter Bezugnahme auf das sachverständige Zeugnis seines Hausarztes, des behandelnden Facharztes und Sachverständigengutachten behauptet, er habe durch den Unfall einen traumatischen Hörschaden am linken Ohr mit einer Hochtonsenke und einem erheblichen Ohrgeräusch (Tinnitus) erlitten. Die unfallbedingten Beeinträchtigungen seien durch das von der Beklagten gezahlte Schmerzensgeld nicht ausreichend kompensiert. Es sei von einer geminderten Erwerbsfähigkeit in Höhe von 20 % auszugehen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
1. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe das Andauern von unfallbedingten Beschwerden nach dem 15. Oktober 2010 nicht ausreichend dargelegt, verletzt den Kläger in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, den entscheidungserheblichen Sachvortrag der Partei in der nach Art. 103 GG gebotenen Weise zur Kenntnis zu nehmen und die angebotenen Beweise zu erheben (BGH, Urteil vom 29. Februar 2012 - VIII ZR 155/11, NJW 2012, 1647 Rn. 14 mwN).
Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (BVerfG, WM 2012, 492 Rn. 16; BGH, Beschluss vom 21. Mai 2007 - II ZR 266/04, WM 2007, 1569 Rn. 8; BGH, Urteil vom 29. Februar 2012 - VIII ZR 155/11, NJW 2012, 1647 Rn. 16; jeweils mwN).
b) Wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Recht beanstandet, hat das Berufungsgericht hiergegen verstoßen, indem es sich über den Vortrag des Klägers mit der Bewertung hinweggesetzt hat, der Kläger habe das Andauern von unfallbedingten Beschwerden nach dem 15. Oktober 2010 nicht ausreichend dargelegt.
aa) Der Kläger hat in der Klageschrift und in der Berufungsbegründung unter Beweisantritt vorgetragen, die Hörminderung und der Tinnitus links hielten unverändert an. Nachdem das Berufungsgericht ihn darauf hingewiesen hatte, dass er fortbestehende gesundheitliche Beschwerden nach dem 15. Oktober 2010 nicht ausreichend dargelegt habe, hat er mit Schriftsatz vom 9. Juni 2015 zudem unter Vorlage eines für die Beklagte unter Angabe ihrer Schadensnummer zum streitgegenständlichen Unfall angefertigten Berichts seines Hausarztes Dr. K. S. vom 26. April 2011, den die Beklagte - anders als die Berichte von Dr. P. vom 13. April 2011 und Dr. B. vom 16. Mai 2011 - mit der Klageerwiderung nicht vorgelegt hatte, geltend gemacht, auch dieser belege, dass die unfallbedingten Beeinträchtigungen über den 15. Oktober 2010 hinaus fortbestanden hätten. Der Bericht hat folgenden Wortlaut:
"Es wurde eine Hörminderung links festgestellt. Der Patient klagte über erhebliches Ohrgeräusch. (...) Behandlungstermine laufend seit Unfalltag. (...) Die Behandlung ist noch nicht beendet. (...) Der Patient ist noch nicht wiederhergestellt. (...) Der Heilverlauf ist verzögert, da der Patient durch die Affektion des Gehöres noch erhebliche Probleme hat. (...) Ja, es ist möglich, dass ein dauerhaftes Ohrgeräusch (Tinnitus) zurückbleibt mit entsprechenden Konzentrationsstörungen und Schlafstörungen (...)."
Ferner hat der Kläger sich auf weitere Bescheinigungen des behandelnden Facharztes Dr. P. vom 29. Mai 2015 sowie des Hausarztes Dr. K. S. vom 8. Juni 2015 bezogen. Die Bescheinigung vom 29. Mai 2015 hat folgenden Wortlaut:
"Bei Herrn B. (Kläger) persistiert nach einem Verkehrsunfall vom 15.09.2010 mit Contusionstrauma ein hochfrequentes Ohrgeräusch mit Pfeifen und Druckgefühl. Die in den Vorbefunden vom 16.09.2010, 18.01.2011, 28.07.2014 und dem 5.06.2015 ausgeführten Messungen bestätigen einen unveränderten Befund. Der Tinnitus konnte zuletzt am 5.06.2015 bei 12 KHz und 60 dB eingegrenzt werden. Bei fehlenden kausalen Therapiemöglichkeiten dieser Beschwerden wurde Herr B. (Kläger) dann in die Weiterbehandlung des H-Arztes der Berufsgenossenschaft, Dr. K. S. entlassen. Ich klärte über die Durchführung eines eigenständigen Tinnitus-Retrainings auf. Im weiteren Verlauf stellte sich der Patient intermediär bei zunehmenden Beschwerden vor. Über eine mögliche Erwerbsminderung konnte bisher keine Aussage getroffen werden."
