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OLG Celle Beschluss vom 29.04.2016 - 1 Ss 20/16 - 1 Ws 167/16 - Ausbleiben des Angeklagten in Berufungsverhandlung aufgrund fehlerhafter Interpretation einer Ladung

OLG Celle v. 29.04.2016: Ausbleiben des Angeklagten in Berufungsverhandlung aufgrund fehlerhafter Interpretation einer Ladung


Das OLG Celle (Beschluss vom 29.04.2016 - 1 Ss 20/16 - 1 Ws 167/16) hat entschieden:
Die fehlerhafte Interpretation einer Ladung zu einem Fortsetzungstermin als Mitteilung einer Verlegung des Beginns einer Berufungshauptverhandlung, die bei sorgfältigem Lesen des weiteren Ladungsschreibens vermeidbar gewesen wäre, vermag ein Ausbleiben bei Beginn der Berufungshauptverhandlung nicht genügend zu entschuldigen.


Siehe auch Säumnis des Betroffenen bzw. Angeschuldigten in der Hauptverhandlung im OWi- oder Strafverfahren und Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen


Gründe:

I.

Die Angeklagte wurde am 27. Juli 2015 vom Amtsgericht Tostedt wegen Untreue in 13 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die hiergegen eingelegte Berufung hat das Landgericht Stade mit Urteil vom 28. Januar 2016 gemäß § 329 Abs. 1 StPO verworfen, weil die Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung zum Hauptverhandlungstermin nicht erschienen war. Das Urteil wurde dem Verteidiger der Angeklagten am 4. Februar 2016 zugestellt.

Die Angeklagte hat mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 11. Februar 2016 einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungshauptverhandlung gestellt und zugleich - für den Fall der Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrags - Revision gegen das Urteil des Landgerichts Stade vom 28. Januar 2015 eingelegt.

Mit Schriftsatz des Verteidigers der Angeklagten vom 11. März 2016, eingegangen bei Gericht am selben Tage, hat die Angeklagte den Revisionsantrag gestellt, das angefochtene Urteil aufzuheben, und die Revision mit der Verfahrensrüge begründet. Die Revisionsbegründung macht geltend, das Landgericht hätte die Berufung nicht gemäß § 329 Abs. 1 StPO verwerfen dürfen, weil das Nichterscheinen der Angeklagten hinreichend entschuldigt gewesen sei. Die Angeklagte macht geltend, sie habe zwar die Ladung zur Berufungshauptverhandlung am 28. Januar 2016 erhalten, allerdings habe sie nachfolgend ein weiteres Ladungsschreiben des Landgerichts vom 14. Januar 2016 erhalten. Dieses Schreiben hat im Kern folgenden Wortlaut: „(…) in der Strafsache gegen Sie wegen Untreue ist Termin zur Fortsetzung der Berufungshauptverhandlung vom 28.01.2016 vor der 12. Kleinen Strafkammer bestimmt auf Montag, 15. Februar 2016 (…). Sie werden hiermit zu dem oben angegebenen Termin geladen.“ Dieses weitere Ladungsschreiben habe sie, so der Vortrag der Angeklagten weiter, dahingehend missverstanden, dass der Termin am 28. Januar 2016 aufgehoben worden sei und die Berufungshauptverhandlung stattdessen am 15. Februar 2016 stattfinden werde. Deshalb sei sie zur Hauptverhandlung am 28. Januar 2016 nicht erschienen.

Diese Begründung für ihr Nichterscheinen hatte der in der Berufungshauptverhandlung anwesende Verteidiger der Angeklagten bereits in der Hauptverhandlung vor Erlass des angefochtenen Verwerfungsurteils - nach telefonischer Rücksprache mit der Angeklagten - vorgebracht.

Auch der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stützt sich zur Begründung im Wesentlichen auf diesen als Entschuldigungsgrund geltend gemachten Sachverhalt. Ergänzend wird mit dem Wiedereinsetzungsantrag geltend gemacht, dass die Angeklagte psychisch durch eine schwere Erkrankung ihrer - erwachsenen - Tochter belastet gewesen sei, was die Fehlinterpretation des weiteren Ladungsschreibens des Landgerichts vom 14. Januar 2016 begünstigt habe.

