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OLG Stuttgart Beschluss vom 10.01.2017 - 1 Ss 732/16 - Keine Prüfung der Ersatzzustellungsvoraussetzungen bei verjährter Ordnungswidrigkeit

OLG Stuttgart v. 10.01.2017: Keine Prüfung der Ersatzzustellungsvoraussetzungen bei verjährter Ordnungswidrigkeit


Das OLG Stuttgart (Beschluss vom 10.01.2017 - 1 Ss 732/16) hat entschieden:
  1. Die Verjährung einer Ordnungswidrigkeit prüft und berücksichtigt das mit der Sache befasste Gericht von Amts wegen.

  2. Ist eine Ordnungswidrigkeit verjährt, bleibt kein Raum für die Prüfung, ob sich der Betroffene wegen Rechtsmissbrauchs auf die Unwirksamkeit einer Ersatzzustellung des gegen ihn ergangenen Bußgeldbescheides berufen darf, da die Verjährung im Bußgeldverfahren nicht der Dispositionsfreiheit des Betroffenen unterliegt.

Siehe auch Die Ersatzzustellung und Verjährung von Verkehrsordnungswidrigkeiten


Gründe:

I.

Das Amtsgericht Leutkirch hat gegen den Betroffenen im schriftlichen Verfahren nach § 72 OWiG mit Beschluss vom 6. Juni 2016 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße von 240 Euro und ein einmonatiges Fahrverbot mit Schonfrist festgesetzt. Den Feststellungen zufolge hat er mit „seinem“ Pkw mit Schweizer Zulassung am 9. August 2015 um 14:19 Uhr die Bundesautobahn 96 mit 152 km/h befahren, obwohl er hätte erkennen (und sich danach richten) können, dass dort die Geschwindigkeit auf 100 km/h beschränkt war.

Die hiergegen eingelegte Rechtsbeschwerde ist nach § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 OWiG statthaft und zulässig, insbesondere rechtzeitig eingelegt und mit der Sachrüge begründet worden. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen. Der Einzelrichter hat die Sache nach § 80a Abs. 3 S. 1 OWiG dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Die Ordnungswidrigkeit ist verjährt. Dies führt zur Einstellung des Verfahrens wegen des Verfolgungs- und Prozesshindernisses der Verfolgungsverjährung gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 206a Abs. 1 StPO.

1. Auch das Amtsgericht geht davon aus, dass die Ordnungswidrigkeit verjährt ist.

Die (erste) Anhörung des Betroffenen wurde am 16. Oktober 2015 veranlasst, wodurch die Verjährung gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 OWiG erstmals unterbrochen wurde. Am 25. November 2015 wurde der Bußgeldbescheid erlassen; am 28. November 2015 wurde er ausweislich der Zustellungsurkunde in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder eine ähnliche Einrichtung eingeworfen, weil der Empfänger nicht angetroffen worden und daher die Übergabe an ihn, wie auch an eine andere empfangsberechtigte Person, nicht möglich war.

Zu diesem Zeitpunkt wohnte der Betroffene nicht mehr an dieser Adresse, sondern war in die Schweiz verzogen.

Nach § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 OWiG wird die Verjährung unterbrochen durch den Erlass des Bußgeldbescheids, sofern er binnen zwei Wochen zugestellt wird, andernfalls durch die Zustellung.

Zustellungen in Bußgeldsachen erfolgen nach § 51 Abs. 1 OWiG, § 3 Abs. 2 LVwZG, daher gelten für die Ausführung der Zustellung §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend. Die Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten setzt nach §§ 178, 180 ZPO voraus, dass die Person, der dort zugestellt werden soll, dort tatsächlich wohnt. Da dies nicht der Fall war, hatte die Ersatzzustellung infolge Unwirksamkeit keine verjährungsunterbrechende Wirkung und aus demselben Grund wurde die Verjährungsfrist nach §§ 31 OWiG, 26 Abs. 3 StVG auch nicht auf sechs Monate verlängert (vgl. Janker/Hühnermann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht 24. Aufl., § 26 StVG, Rn. 4; OLG Celle, ZfSch 2016, 110 - juris).

Die Verfolgungsverjährung der Ordnungswidrigkeit trat somit drei Monate nach der letzten (wirksamen) verjährungsunterbrechenden Handlung, also mit Ablauf des 15. Januar 2016 ein. Vor diesem Zeitpunkt war weder der Bußgeldbescheid dem Betroffenen tatsächlich zugegangen, weshalb der Zustellungsmangel auch nicht geheilt war, noch waren weitere verjährungsunterbrechende Handlungen erfolgt.

