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Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Beschluss vom 27.08.2012 - 7 L 896/12 - Entziehung der Fahrerlaubnis wegen hohen Aggressionspotentials
VG Gelsenkirchen v. 27.08.2012: Entziehung der Fahrerlaubnis wegen hohen Aggressionspotentials und zahlreicher Gewaltdelikte
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (Beschluss vom 27.08.2012 - 7 L 896/12) hat entschieden:
Ein bestehendes hohes Aggressionspotential - belegt durch zahlreiche strafrechtliche Verurteilungen und Anklagen wegen Körperverletzung u.ä. - lässt eine hinreichend angepasste und an bestehende Regeln orientierte Verkehrsteilnahme nicht erwarten, was eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach sich ziehen kann.
Siehe auch Aggressionspotential und Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein
Gründe:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist unbeschadet der wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse des Antragstellers abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung, wie sich aus Nachstehendem ergibt, keine hinreichenden Aussichten auf Erfolg bietet, § 166 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i. V. m. § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Der sinngemäß gestellte Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers 7 K 3475/12 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 2. Juli 2012 wiederherzustellen,
ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig, aber unbegründet. Die im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus, weil die Ordnungsverfügung, mit der ihm die Fahrerlaubnis entzogen worden ist, bei summarischer Prüfung mit großer Wahrscheinlichkeit jedenfalls im Ergebnis rechtmäßig ist.
Die Antragsgegnerin hat den Antragsteller zu Recht als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen angesehen und ihm die Fahrerlaubnis entzogen. Dabei war zunächst die Antragsgegnerin die für die Einleitung des Entziehungsverfahrens Anfang 2012 zuständige Behörde. Dies ist gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) die Behörde des Ortes, in dem der Betroffene seine Wohnung im Sinne des Melderechtsrahmengesetzes oder seinen Aufenthalt hat. Da ausweislich der Meldedaten der Antragsteller damals in E. gemeldet war, war die Antragsgegnerin örtlich zuständig. Dies galt auch noch zum Zeitpunkt des Anhörungsschreibens vom 7. Mai 2012, da der Antragsteller sich erst zum 2. Juni 2012 nach M. und damit in die Zuständigkeit des Kreises D. umgemeldet hat. Gemäß § 3 Abs. 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW) kann aber die bisher zuständige Behörde das Verfahren mit Zustimmung der nunmehr zuständigen Behörde fortsetzen. Dass diese Abstimmung vor Erlass der Entziehungsverfügung erfolgt ist, ergibt sich zwar nicht aus dem Verwaltungsvorgang, ist aber anzunehmen; ggfs. kann eine solche Zustimmung auch noch nachgeholt werden. Im Übrigen wäre ein etwaiger Verstoß gegen die örtliche Zuständigkeit gemäß § 46 VwVfG NRW unbeachtlich.
Schon aus der bisherigen Aktenlage folgt nachvollziehbar, dass vom Antragsteller angesichts seines hohen Aggressionspotenzials eine hinreichend angepasste und an bestehenden Regeln orientierte Verkehrsteilnahme nicht zu erwarten ist. Zunächst ergibt sich dazu aus dem Urteil des Amtsgericht E. vom 25. August 2011 (608 Ds-133 Js 825/11-182/11), dass der am 5. August 1992 geborene Antragsteller seit seinem 15. Lebensjahr mehrfach und fortlaufend nach dem Jugendstrafrecht wegen (gefährlicher) Körperverletzung, Sachbeschädigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung angeklagt und verurteilt worden ist. Anhaltspunkte dafür, dass die Strafverfahren und Jugendstrafen irgendeine Verhaltensänderung bewirkt haben könnten, sind nicht ersichtlich. Vielmehr ist der Antragsteller auch danach in erheblichem Umfang in Straf- und Ermittlungsverfahren wegen solcher Aggressionsdelikte verwickelt gewesen und angeklagt worden. So steht er zur Zeit zusammen mit seinem (älteren) Bruder und anderen Mitgliedern einer E1. neonazistischen Gruppe vor dem E1. Landgericht (31 KLs 12/12) als Angeklagter, weil er ausweislich der beigezogenen Anklageschrift der Staatsanwaltschaft E. 155 Js 669/11 vom 19. Januar 2012 am 26. November 2011 auf dem E1. Weihnachtsmarkt andere Personen körperlich misshandelt, an der Gesundheit geschädigt und beleidigt haben soll. Eine weitere Anklage der Staatsanwaltschaft E. vom 24. Februar 2012 wegen gemeinschaftlicher Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen (Überfall auf die Gaststätte "I. -°" am 12. Dezember 2010 - 155 Js 54/11) ist vom Landgericht E. zugelassen worden (31 KLs 33/12), Verhandlungstermine stehen aber noch nicht fest. Eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft E2. vom 22. Juni 2011 (293 Js 204/11) betrifft eine entsprechende Gewalttat am 19. Dezember 2010 in P. ; dieses Verfahren ist mit dem derzeit verhandelten Verfahren 31 KLs 12/12 verbunden worden.
Alle diese Sachverhalte sind vorliegend von der Kammer in diesem vorläufigen Rechtsschutzverfahren verwertbar, da die zugrunde liegenden Anklageschriften vom Gericht im Rahmen der Amtsermittlung beigezogen worden sind. Dabei ist auch nicht erheblich, dass die letzten Strafverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen und auch von der Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt worden sind. Entscheidend ist vielmehr, dass aus ihnen in Verbindung mit den schon rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren deutlich wird, dass das Aggressions-potenzial des Antragstellers trotz eines - wie er selber vorträgt - erfolgten Antiaggressionstrainings insbesondere mit anderen Mitgliedern seiner Gruppierung zusammen und häufig auch unter erheblichem Alkoholeinfluss weiterhin ungehemmt wirkt und von einer Besserung oder gar Aufarbeitung nicht die Rede sein kann. Deshalb ist, obwohl der Antragsteller bisher verkehrsrechtlich nicht aufgefallen ist, auch ohne Abklärung durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten gemäß § 11 Abs. 3 Nr. 6 bzw. 7 FeV von der Nichteignung des Antragstellers auszugehen (§ 11 Abs. 7 FeV). Jedenfalls geht die Interessenabwägung im vorläufigen Rechtsschutz-verfahren im Hinblick auf die Schwere und Häufigkeit der berücksichtigungsfähigen Delikte zu Lasten des Antragstellers aus. Ggfs. wird die Antragsgegnerin im Verlauf des Klageverfahrens den Sachverhalt weiter aufzuklären haben.
Steht die Ungeeignetheit des Antragstellers danach zur Überzeugung der Kammer fest - bei diesem Sachverhalt steht die Entziehung nicht im Ermessen der Behörde -, bestehen auch keine Bedenken an der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehungsverfügung. Etwaige mit der sofortigen Fahrerlaubnisentziehung verbundene - insbesondere wirtschaftliche und berufliche - Schwierigkeiten hat der Antragsteller hinzunehmen, weil gegenüber seinen Interessen das Interesse am Schutz von Leib, Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer eindeutig überwiegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes und entspricht der aktuellen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen bei Streitigkeiten um eine Fahrerlaubnis in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren, Beschluss vom 4. Mai 2009 - 16 E 550/09 -, nrwe.de / juris.