Das Landgericht Stade hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungshauptverhandlung mit Beschluss vom 18. Februar 2016 als zumindest unbegründet verworfen, weil das Vorbringen nicht geeignet sei, das Ausbleiben im Termin am 28. Januar 2016 genügend zu entschuldigen. In dem Schreiben vom 14. Januar 2016 sei ausdrücklich von einer Ladung zu einem Fortsetzungstermin die Rede gewesen, weshalb auch für einen Laien erkennbar gewesen sei, dass das neuerliche Ladungsschreiben die Fortsetzung der Hauptverhandlung betraf, die am 28. Januar 2016 begonnen werden sollte. Dies sei auch dadurch erkennbar, dass dem Schreiben vom 14. Januar 2016 zu entnehmen sei, dass zu dem Fortsetzungstermin am 15. Februar 2016 nicht die für den 28. Januar 2016 geladenen Zeugen, sondern ein Sachverständiger geladen worden war. Auch unter Berücksichtigung der besonderen psychischen Belastung der Angeklagten durch die Erkrankung ihrer Tochter hätte sie das Schreiben aufmerksam lesen können und müssen.

Gegen den den Wiedereinsetzungsantrag verwerfenden Beschluss vom 18. Februar 2016, der dem Verteidiger der Angeklagten am 24. Februar 2016 zugestellt worden ist, wendet sich die Angeklagte mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 2. März 2016, die am selben Tag beim Landgericht Stade einging.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Stade vom 18. Februar 2016 zu verwerfen und die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stade vom 28. Januar 2016 gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.


II.

Die Rechtsmittel der Angeklagten bleiben beide ohne Erfolg.

1. Die sofortige Beschwerde der Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Stade vom 18. Februar 2016 ist gemäß § 329 Abs. 7 i.V.m. § 46 Abs. 3 StPO statthaft und fristgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt worden, indes unbegründet. Das Landgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungshauptverhandlung zu Recht als zumindest unbegründet verworfen.

Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Ausbleiben im Sinne des § 329 Abs. 1 StPO genügend entschuldigt ist, ist zu Gunsten eines nicht erschienenen Angeklagten ein großzügiger Maßstab anzulegen (BGH, Beschluss vom 1. August 1962 - 4 StR 122/62, BGHSt 17, 391, 397). Entscheidend ist, ob dem Angeklagten nach den Umständen des Falles wegen seines Ausbleibens billigerweise ein Vorwurf zu machen ist (Meyer-​Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 329 Rn. 23 mwN). Hiervon ausgehend war das Ausbleiben der Angeklagten nicht genügend entschuldigt. Denn dem neuerlichen Ladungsschreiben vom 14. Januar 2016 war ohne weiteres zu entnehmen, dass mit diesem eine Ladung zu einem weiteren Hauptverhandlungstermin in der vorliegenden Sache erfolgte. Die Formulierung „ist Termin zur Fortsetzung der Berufungshauptverhandlung vom 28.01.2016 (…) bestimmt auf (…)“ macht zweifelsfrei deutlich, dass der Termin vom 28. Januar 2016 nicht verlegt, sondern zusätzlich ein weiterer Termin bestimmt worden war. Denn Fortsetzen lässt sich nur eine bereits begonnene Hauptverhandlung. Bei dem Begriff „Fortsetzung“ handelt es sich auch nicht um einen juristischen Fachterminus, sondern um ein Wort aus der Alltagssprache (anders für den Begriff „Fortsetzungstermin“ OLG Saarbrücken, Beschluss vom 4. September 2008 - 1 Ws 170/08). Es war der Angeklagten auch unter Berücksichtigung der psychischen Belastung, unter der sie stand, zuzumuten, das zum verständigen Lesen des Schreibens erforderliche geringe Maß an Konzentration aufzubringen.