bb) Das Berufungsgericht hat zur Begründung seines Beschlusses ausgeführt, hinreichende Anhaltspunkte für über den 15. Oktober 2010 hinaus andauernde gesundheitliche Beschwerden des Klägers ergäben sich weder aus der ärztlichen Bescheinigung des Dr. P. vom 13. April 2011 noch aus den Bescheinigungen vom 29. Mai 2015 und 8. Juni 2015. Deren Inhalt erschöpfe sich in der Wiedergabe der Schilderung der subjektiven Beschwerden des Klägers. Lediglich die am 5. Juni 2015 durchgeführte Messung könne zu deren Objektivierung geeignet sein, reiche aber angesichts eines Zeitablaufs von fast fünf Jahren seit dem Unfall mangels nachvollziehbaren Vortrags zu zwischenzeitlichen Behandlungen nicht aus, um einen Kausalzusammenhang darzulegen, zumal der Kläger auch keine Angaben dazu mache, dass und ggf. mit welchem Ergebnis ein Tinnitus-Retraining durchgeführt worden sei. Dass der Kläger sich aufgrund des Unfalls in laufender ärztlicher Behandlung befand bzw. befinde, folge aus den Bescheinigungen von Dr. P. und Dr. K. S. nicht. Aus dem Schreiben des Dr. P. ergebe sich eine ca. 3 . Jahre dauernde Behandlungslücke zwischen Januar 2011 und Juli 2014. Von einer Kontrollmessung am 28. Juli 2014 sei darin keine Rede. Im Übrigen sei auch nicht nachvollziehbar, inwiefern in der Bescheinigung vom 29. Mai 2015 das Ergebnis einer erst am 5. Juni 2015 durchgeführten Messung referiert werden könne. Der Allgemeinmediziner Dr. K. S. berichte zwar von regelmäßigen Vorstellungen des Klägers in seiner Praxis, mache aber keine konkreten Angaben zu Zeitpunkten oder Behandlungsanlässen. Seine Einschätzung, dass der Kläger ab 1. Dezember 2010 unfallbedingt zu 20 % dauerhaft erwerbsgemindert sei, sei deshalb nicht geeignet, die abweichenden Bewertungen durch die mit dem Krankheitsbild näher befassten Fachärzte Dr. P. und Dr. B. zu entkräften und reiche nicht aus, das Andauern unfallbedingter Beeinträchtigungen über Mitte Oktober 2015 hinaus darzulegen.
cc) Damit hat das Berufungsgericht unter Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG den Inhalt der von dem Kläger vorgelegten Atteste und Berichte unberücksichtigt gelassen und die Substantiierungsanforderungen in unvertretbarer Weise überspannt. Zu Recht rügt die Nichtzulassungsbeschwerde, dass das Berufungsgericht insbesondere angesichts des unter Beweis gestellten Vortrags des Klägers, der Facharzt Dr. P. habe ihm bereits wenige Wochen nach dem Unfall und dem Fehlschlagen einer intensiven Kortisontherapie mitgeteilt, dass keine weitere ärztliche Therapie gegeben sei, nicht die - zusätzliche - Darlegung hätte verlangen dürfen, dass der Kläger sich seit dem Unfall laufend in ärztlicher Behandlung befunden habe.
Weiter zutreffend macht die Nichtzulassungsbeschwerde geltend, die Erwägungen des Berufungsgerichts zu der Frage, ob die Einschätzung des Dr. K. S. geeignet sei, die abweichenden Bewertungen durch die Fachärzte Dr. P. und Dr. B zu entkräften, beruhten auf einer unzulässigen und gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßenden vorweggenommenen Beweiswürdigung. Soweit die vorgelegten Atteste und Berichte nach Auffassung des Berufungsgerichts Widersprüche und Unklarheiten aufweisen, ist es Aufgabe des Tatrichters, diese im Rahmen der Beweisaufnahme einer Klärung zuzuführen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Juni 2008 - II ZR 121/07, NJW-RR 2008, 1311 Rn. 2).
2. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Das Berufungsgericht hätte nicht aus anderen Gründen von einem Eintritt in die Beweisaufnahme absehen können.