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Landgericht Saarbrücken Urteil vom 07.10.2016 - 13 S 35/16 - Rückwärts fahrender Vorfahrtberechtigter gegen wartepflichtigen Einbieger

LG Saarbrücken v. 07.10.2016: Kollision zwischen rückwärts fahrendem Vorfahrtberechtigten und wartepflichtigem Einbieger


Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 07.10.2016 - 13 S 35/16) hat entschieden:
  1. Fahrzeuge der Müllabfuhr haben nach § 35 Abs. 6 StVO lediglich das Recht, überall zu fahren und zu halten, soweit ihr Einsatz dies erfordert. Die Pflicht zur Einhaltung der übrigen Verkehrsvorschriften bleibt hierdurch unberührt.

  2. Zur Haftungsverteilung bei einem Verkehrsunfall, bei dem ein wartepflichtiger Kraftfahrer beim Einfahren in die Vorfahrtsstraße mit einem dort rückwärtsfahrenden Müllfahrzeug zusammenstößt.

Siehe auch Unfall zwischen rückwärts fahrendem Vorfahrtberechtigten und wartepflichtigem Einbieger und Sonderrechte - Wegerechtsfahrzeuge


Gründe:

I.

Der Kläger begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 30.03.2015 in ... ereignet hat.

Der Kläger wollte mit seinem Pkw von der ... kommend nach rechts in die Straße ... abbiegen. Dabei kam es zur Kollision mit dem Müllfahrzeug der Beklagten, das rückwärts auf der Straße ... in Richtung Einmündung ... fuhr. Die Zweitbeklagte hat den Unfallschaden des Klägers auf der Grundlage einer Mithaftung von 50% reguliert.

Mit seiner Klage hat der Kläger gegenüber der Erst- und Zweitbeklagten seinen restlichen Schaden in Höhe von 1.244,85 € nebst vorgerichtlichen Anwaltskosten geltend gemacht. Zur Begründung hat er vorgetragen, er sei bereits in die Straße ... eingebogen gewesen, als das Müllfahrzeug der Beklagten trotz Hupens rückwärts in sein stehendes Fahrzeug gefahren sei.

Seine Klage gegen den Fahrer des Beklagtenfahrzeugs, den Zeugen ..., hat der Kläger vor Klagezustellung zurückgenommen.

Die Beklagten sind der Klage entgegen getreten und haben behauptet, der Zeuge ... sei mit einer Geschwindigkeit von 18 km/h in der durch parkende Fahrzeuge verengten Straße rückwärts gefahren, als der Kläger ohne Beachtung der Vorfahrt in die … eingefahren sei.

Das Amtsgericht hat Beweis erhoben und danach die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat die Erstrichterin, auf deren tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, ausgeführt, der Kläger hafte mindestens mit einer Quote von 50% für die Folgen des Unfallereignisses, weil er die Vorfahrt verletzt habe.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seinen Anspruch, nunmehr erweitert um Zinsen aus der Hauptsache und den Nebenkosten, weiter. Er rügt u.a. die Haftungsverteilung durch das Erstgericht.


II.

Die zulässige Berufung ist teilweise begründet.

1. Zu Recht ist das Erstgericht allerdings zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Beklagten als auch der Kläger grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des §§ 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies greift die Berufung auch nicht an.

2. Im Rahmen der danach gebotenen Haftungsabwägung gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG hat die Erstrichterin das Verhalten des Zeugen ... als Fahrer des Müllfahrzeugs an § 9 Abs. 5 StVO gemessen. Dies ist zutreffend. Denn der Zeuge ... musste, da er rückwärtsfuhr, unabhängig von einer Vorfahrtsberechtigung die höchstmögliche Sorgfalt nach § 9 Abs. 5 StVO gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern einhalten (vgl. KG, VersR 2005, 135; Kammer, Hinweisbeschluss vom 18.05.2015 - 13 S 77/15, jeweils m.w.N.). Dem steht nicht entgegen, dass sich das Müllfahrzeug im Einsatz befand. Fahrzeuge der Müllabfuhr haben nach § 35 Abs. 6 StVO lediglich das Recht, überall zu fahren und zu halten, soweit ihr Einsatz dies erfordert. Die Pflicht zur Einhaltung der übrigen Verkehrsvorschriften bleibt hierdurch unberührt (vgl. nur OLG Koblenz, VersR 1994, 1320; OLG Thüringen, Zfs 2000, 98; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 35 StVO Rn. 13; Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl., § 14 Rn. 201). Dass die Erstrichterin auf der Grundlage ihrer tatsächlichen Feststellungen auch einen unfallursächlichen Verstoß des Zeugen ... gegen § 9 Abs. 5 StVO bejaht hat, begegnet keinen Bedenken und wird von den Parteien in der Berufung hingenommen.

