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BGH Beschluss vom 03.05.1968 - 4 StR 242/67 - Zu Ausnahmen vom Verbot des Rechtsüberholen auf Autobahnen
BGH v. 03.05.1968: Zu Ausnahmen vom Verbot des Rechtsüberholen auf Autobahnen
Der BGH (Beschluss vom 03.05.1968 - 4 StR 242/67) hat entschieden:
- Es wird daran festgehalten, dass auf Autobahnen grundsätzlich nicht rechts überholt werden darf. Das gilt auch für den Fall, dass auf der Überholspur eine Kolonne und rechts nur einzelne Fahrzeuge fahren.
- Ausnahmen können nur zugelassen werden,
- wenn auf beiden Fahrspuren Kolonnenverkehr herrscht;
- wenn die auf der Überholspur fahrende Kolonne zum Stehen gekommen ist. Dann dürfen die auf der Normalspur fahrenden Fahrzeuge mit äußerster Vorsicht und mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als 20 km/st vorfahren;
- wenn die linke Kolonne nur mit einer Geschwindigkeit von höchstens 60 km/st fährt. Aber auch dann darf auf der Normalspur nur mit äußerster Vorsicht und mit einer Mehrgeschwindigkeit von höchstens 20 km/st vorgefahren werden.
Siehe auch Rechtsüberholen und Stichwörter zum Thema Überholen
Gründe:
I.
Der Angeklagte befuhr am 16. September 1966 gegen 17.35 Uhr mit einem Lastkraftwagen die Bundesautobahn im Bereich Recklinghausen in Richtung Hannover. Auf der von ihm benutzten rechten Fahrspur, der Normalspur, fuhren Lastwagen in Abständen von 100 bis 500 m. Dagegen war die linke Fahrspur, die Überholspur, mit schneller fahrenden Personenkraftwagen voll besetzt. Darum kam es hier gelegentlich zu Stauungen und zu Geschwindigkeitsverminderungen, zumal niemand bereit war, auf die Normalspur zurückzukehren. Als die Fahrzeuge auf der Überholspur für eine Strecke von mehr als einem Kilometer die Geschwindigkeit auf 60 - 70 km/h herabsetzen mussten, blieb der rechts fahrende Angeklagte bei seiner Geschwindigkeit von 80 km/h und fuhr so an den Fahrzeugen auf der Überholspur vorbei, bis er seinen Vordermann eingeholt hatte. Da sich hier in der links fahrenden Kolonne eine kleine Lücke gebildet hatte, scherte er in diese aus, überholte das rechts fahrende Fahrzeug und wechselte anschließend wieder auf die Normalspur hinüber.
Auf Grund dieses Sachverhalts hat das Amtsgericht Recklinghausen den Angeklagten wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen § 10 StVO in Verbindung mit § 21 StVG zu 70,– DM Geldstrafe, ersatzweise zu sieben Tagen Haft, verurteilt.
Das zur Entscheidung über die Revision des Angeklagten berufene Oberlandesgericht Hamm möchte den Angeklagten freisprechen. Es sieht sich daran durch den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7. Januar 1957 – 4 StR 473/58 (BGHSt 12, 258) gehindert, in dem der Senat entschieden hat, dass auf Autobahnen das Rechtsüberholen grundsätzlich verboten ist. Das Oberlandesgericht möchte im Gegensatz zu diesem Beschluss von folgender Rechtsansicht ausgehen:
Kommt es auf der mit Personenkraftwagen voll besetzten Überholspur der Autobahn zu vorübergehenden Geschwindigkeitsverminderungen infolge Stockungen, so stellt es kein unzulässiges Rechtsüberholen dar, wenn ein LKW-Fahrer auf der Normalspur, auf welcher Lastkraftwagen in Abständen zwischen 100 - 500 m fahren, unter Beibehaltung seiner bisherigen Geschwindigkeit an der auf der Überholspur in Stocken geratenen Kolonne vorbeifährt.
Es hat daher die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof vorgelegt.
Die Vorlage ist zulässig. Der Senat kann jedoch der Rechtsansicht des vorlegenden Oberlandesgerichts nur mit erheblichen Einschränkungen folgen.
II.