2. Das Amtsgericht vertritt die Ansicht, entgegen der Auffassung des Betroffenen sei Verjährung nicht eingetreten bzw. der Betroffene könne sich hierauf nicht berufen.

Das Amtsgericht schließt sich dabei der Rechtsansicht des OLG Hamm (Beschluss vom 27.01.2015, NStZ 2015, 525) an, wonach ein Betroffener sich wegen Rechtsmissbrauchs nicht auf die Unwirksamkeit einer Ersatzzustellung des gegen ihn ergangenen Bußgeldbescheides soll berufen können, wenn er bei der Verwaltungsbehörde einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt bewusst und zielgerichtet unter Verstoß gegen die Meldegesetze der Länder herbeigeführt habe.

Zur Begründung dieser Auffassung führt das OLG Hamm aus, in der Rechtsprechung sei anerkannt, dass es eine unzulässige Rechtsausübung darstelle, wenn der Zustelladressat eine fehlerhafte Ersatzzustellung geltend mache, obwohl er einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt bewusst und zielgerichtet herbeigeführt habe. Dem Empfänger werde im Lichte des das gesamte Recht beherrschenden Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) unter engen Voraussetzungen versagt, sich auf die Unwirksamkeit einer Zustellung zu berufen (OLG Hamm aaO - juris Rn. 25). Das OLG Hamm schließt sich damit für das Recht der Ordnungswidrigkeiten in einem ersten Schritt einer - auf dem Gebiet des Zivilrechts ergangenen - höchstrichterlichen Rechtsprechung an (BGH, Urteil vom 16.06.2011 - III ZR 342/09 - NJW 2011, 2440, BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15.10.2009, NJW-​RR 2010, 421) und dehnt die genannte Rechtsprechung in einem zweiten Schritt auf die Fälle aus, „in denen ein Betroffener nicht durch Angabe einer falschen Anschrift selbst aktiv geworden ist, sondern im Wesentlichen lediglich die erforderliche Ummeldung unterlassen hat“ (OLG Hamm, aaO - juris, Rn. 27). Es sei „anerkannt, dass selbst im Strafprozess - und deswegen erst Recht im Ordnungswidrigkeitenverfahren - ein allgemeines Missbrauchsverbot gilt (vgl. BGH NStZ 2007, 49 Rn. 3 m.w.N). Nach der Definition des BGH ist ein Missbrauch prozessualer Rechte dann anzunehmen, wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm durch die Strafprozessordnung eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrung seiner verfahrensrechtlichen Belange benutzt, um gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Zwecke zu verfolgen (vgl. BGH, NStZ 2007, 49 Rn. 3 m.w.N.). Diese Definition kann auch auf das Ordnungswidrigkeitenrecht übertragen werden“ (OLG Hamm, aaO - juris Rn. 28).

3. Dieser Rechtsansicht des OLG Hamm kann nicht gefolgt werden.

a) Dem Urteil des 3. Zivilsenats des BGH vom 16.06.2011 liegt ein Rechtsstreit wegen einer Provisionsforderung zugrunde; auch der Kammerbeschluss des BVerfG vom 15.10.2009 erging in einem Rechtsstreit wegen einer Geldforderung (BGH, NJW 2011, 2440, - juris Rn. 1; BVerfG, NJW-​RR 2010, 421, - juris Rn. 4a).

b) Während die Berufung auf die Verjährung im bürgerlichen Recht der Disposition der Parteien unterliegt (§ 214 Abs. 1 BGB), entsteht mit dem Eintritt der Verjährung im Strafprozess wie auch (§ 46 Abs. 1 OWiG) im Bußgeldverfahren ein Verfolgungs- und Prozesshindernis, das von Amts wegen zu prüfen und bei dessen Vorliegen das Verfahren einzustellen ist (vgl. nur Göhler-​Seitz, OWiG, 16. Auflage, Vor § 59 Rn. 37, 47 ff) . Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 31 Abs. 1 OWiG werden durch die Verjährung die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und die Anordnung von Nebenfolgen ausgeschlossen. Sie unterliegt daher nicht der Disposition des Rechtsunterworfenen.

c) Dem kann auch das Urteil des BGH vom 11.08.2006 - 3 StR 284/05, NStZ 2007, 49 nicht entgegengehalten werden. Dort verhält sich der BGH zur Zulässigkeit einer bewusst unwahren Protokollrüge im Revisionsverfahren. Hier, wie auch im Urteil des BGH vom 7.11.1991 - 4 StR 252/91 (BGHSt 38, 111 - juris), in dem der BGH die Anordnung des Tatrichters für zulässig erklärt hat, dass der Angeklagte in Zukunft Beweisanträge nur noch über seinen Verteidiger stellen darf, wenn der Angeklagte zwecks Verhinderung des ordnungsgemäßen Abschlusses der Hauptverhandlung in exzessiver Weise von seinem Recht, Beweisanträge zu stellen, Gebrauch macht, geht es um prozessuale Rechte, die jeweils unzweifelhaft der Disposition des Angeklagten unterliegen.