3. Soweit die Erstrichterin auf Seiten des Klägers eine Vorfahrtsverletzung nach § 8 StVO angenommen hat, hält auch dies berufungsgerichtlicher Überprüfung im Ergebnis stand.

a) Der Kläger hatte an der Einmündung gegenüber dem von rechts kommenden Müllfahrzeug der Beklagten die Vorfahrt zu beachten (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StVO). Dabei spricht ein Anscheinsbeweis gegen den Wartepflichtigen, wenn es im Bereich einer Einmündung zu einem Verkehrsunfall kommt. Das ist für die Fälle, in denen der Vorfahrtsberechtigte vorwärts fährt, anerkannt (BGH, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 15.06.1982 - VI ZR 119/81, VersR 1982, 903; Kammer, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 28.03.2014 - 13 S 196/13, NJW 2015, 177 m.w.N.). Gleiches gilt aber auch, wenn der Vorfahrtsberechtigte - wie hier - rückwärtsfährt.

b) Zwar hat derjenige, der rückwärts auf der Vorfahrtsstraße fährt, die besonderen Sorgfaltspflichten des § 9 Abs. 5 StVO zu beachten. Er büßt aber dadurch nicht seine Vorfahrtsberechtigung ein, sondern kann sich gegenüber dem Wartepflichtigen auf das uneingeschränkte Vorfahrtsrecht nach § 8 StVO stützen (vgl. BGH, Urteil vom 04.02.1958 - VI ZR 55/75, VRS 14, 346; BGHSt 13, 368; OLG Hamm, VRS 52, 299; OLG Düsseldorf, VRS 66, 376; OLG Karlsruhe, VRS 55, 246). Die Vorfahrtsregelung stellt nicht darauf ab, wie die in die Kreuzungen und Einmündungen einfahrenden Verkehrsteilnehmer die Fahrt ausführen. Sie hat vielmehr den Zweck, der gerade an Kreuzungen und Einmündungen von Straßen besonders häufig auftretenden Gefahr eines Zusammenstoßes zu begegnen (BGH, Urteil vom 04.02.1958 - VI ZR 55/75, VRS 14, 346). Hiervon ausgehend liegen die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises nach § 8 StVO auch dann vor, wenn der Wartepflichtige im Einmündungsbereich mit einem Vorfahrtsberechtigten zusammenstößt, der rückwärtsfährt. Denn auch insoweit hat sich die mit dem Befahren von Einmündungen verbundene Gefahr eines Zusammenstoßes in typischer Weise verwirklicht. Dies gilt bei einem nach rechts einbiegenden Wartepflichtigen jedenfalls dann, wenn er - wie hier der Kläger - im Hinblick auf die Straßenbreite und die schwierige Einsicht in die Vorfahrtsstraße nicht darauf vertrauen darf, dass er ohne jegliche Behinderung oder Gefährdung des bevorrechtigten Verkehrs in die übergeordnete Straße einfahren kann (vgl. Kammer, Urteil vom 29.04.2016 - 13 S 3/16, juris).

c) Umstände, die den gegen den Kläger sprechenden Anscheinsbeweis erschüttern oder widerlegen könnten, sind nicht dargetan. Dabei kann zugunsten des Klägers unterstellt werden, dass sein Fahrzeug im Moment des Unfalls stand. Der Stillstand allein ist nicht ausreichend, um den Anscheinsbeweis nach § 8 StVO zu entkräften. Vielmehr bedarf es des Nachweises, dass der Wartepflichtige vor der Kollision bereits längere Zeit im Einmündungsbereich gestanden hat, so dass sich der Vorfahrtsberechtigte hierauf hätte einstellen können (vgl. KG, NZV 2010, 511; KG, SVR 2011, 222; Kammer, Urteil vom 28.01.2011 - 13 S 131/10). Dieser Nachweis kann hier aber nicht erbracht werden, auch nicht durch das vom Kläger angebotene Unfallrekonstruktionsgutachten, da ein Sachverständiger allenfalls angeben könnte, dass das Fahrzeug des Klägers gestanden hat, nicht aber wie lange (vgl. KG, NZV 2010, 511). Dass das Erstgericht von einer Einholung eines entsprechenden Gutachtens abgesehen hat, begegnet daher keinen Bedenken.

4. Die Berufung wendet sich indes mit Erfolg gegen die Haftungsabwägung der Erstrichterin. Die von der Erstrichterin angenommene hälftige Haftungsverteilung wird dem unterschiedlichen Gewicht der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nicht gerecht.

a) Zwar wiegt ein Vorfahrtsverstoß im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG in der Regel schwer. Denn § 8 StVO bestimmt eine Kardinalpflicht im Straßenverkehr (Saarl. OLG, NJW 2013, 3659; Kammer, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 10.06.2011 - 13 S 40/11, NZV 2011, 607; Schauseil, MDR 2008, 360, 363, jeweils m.w.N.). Allerdings ist ebenso anerkannt, dass eine Verletzung der nach § 9 Abs. 5 StVO gebotenen höchstmöglichen Sorgfalt regelmäßig die überwiegende Haftung, bei fehlendem Verschulden auf Seiten des Unfallgegners sogar die Alleinhaftung des Rückwärtsfahrenden begründet (vgl. KG, MDR 2010, 503; OLG Brandenburg, Schaden-​Praxis 2007, 316 f.; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415; OLG Celle, OLGR 2007, 5). Ob daraus geschlossen werden kann, dass einem Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 StVG grundsätzlich ein höheres Gewicht zukommt als einem Verstoß gegen § 8 StVO, bedarf hier indes keiner abschließenden Entscheidung. Denn im Streitfall war die Betriebsgefahr des Beklagten-​Lkw durch besondere Umstände erhöht, die eine überwiegende Haftung der Beklagten rechtfertigen.