1. Das Oberlandesgericht geht zutreffend davon aus, dass der Angeklagte im Sinne des § 10 StVO überholt hat. Das Überholen ist ein rein tatsächlicher Vorgang, der vorliegt, wenn ein Verkehrsteilnehmer von hinten an einem anderen vorbeifährt, der sich auf derselben Fahrbahn in derselben Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält (BayObLG Verk.Bl. 1964, 313). Das Überholen erfordert also weder die Erhöhung der bislang von dem Überholenden eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit (BayObLG VRS 26, 387, 388; OLG Celle VerkMitt. 1963, 77) noch einen Wechsel der Fahrspur (BGH VRS 5, 607; OLG Frankfurt VerkMitt. 1962, 13). Es ist also im vorliegenden Fall ohne Bedeutung, ob der Angeklagte bereits vor dem Überholvorgang auf der Normalspur fuhr oder ob er erst zum Zwecke des Überholens nach rechts hinüberwechselte. Das Überholen verlangt ferner weder eine Rückkehr auf die ursprünglich eingehaltene Fahrspur nach Vollendung des Überholvorganges noch schließlich eine besondere Absicht zu überholen (BayObLG VRS 26, 387, 388).
2. Es ist auch richtig, dass es jedenfalls außerhalb des Autobahnverkehrs Ausnahmen vom Verbot des Rechtsüberholens gibt. Insbesondere wird es im sogenannten mehrspurigen Verkehr in Großstädten und auf Ausfallstraßen allgemein für zulässig gehalten, rechts zu überholen, und das nicht nur im Falle des Nebeneinanderfahrens mehrerer dicht aufgeschlossener Fahrzeugreihen (BGH VRS 4, 242, 243; 6, 155, 156; 11, 171, 172), sondern auch dann, wenn sich allein auf dem linken Fahrbahnstreifen eine dichte Kolonne gebildet hat, während sich auf der rechten Fahrspur nur einzelne Fahrzeuge befinden (BayObLG VRS 27, 223 und 227; KG VRS 29, 44).
III.
Diese Grundsätze lassen sich aber auf den Verkehr auf Autobahnen jedenfalls dann nicht uneingeschränkt übertragen, wenn nicht auf beiden Fahrspuren in Kolonnen gefahren wird.
1. Ausnahmen vom Verbot des Rechtsüberholens auf Autobahnen hat der Bundesgerichtshof bislang grundsätzlich nicht zugelassen. Die in BGHSt 12, 358 erwähnte Ausnahme, dass rechts überholen darf, wer sonst auffahren müsste, ist schon unter dem Gesichtspunkt des übergesetzlichen Notstandes gerechtfertigt (Booß, VerkMitt. 1959, 16). Zu der Frage, ob ein Rechtsüberholen auf der Autobahn zulässig (oder schon begrifflich nicht anzunehmen) ist, wenn sich im mehrspurigen Verkehr auf beiden Fahrspuren Kolonnen gebildet haben und die rechte Kolonne einmal schneller fährt als die linke, hat der Bundesgerichtshof noch nicht Stellung genommen. Im Schrifttum und in der Rechtsprechung wird weitgehend die Auffassung vertreten, dass die Grundsätze über das Nebeneinanderfahren in Reihen im Stadtverkehr auch für den Verkehr auf den Autobahnen übernommen werden können (Booß, VerkMitt. 1959, 16; Wimmer, DAR 1959, 2; OLG Frankfurt VerkMitt. 1962, 13). Der Bundesgerichtshof tritt dem bei. In solchen Fällen ist eine Gefährdung des Verkehrs in der Regel deshalb ausgeschlossen, weil ein Hinüberwechseln aus der einen Kolonne in die andere im allgemeinen nicht in Betracht kommt; zudem ist ein Bewältigen des Verkehrs auf den Autobahnen dann, wenn es bei fahrenden Kolonnen zu Stockungen kommt, oft nur dadurch möglich, dass sich dann die beiden Ketten wechselseitig aneinander vorbeischieben. Um ein solches Fahren in zwei Kolonnen handelt es sich hier nicht.
2. Die Gründe, die den Bundesgerichtshof bewogen haben, das Rechtsüberholen auf Autobahnen in der Regel für unzulässig zu erklären, bestehen, abgesehen von dem Fall des Fahrens in zwei Kolonnen, fort. Bei der heutigen Verkehrsdichte, der Art der Motorisierung (der Unterschiede zwischen Motorenstärken und erreichbaren Höchstgeschwindigkeiten), dem Stande der Verkehrsgesetzgebung dem Ausbau der Bundesautobahnen und nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Gefahren ist es im allgemeinen nicht vertretbar, das Überholen einer links fahrenden Kolonne durch einzelne Fahrzeuge auf der Normalspur der Autobahnen zu gestatten. Soweit im Interesse der Flüssigkeit des Verkehrs Ausnahmen hiervon zugelassen werden müssen, darf das nur für ganz bestimmte Fälle geschehen (darüber unter IV). Dass die grundsätzliche Regelung im Einzelfall zu Unbequemlichkeiten für den Kraftfahrer führen kann, muss im Interesse der Verkehrssicherheit in Kauf genommen werden. Auch verlangt gerade der Schnellverkehr auf den Autobahnen einfache, klare und unmissverständliche Verhaltensregeln. Versuche, das Rechtsüberholverbot über die unter IV erörterten Fälle hiervon aufzulockern, würden eine einfache, klare und allgemein bekannte Verhaltensregel aufweichen und ihre Anwendbarkeit dem unsicheren Ermessen des einzelnen Kraftfahrers überlassen. Es wird immer noch in bedenklichem Umfang unvorsichtig und häufig auch unnütz überholt. Unfälle beim Überholen bilden einen nicht unbeträchtlichen Teil der Verkehrsunfälle. Es müsste zu einer zusätzlichen Gefährdung der Kraftfahrer und zu einer nicht vertretbaren erheblichen Abnahme der Verkehrssicherheit führen, wenn es in Zukunft allgemein nicht mehr von einer unmissverständlichen Vorschrift, sondern von der persönlichen Einstellung des einzelnen Kraftfahrers abhängen sollte, ob und wann rechts überholt werden darf.
