Das Verkehrslexikon

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BGH Beschluss vom 15.09.2016 - 4 StR 90/16 - Grob verkehrswidriges Überholen über den Bordstein auf den Gehweg

BGH v. 15.09.2016: Grob verkehrswidriges Überholen über den Bordstein auf den Gehweg


Der BGH (Beschluss vom 15.09.2016 - 4 StR 90/16) hat entschieden:
Das Tatbestandsmerkmal des Überholens wird auch durch ein Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen verwirklicht, das unter Benutzung von Flächen erfolgt, die nach den örtlichen Gegebenheiten zusammen mit der Fahrbahn einen einheitlichen Straßenraum bilden.


Siehe auch Straßenverkehrsgefährdung / gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und Stichwörter zum Thema Überholen


Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten B.   B.    wegen versuchten Diebstahls in zwei Fällen und wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von zwei Jahren angeordnet. Gegen den Angeklagten A.   B.    hat es wegen versuchten Diebstahls die Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je vier Euro verhängt. Mit ihren jeweils mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründeten Revisionen wenden sich die Angeklagten gegen ihre Verurteilungen.

Die Rechtsmittel sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, da die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat.

Der Erörterung bedarf nur Folgendes:

Die Verurteilung des Angeklagten B.   B.    wegen tateinheitlich begangener vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB im Fall II.2 der Urteilsgründe wird von den Feststellungen getragen.

1. Nach den Feststellungen überfuhr der Angeklagte, der sich einer polizeilichen Kontrolle entziehen wollte, unter großer Beschleunigung des von ihm gesteuerten Pkws das Rotlicht einer Lichtzeichenanlage und bog nach links in eine Straße ein, auf der in Fahrtrichtung des Angeklagten drei Fahrstreifen vorhanden waren. Nach kurzer Strecke war dem Angeklagten die sofortige Weiterfahrt auf der Fahrbahn versperrt, weil auf der linken und der mittleren Fahrspur Autos vor einer Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage warteten und der rechte Fahrstreifen durch einen an einer Haltestelle stehenden Linienbus blockiert war. Um dennoch vor dem ihm folgenden Polizeifahrzeug an dem Stau vorbei flüchten zu können, lenkte der Angeklagte den Pkw über einen Bordstein schräg auf den rechten Gehweg und fuhr in einem Abstand von weniger als einem Meter an zwei Mädchen auf einem Fahrrad vorbei. Danach setzte er die Fahrt – an den auf der Straße wartenden Fahrzeugen vorbei – deutlich schneller als mit Schrittgeschwindigkeit über den Bürgersteig fort und hielt auf einen Passanten zu, der auf dem Trottoir in Fahrtrichtung des Angeklagten entlanglief. Der vom Angeklagten gesteuerte Pkw berührte den Fußgänger in nicht näher feststellbarer Weise, der dadurch aus dem Tritt geriet, ohne das Gleichgewicht zu verlieren oder auf den Boden zu stürzen, laut aufschrie und schimpfte, dann aber seinen Weg unverletzt fortsetzte. Bei diesem Vorbeifahren bestand die naheliegende Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes mit dem Passanten, so dass es nur vom Zufall abhing, ob er sich bei diesem Fahrmanöver erheblich verletzen würde. Dem Angeklagten war dies klar, er fand sich jedoch damit ab, um seine Flucht fortsetzen zu können.

Nachdem der Angeklagte auf dem Gehweg noch fünf weitere Fußgänger passiert hatte, ohne dass dabei die Gefahr eines Zusammenstoßes bestanden hatte, steuerte der Angeklagte den Pkw nach rechts, streifte versehentlich das an einer Hausfassade befestigte Reklameschild eines Ladengeschäfts und bog in eine Seitenstraße ein, wo er seine Fahrt noch eine kurze Strecke auf dem Gehweg fortsetzte, ehe er anhielt und zu Fuß flüchtete.

2. Nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB wird bestraft, wer im Straßenverkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet.