b) Dabei fällt zulasten der Beklagten zunächst ins Gewicht, dass die Betriebsgefahr des Müllfahrzeugs bereits aufgrund seiner Größe, seiner Beschaffenheit (z.B. angebaute Standvorrichtung) und der eingeschränkten Beweglichkeit deutlich erhöht war. Diese (gesteigerte) Gefahr hat sich im Streitfall auch unfallursächlich ausgewirkt. Dies zeigt sich bereits daran, dass das Müllfahrzeug wegen der verhältnismäßig geringen Straßenbreite bei seiner Rückwärtsfahrt den Straßenraum so verengte, dass eine Ein- bzw. Vorbeifahrt für den übrigen Verkehr mit einer beträchtlichen Gefährdung verbunden war. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die Geschwindigkeit des Müllfahrzeugs bereits nach der eigenen Darstellung der Beklagten 18 km/h betrug, was angesichts der Gesamtumstände (Größe des Fahrzeugs, Unbeweglichkeit, Enge der Straße, unmittelbar dahinter liegende Einmündung) die Gefahr eines Zusammenstoßes weiter steigerte, auch wenn insoweit ein unfallursächlicher Verstoß gegen § 3 StVO nicht zugrunde gelegt werden kann.

Erschwerend kommt schließlich hinzu, dass der Zeuge ... als Fahrer des Müllfahrzeugs in besonderer Weise gegen die Pflichten aus § 9 Abs. 5 StVO verstoßen hat. Nach § 7 Abs. 1 der Unfallverhütungsvorschrift Müllbeseitigung ist das Rückwärtsfahren von Müllfahrzeugen nur erlaubt, wenn eine geeignete Person den Fahrer einweist. Diese Regelung begründet zwar keine eigene Verhaltenspflicht, konkretisiert aber die nach § 9 Abs. 5 StVO bestehenden Pflichten (vgl. nur BGH, Urteil vom 15.02.2011 - VI ZR 176/10, VersR 2011, 546; BGHZ 203, 224). Obwohl sich der Zeuge ... danach beim Rückwärtsfahren zwingend eines Einweisers hätte bedienen müssen, hat er dies unterlassen. Denn die Müllwerker, die mit ihm im Einsatz waren, liefen nach ihren insoweit übereinstimmenden Aussagen zwar hinter bzw. neben dem Müllfahrzeug her, haben aber beide keinerlei Aufgaben als Einweiser wahrgenommen. Hierzu wäre es erforderlich gewesen, jedenfalls einen der Müllwerker so zu platzieren, dass er Einblick in die untergeordnete Straße gehabt hätte, um möglichst frühzeitig auf von dort herannahende Fahrzeuge aufmerksam zu werden und den Zeugen ..., aber auch den herannahenden Verkehr zu warnen. Dieser Pflichtverstoß wiegt hier schon deshalb besonders schwer, weil die Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem untergeordneten Verkehr angesichts der nahe gelegenen Einmündung offensichtlich war und der Einsatz jedenfalls eines der mitfahrenden Müllwerker als Einweiser problemlos hätte erfolgen können. Eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zulasten der Beklagten erscheint danach insgesamt angemessen.

5. Dem Kläger steht danach ein Anspruch auf 2/3 x 2.489,69 € = 1.659,79 € zu, so dass unter Berücksichtigung des gezahlten Betrages von 1.244,85 € ein noch zu zahlender Betrag von 414,94 € verbleibt.

6. Der Kläger kann daneben nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB Ersatz seiner vorgerichtlichen Anwaltskosten aus dem berechtigten Gesamtanspruch ersetzt verlangen (vgl. BGH, Urteil vom 20.05.2014 - VI ZR 396/13, VersR 2014, 1100). Ihm steht insoweit gemäß §§ 2, 13 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 RVG VV Anspruch auf Ersatz einer 1,3-​Geschäftsgebühr (vgl. hierzu zuletzt BGH, Urteil vom 27.05.2014 - VI ZR 279/13, NZV 2014, 507 m.w.N.) in Höhe von 195,- € + 20,- € (Pauschale) + 40,85 € (MwSt.) = 255,85 € zu. Abzüglich des bereits gezahlten Betrages von 201,71 € verbleibt ein Betrag von 54,14 €.

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286, 288 Abs. 1, 291 BGB.


III.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO.

Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und sie keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen (§ 543 Abs. 2 ZPO).