a) Ein Abgehen von dem sich aus § 10 Abs. 1 Satz 1 StVO ergebenden Verbot des Rechtsüberholens ist insbesondere nicht schon deshalb zulässig, weil die Fahrer der in der Kolonne auf der Überholspur befindlichen Fahrzeuge ihrer Pflicht zum Einhalten der rechten Fahrbahnseite (§ 8 Abs. 2 Satz 1 StVO) nicht nachkommen.
Gegen die grundsätzliche Zulassung eines solchen Rechtsüberholens sprechen vor allem die Gefahren, die sich daraus ergeben.
Der Überholende kann nicht sicher sein, dass nicht Fahrzeuge während des Überholvorganges wieder nach rechts ausscheren, wodurch es – gerade wegen der auf Autobahnen zugelassenen hohen Geschwindigkeiten – zu schwersten Unfällen kommen kann. Da das deutsche Straßenverkehrsrecht im Gegensatz etwa zu dem Recht der USA (dazu Wimmer, DAR 1959, 2) den Grundsatz des Spurhaltens nicht kennt, vielmehr grundsätzlich auch auf der Autobahn die rechte Fahrspur benutzt werden muss, darf sich der rechts Überholende nicht darauf verlassen, der auf der linken Fahrspur Fahrende werde nicht plötzlich vor ihm wieder auf die rechte Fahrspur zurückkehren.
Zwar muss auch der Fahrer, der aus der auf der Überholspur fahrenden Kolonne heraus auf die Normalspur zurückkehren will, bei diesem Spurwechsel die gebotene Vorsicht walten lassen (§ 1 StVO). Das ist ihm aber erschwert. Der auf der Überholspur fahrende Fahrer, der auf die rechte Fahrspur zurückkehren möchte, hat keine ausreichende technische Möglichkeit, die auf der Normalspur sich bewegenden Fahrzeuge im Auge zu behalten oder gar auf etwaige Anzeichen für ein beabsichtigtes Rechtsüberholen zu beobachten. Die Kraftfahrzeuge sind in der Bundesrepublik üblicherweise nur mit einem Innenspiegel und mit einem Außenspiegel auf der linken Seite ausgerüstet. Ein rechter Außenspiegel fehlt den weitaus meisten Fahrzeugen. Deren Führer sind also schon rein optisch nicht in der Lage, den sich rechts rückwärts bewegenden Verkehr genau zu beobachten, wenn sie sich nicht umdrehen; das aber ist beim Fahren in einer Kolonne und wegen der hohen auf den Autobahnen gefahrenen Geschwindigkeiten besonders gefährlich.
b) Der Senat kann auch nicht an den Gefahren für die Verkehrssicherheit vorbeigehen, die darin liegen, dass die Zulassung des Rechtsüberholens von rücksichtslosen Fahrern missbraucht und zu einem unbekümmerten, gefährlichen Vorwärtsdrängen ausgenutzt werden könnte. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass schnellere Fahrer gerade zu dem Zweck, die links fahrende Kolonne rechts zu überholen, auf die Normalspur wechseln, Ob, wo und zu welchem Zweck der Spurwechsel stattgefunden hat, ist in der Regel nicht nachprüfbar. Eine etwaige Bindung der Zulässigkeit des Rechtsüberholens an die Tatsache, dass die Spur nicht oder nicht zum Zweck des Überholens gewechselt wurde, wäre also praktisch ohne jede einschränkende Wirkung.
IV. Allerdings bedürfen die unter III dargelegten Grundsätze einer gewissen Einschränkung, die sich aus dem Charakter der Autobahnen als Massenverkehrsstraßen ergeben. Dieser Charakter der Autobahnen verlangt, an diesen Grundsätzen nicht unter allen Umständen starr festzuhalten.