a) Überholen im Sinne der Straßenverkehrsordnung meint den tatsächlichen Vorgang des Vorbeifahrens von hinten an Fahrzeugen anderer Verkehrsteilnehmer, die sich auf derselben Fahrbahn in dieselbe Richtung bewegen oder verkehrsbedingt halten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. Februar 1975 – 4 StR 508/74, BGHSt 26, 73, 74; vom 28. März 1974 – 4 StR 3/74, BGHSt 25, 293, 296; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 5 StVO Rn. 16 mwN; Heß in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 5 StVO Rn. 2 mwN). Nach Wortlaut und Zweck der Vorschrift des § 315c Abs. 1 StGB, der auf den Schutz des Lebens, der Gesundheit und bedeutender Sachwerte vor im Gesetz näher bezeichneten, besonders gefährlichen Verhaltensweisen im Verkehr abzielt, ist die Reichweite des Tatbestands des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB indes nicht auf Überholvorgänge im Sinne der Straßenverkehrsordnung beschränkt (vgl. BVerfG, NJW 1995, 315, 316; OLG Düsseldorf, VRS 107, 109; OLG Hamm, VRS 32, 449; König in LK-​StGB, 12. Aufl., § 315c Rn. 77 ff.; Ernemann in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 2. Aufl., § 315c Rn. 16; Sternberg-​Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 315c Rn. 18; Renzikowski in Matt/Renzikowski, StGB, § 315c Rn. 8; Fischer, StGB, 63. Aufl., § 315c Rn. 6f, Zieschang in NK-​StGB, 4. Aufl., § 315c Rn. 41; Burmann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 315c StGB Rn. 22; Hagemeier in MüKo-​Straßenverkehrsrecht, § 315c Rn. 50). Ähnlich wie bei dem Verständnis der Vorfahrt in § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB (vgl. zum sog. erweiterten Vorfahrtsbegriff: BGH, Beschluss vom 20. Januar 2009 – 4 StR 396/08, BGHR StGB § 315c Abs. 1 Nr. 2a Vorfahrt 1; Urteil vom 12. November 1969 – 4 StR 430/69, VRS 38, 100, 102; Beschluss vom 5. Februar 1958 – 4 StR 704/57, BGHSt 11, 219) ist der Begriff des Überholens in § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB vielmehr durch Auslegung des Regelungsgehalts der Strafrechtsnorm zu bestimmen.

b) Ausgehend von der Wortbedeutung und unter Berücksichtigung des Umstands, dass das Sichbewegen auf derselben Fahrbahn kein taugliches Kriterium für eine abschließende Erfassung besonders gefährlicher Fälle des Vorbeifahrens liefert, wird das Tatbestandsmerkmal des Überholens auch durch ein Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen verwirklicht, das unter Benutzung von Flächen erfolgt, die nach den örtlichen Gegebenheiten zusammen mit der Fahrbahn einen einheitlichen Straßenraum bilden. Danach ist ein Überholen beispielsweise gegeben bei einem Vorbeifahren über Seiten- oder Grünstreifen (vgl. BVerfG aaO), über Ein- oder Ausfädelspuren oder über lediglich durch Bordsteine oder einen befahrbaren Grünstreifen von der Fahrbahn abgesetzte Rad- oder Gehwege (vgl. OLG Hamm aaO). Dagegen fehlt es an einem Überholvorgang etwa bei einem Vorbeifahren unter Benutzung einer von der Fahrbahn baulich getrennten Anliegerstraße oder mittels Durchfahren einer Parkplatz- oder Tank- und Rastanlage auf der Bundesautobahn (vgl. König aaO Rn. 80).

c) Ebenso wenig wie das Überholen nach der Straßenverkehrsordnung einen Spurwechsel nach Abschluss des Überholvorgangs voraussetzt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. März 1974 – 4 StR 3/74 aaO S. 297; vom 3. Mai 1968 – 4 StR 242/67, BGHSt 22, 137, 139), kommt es für den strafrechtlichen Begriff des Überholens nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB darauf an, dass die Fahrt nach dem Vorbeifahren an dem anderen Fahrzeug auf dessen Fahrbahn fortgesetzt wird. Wollte man für das Überholen begrifflich auf eine das Vorbeifahren abschließende Rückkehr auf die Fahrbahn abstellen, bliebe zudem die rechtliche Einordnung des tatsächlichen, eine bestimmte Absicht nicht erfordernden Vorgangs des Vorbeifahrens bis zu dessen Abschluss in der Schwebe. Ob ein Überholen nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB nur vorliegt, wenn das Vorbeifahren auf der von dem anderen Fahrzeug benutzten Fahrbahn seinen Ausgang nimmt (vgl. König aaO Rn. 79 f.), braucht der Senat im vorliegenden Fall angesichts der vom Landgericht getroffenen Feststellungen, wonach der Angeklagte von der Straße auf den Gehweg fuhr, nicht zu entscheiden.

d) Nach dieser Auslegung des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB ist der Schuldspruch wegen tateinheitlich begangener vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs im Fall II.2 der Urteilsgründe nicht zu beanstanden. Indem der Angeklagte den von ihm gesteuerten Pkw über den Bordstein auf den Gehweg lenkte und dort unter Verstoß gegen das Gebot der Fahrbahnbenutzung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO an den auf der linken und der mittleren Fahrspur verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen vorbeifuhr, hat er im Sinne der Strafvorschrift falsch überholt. Auch die weiteren in objektiver und subjektiver Hinsicht für die Strafbarkeit gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB erforderlichen Voraussetzungen sind nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts erfüllt.