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Landgericht Aachen Urteil vom 10.05.2016 - 3 S 162/15 - Sturz eines Motorroller-Fahrers infolge befürchteter Vorfahrtverletzung

LG Aachen v. 10.05.2016: Haftung bei Sturz eines Motorroller-Fahrers infolge befürchteter Vorfahrtverletzung


Das Landgericht Aachen (Urteil vom 10.05.2016 - 3 S 162/15) hat entschieden:
Fahrt ein an der Haltlinie stehender Kfz-Führer an und rollt bis zur Sichtlinie vor, obwohl sich auf der Vorfahrtstraße ein Motorroller nähert, der bei seiner Reaktion auf das Anfahren stürzt, ist eine Haftung von 3/4 zu Lasten des Kfz-Führers angemessen.


Siehe auch Sturz eines Zweiradfahrers ohne Kollisionsberührung und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Gründe:

I.

Wegen der tatsächlichen Feststellungen wird zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Amtsgerichts Heinsberg vom 25.11.2015 - Az. 18 C 219/15 - Bezug genommen.

Das Amtsgericht hat eine Vorfahrtsverletzung der Beklagten zu 1) verneint und eine Haftungsquote von 25 % zu Lasten der Beklagten angenommen. Der Kläger verfolgt mit der Berufung seinen erstinstanzlichen Antrag weiter und beantragt,
das Urteil des Amtsgerichts Heinsberg vom 25.11.2015 - Az. 18 C 219/15 - abzuändern und die Beklagten zu verurteilen, an den Kläger weitere 1.286,10 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 06.06.2015 zu zahlen sowie den Kläger von weiteren Rechtsanwaltsvergütungsansprüchen der Rechtsanwälte ... und Kollegen aus ... H. in Höhe von 251,21 € freizustellen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil.


II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft.

Die Berufung ist auch teilweise begründet.

Der Kläger hat gegen die Beklagten Anspruch auf Erstattung von Schadenersatz in Höhe von insgesamt 1.281,11 € aus §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2, 18 Abs. 1 StVG, 115 VVG, 823, 249, 253 Abs. 1 BGB.

Die grundsätzliche Haftung der Beklagten für die eingeklagten materiellen Schäden ergibt sich aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG, § 115 VVG. Die Schäden des Klägers sind beim Betrieb des bei der Beklagten zu 2) versicherten Kraftfahrzeugs durch die Beklagte zu 1) entstanden. Wie das Amtsgericht zutreffend dargelegt hat, haben sich vorliegend die Gefahren des Pkw der Beklagten zu 1) beim Unfall zumindest dergestalt ausgewirkt, dass der Kläger zu einer Ausweichreaktion zurechenbar veranlasst wurde.

Aber auch der Kläger haftet grundsätzlich gemäß § 7 Abs. 1 StVG für die Unfallfolgen. Ein Ausschluss gemäß § 7 Abs. 2 StVO kommt für beide Seiten erkennbar nicht in Betracht. Steht somit die grundsätzliche Haftung beider Seiten fest, so hängt in ihrem Verhältnis zueinander der Umfang des zu leistenden Ersatzes gemäß §§ 17 Abs. 2, 18 Abs. 3 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist.

Vorliegend war nach diesen Grundsätzen von einer Haftungsquote zu Lasten der Beklagten von 75 % und zu Lasten des Klägers von 25 % auszugehen.

Die Beklagte zu 1) hat gegen die Vorschrift des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Danach muss, wer am Verkehr teilnimmt sich so verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Vorliegend hat die Beklagte zu 1) ihre Rücksichtnahmepflicht verletzt, indem sie angefahren ist, obwohl sich der Kläger auf der bevorrechtigten T-​Straße der Kreuzung näherte. Insbesondere ergibt sich aus der informatorischen Anhörung der Beklagten zu 1), dass diese angefahren ist, um in die Kreuzung einzubiegen, da sie ein Blinken des Klägers wahrgenommen habe. Die Beklagte zu 1) erklärte dementsprechend, dass sie ihr Fahrzeug erst in Reaktion auf den Sturz des Klägers angehalten habe. Die Beklagte zu 1) hat gerade nicht zu erkennen gegeben, dass sie warten werde. Es konnte von der Beklagten zu 1) auch nicht übersehen werden, dass der Kläger durch ihr Verhalten weder gefährdet noch behindert werde. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht nicht fest, dass der Kläger rechts geblinkt hat. Daher musste die Beklagte zu 1) damit rechnen, dass der Kläger weiterhin auf der bevorrechtigten T-​Straße fährt und das Anfahren der Beklagten zu 1) mit dem Zweck des Einbiegens in die T-​Straße den Kläger zu einem Ausweichmanöver bringen könnte.

Das Anfahren diente auch nicht der besseren Übersicht der Beklagten zu 1) über die T-​Straße, sondern bereits dem Einbiegen. Wie das Amtsgericht - ebenfalls für die Kammer bindend nach § 529 ZPO, da weder Fehler der Beweisaufnahme noch der Beweiswürdigung vorliegen - festgestellt hat, war die bevorrechtigte T-​Straße für die Beklagte zu 1) von der Position des Stoppschildes aus einsehbar. Von diesem Standort hat die Beklagte zu 1) auch gewartet und mehrere Fahrzeuge passieren lassen. Dann musste, wie das Amtsgericht auch in seinem Urteil zutreffend darlegt, der Kläger bei dem anschließenden Anfahren damit rechnen, dass die Beklagte zu 1) vor dem Auffahren auf die S-​T-Straße nicht nochmals anhalten würde, sondern ihn übersehen hat. Der Umstand, dass die Beklagte zu 1) noch an der Sichtlinie und kurz vor dem Einbiegen zum Stehen gekommen ist, steht vorliegend dem Verstoß gegen die Rücksichtnahmepflicht nicht entgegen, denn durch das Anfahren hat die Beklagte zu 1) bereits unmittelbar Einfluss auf das Verhalten des Klägers genommen, der mit einem weiteren Einfahren der Beklagten zu 1) rechnen musste. Dass die Beklagte zu 1) noch rechtzeitig stoppen werde, war für den Kläger gerade nicht erkennbar.

Dem Kläger kann demgegenüber keine Pflichtverletzung vorgeworfen werden. Insbesondere bestehen beim vorliegenden Sachverhalt auch keine hinreichenden Anzeichen dafür, dass der Kläger unsachgemäß reagiert hat. Da der Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1) jedoch nicht derart schwer wiegt, dass die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs dahinter vollständig zurücktritt, ist diese mit 25 % zu Lasten des Klägers in Ansatz zu bringen.

Der Schaden beziffert sich damit auf 1.708,14 €, berechnet aus dem Wiederbeschaffungsaufwand von 1.200 €, den Gutachterkosten von 483,14 € sowie einer Kostenpauschale von 25 €, statt der beantragten 30 €. Die Erstattung von Ummeldekosten von 50 € hat der Kläger mit seiner Berufung nicht weiter verfolgt. Entsprechend der Haftungsquote von 75 % besteht daher ein Anspruch auf Zahlung von insgesamt 1.281,11 €.

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 280, 286 BGB.

Der Kläger hat auch Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 201,71 €, der sich anhand eines Gegenstandswerts von 1281,11 € entsprechend der berechtigten Schadenersatzforderung berechnet.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Der Streitwert wird für die Berufungsinstanz auf 1.286,10 € festgesetzt.