Die Straßenverkehrsordnung geht als selbstverständlich davon aus, dass auch im Verkehr auf den Autobahnen die Vorschriften der §§ 8 und 10 StVO beachtet und eingehalten werden, dass also insbesondere auf der Überholspur nicht langsam gefahren wird.
Die Straßenverkehrsordnung sieht aber den Fall nicht vor, dass auf der Überholspur eine Kolonne nur langsam fährt oder gar anhält, obwohl auf der Normalspur ein zügiges Vorwärtskommen möglich ist. Diesen Fall hat die Straßenverkehrsordnung ersichtlich nicht vorausgesehen und daher nicht bedacht und geregelt. Der Charakter der Autobahnen als Straßen mit einem besonders umfangreichen Verkehr verlangt aber eine Regelung der Art, dass der fließende Verkehr nicht ganz zum Erliegen kommt, wenn und solange er gefahrlos durchgeführt werden kann, und dass unter dieser Voraussetzung der zur Verfügung stehende Strassenraum ausgenutzt wird. In diesem Sinn müssen die Einzelvorschriften der Strassenverkehrsordnung, insbesondere also auch das Verbot des Rechtsüberholens ausgelegt werden. Das führt – abgesehen von dem oben bereits erörterten Fahren in mehreren Kolonnen – zu einer Einschränkung des Verbots, rechts zu überholen, in folgenden Fällen:
1. Ist aus irgendwelchen Gründen die auf der Überholspur fahrende Kolonne zum Stehen gekommen, so dürfen die Benutzer der Normalspur weiterfahren. Sie müssen sich aber bewusst sein, dass sie verpflichtet sind, den links vor ihnen auf der Überholspur befindlichen Fahrzeugen das Herüberwechseln auf die Normalspur zu ermöglichen. Sie dürfen also, insbesondere auch mit Rücksicht auf die §§ 1 und 9 Abs. 1 Satz 1 StVO, nur mit äußerster Vorsicht rechts vorfahren ("aufschließen"). Diese äußerste Vorsicht verlangt von ihnen eine ständige Reaktions- und Bremsbereitschaft und vor allem eine niedrige Geschwindigkeit, die es ihnen ermöglicht, noch rechtzeitig anzuhalten, wenn ein auf der Überholspur zum Stehen gekommenes Fahrzeug selbst in kurzer Entfernung vor ihnen auf die Normalspur zurückkehren will. Daraus ergibt sich, dass sie höchstens mit einer Geschwindigkeit von 20 km/h an den auf der Überholspur zum Stehen gekommenen Fahrzeugen vorbeifahren dürfen.
2. Der Senat hält das Rechtsvorfahren und Aufschließen weiter auch dann für zulässig, wenn die auf der Überholspur fahrende Kolonne zwar noch nicht zum Stehen gekommen ist, aber nur "dahinschleicht", d.h. nur mit einer Geschwindigkeit fährt, die die auf Autobahnen allgemein (auch auf der Normalspur) üblichen Geschwindigkeiten erkennbar ganz wesentlich unterschreitet. Der Senat nimmt die obere Grenze dieser Geschwindigkeit mit höchstens 60 km/h an. In solchen Fällen darf der Fahrer eines auf der Normalspur fahrenden Fahrzeugs vorfahren, hat aber die unter 1) aufgestellten Grundsätze zu beachten: Er hat also die Pflicht, den links vor ihm auf der Überholspur sich bewegenden Fahrzeugen den Vortritt zum Herüberwechseln auf die Normalspur zu lassen. Er muss mit erhöhter Reaktions-, Brems- und Anhaltebereitschaft fahren. Daraus folgt, dass er eine Geschwindigkeit einhalten muss, die die Geschwindigkeit der auf der Überholspur fahrenden Kolonne nur unerheblich, d.h. keinesfalls um mehr als 20 km/h übersteigt.
Von diesen Ausnahmen abgesehen muss das Verbot, auf den Autobahnen rechts zu überholen, streng beachtet werden. Eine weitere Auflockerung dieses Gebots erscheint dem Senat auch aus Gründen der Flüssigkeit des Verkehrs nicht geboten.
Der Senat kommt daher zu den in der Beschlussformel niedergelegten Ergebnissen.
Mit ihnen ist auch die Vorlegungsfrage beantwortet.
Der Generalbundesanwalt hatte beantragt, die Vorlegungsfrage zu verneinen und daran festgehalten, dass das Rechtsüberholen auf Autobahnen nur in engen, hier nicht gegebenen Ausnahmefällen erlaubt sein soll.