Vorliegend kommt - wie bereits das Landgericht in seinem Beschluss vom 18. Februar 2016 zutreffend ausgeführt hat - hinzu, dass das Ladungsschreiben vom 14. Januar 2016 den Hinweis enthielt, dass zum Fortsetzungstermin am 15. Februar 2016 ein Sachverständiger geladen wurde. Ein Hinweis auf eine Ladung auch der Zeugen, die zu dem Termin vom 28. Januar 2016 geladen worden waren, enthält das Schreiben vom 14. Januar 2016 dagegen nicht. Auch hieraus hätte die Angeklagte den Schluss ziehen können und müssen, dass der Hauptverhandlungstermin vom 28. Januar 2016 nicht verlegt worden war, sondern ein zusätzlicher Hauptverhandlungstermin bestimmt worden war. Dies unterscheidet die vorliegende Fallkonstellation auch maßgeblich von derjenigen, die der mit der Revision vorgebrachten Entscheidung des Oberlandesgerichts Saarbrücken (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 4. September 2008 - 1 Ws 170/08) zu Grunde lag. Zwar hat das Saarländische Oberlandesgericht in der angeführten Entscheidung ein Ausbleiben des dortigen Angeklagten aufgrund fehlerhafter Interpretation einer Ladung zu einem „Fortsetzungstermin“ als Mitteilung einer Terminsverlegung als genügende Entschuldigung des Ausbleibens akzeptiert, jedoch maßgeblich auch darauf abgehoben, dass es dort in der Ladung zum Fortsetzungstermin ausdrücklich hieß, dass der Fortsetzungstermin wegen Verhinderung eines Zeugen am zuvor mitgeteilten Terminstag anberaumt worden sei.

Ferner steht der Annahme genügender Entschuldigung vorliegend entgegen, dass die Angeklagte einen Verteidiger hatte, bei dem sie ohne weiteres hätte Rücksprache nehmen können. Auch dies unterscheidet die vorliegende Fallkonstellation von der, die der vorgenannten Entscheidung des Saarländischen Oberlandesgerichts zu Grunde lag. Denn dort hatte sich der - zudem nach Jugendrecht verurteilte - Angeklagte selbst verteidigt.

2. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stade vom 28. Januar 2016 ist zulässig. Sie ist nicht nur fristgerecht eingelegt und begründet worden, sondern genügt auch den revisionsrechtlichen Darlegungserfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Zwar ist zur Überprüfung der vom Landgericht in einem Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 StPO vorgenommenen Wertung eine Verfahrensrüge zu erheben (hierzu OLG Nürnberg, Beschluss vom 19. Januar 2009 - 2 St OLG Ss 259/08, NJW 2009, 1761). Indes bedarf es, wenn gerügt wird, das Landgericht habe die bei der Urteilsfällung bekannten Umstände rechtsfehlerhaft nicht als genügende Entschuldigung für das Ausbleiben anerkannt, keiner näheren Vereinzelung des Rügevorbringens und insbesondere keiner Wiedergabe des angefochtenen Urteils in der Revisionsbegründung. Vielmehr hat das Revisionsgericht das angefochtene Urteil und die dort niedergelegten Gründe für die Berufungsverwerfung bereits auf eine hier ausnahmsweise zulässige sogenannte „allgemeine Verfahrensrüge“ hin zur Kenntnis zu nehmen und rechtlich zu überprüfen (OLG Karlsruhe, Urteil vom 28. Oktober 2009 - 1 Ss 126/08, NStZ-​RR 2010, 287; OLG München, Beschluss vom 8. September 2005 - 5 St RR 66/05, NStZ-​RR 2006, 20; Brandenburg. OLG, Beschluss vom 10. Januar 1996 - 2 Ss 4/96, NStZ 1996, 249; Meyer-​Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 329 Rn. 48 mwN; MüKo-​StPO/Quentin, Bd. 2, 2016, § 329 Rn. 101 ff. mwN). Dies gilt auch dann, wenn keine parallele Sachrüge erhoben oder die Verfahrensrüge nicht ausdrücklich als solche bezeichnet worden ist.

Die Überprüfung des Urteils auf die „allgemeine Verfahrensrüge“ hin ergibt, dass das Landgericht frei von Rechtsfehlern die „Fehlinterpretation“ des weiteren Ladungsschreibens vom 14. Januar 2016 dahingehend, dass der Termin vom 28. Januar 2016 auf den 15. Februar 2016 verlegt worden sei, nicht als genügende Entschuldigung im Sinne des § 329 Abs. 1 StPO erachtet hat. Insofern wird auf die vorstehenden Darlegungen zur sofortigen Beschwerde gegen die Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrages Bezug genommen.