4. Für eine solche, die Grundzüge des Verfahrensrechts in Zweifel ziehende Gesetzesauslegung besteht entgegen der Ansicht des OLG Hamm auch kein Bedürfnis.

Zwar mag das Abstellen auf den Zeitpunkt der Zustellung in § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich den Zweck verfolgen, die Bußgeldbehörden zu zügiger Erledigung der Zustellungen anzuhalten und nicht dazu dienen, Betroffene, die gegen die landesrechtlichen Meldegesetze verstoßen, gegenüber anderen, die Meldegesetze beachtenden Betroffenen, zu bevorzugen (so OLG Hamm aaO Rn. 30 ff. m.w.N.). Indes steht es dem Gesetzgeber frei, wie er tatsächlich oder vermeintlich zögerlichem Verwaltungshandeln entgegenwirkt; insbesondere hätte - wohl rechtlich unbedenklich - die Möglichkeit bestanden, auf die Rechtzeitigkeit der Anordnung der Zustellung oder der Absendung des Bußgeldbescheids zur Zustellung abzustellen, wie es auch bei der Verjährungsunterbrechung durch die erste Anhörung bzw. deren Anordnung oder Bekanntgabe nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 OWiG allein auf das Handeln der Bußgeldbehörde und nicht darauf ankommt, dass oder wann der Betroffene von dieser Handlung erfährt oder erfahren kann.

III.

Eine Vorlage an den BGH entsprechend § 79 Ab. 3 Satz 1 OWiG, § 121 Abs. 2 GVG ist nicht zulässig. Denn die divergierende Rechtsauffassung vom Beschluss des OLG Hamm vom 27. Januar 2015 ist nicht entscheidungserheblich (vgl. dazu Hannich in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Auflage, § 121 GVG, Rn. 37).

Im Verfahren des OLG Hamm hatte „es die anwaltlich beratene Betroffene ganz offensichtlich in Kenntnis der Rechtsprechung zu § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG im Hinblick auf eine möglicherweise fehlerhafte Ersatzzustellung bewusst unterlassen, ihren tatsächlichen Wohnsitz gegenüber der Bußgeldbehörde zu offenbaren, um auf diese Weise Verfolgungsverjährung eintreten zu lassen. Hierfür [sprach] bereits, dass die Betroffene die Änderung ihrer Anschrift nicht - wie es ansonsten regelmäßig üblich ist - mitgeteilt hat und sie sich durch Fax ihres Verteidigers vom 28. November 2013 - exakt 3 Monate nach der am 28. August 2013 erfolgten schriftlichen Anhörung - erstmals auf den Eintritt der Verfolgungsverjährung berufen hat“ (aaO Rn. 28).

Das Rechtsbeschwerdegericht prüft die Prozessvoraussetzungen von Amts wegen im Freibeweis unter Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen ohne Bindung an die Feststellungen in der angefochtenen Entscheidung (Fischer in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Auflage, Einl. Rn. 415, Rn. 10, Gericke, ebenda § 344, Rn. 22).

In Bezug auf die Verjährungsfrage ist aufgrund des Akteninhalts festzustellen: Nachdem die Mietwagenfirma, auf die der am 9. August 2015 angemessene Pkw zugelassen war, den Betroffenen als Fahrer benannt hatte, wurde dessen (erste) schriftliche Anhörung am 16. Oktober 2015 angeordnet und die Verjährung gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 OWiG erstmals unterbrochen. Am 25. November 2015 wurde der Bußgeldbescheid erlassen; am 28. November 2015 wurde er - ausweislich der Zustellungsurkunde - in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder eine ähnliche Einrichtung eingeworfen, weil der Empfänger nicht angetroffen worden und daher die Übergabe an ihn, wie auch an eine andere empfangsberechtigte Person nicht möglich war. Zu diesem Zeitpunkt wohnte der Betroffene schon nicht mehr an dieser Adresse, sondern war in die Schweiz verzogen. Der Auskunft der Landeshauptstadt … vom 22. Juli 2016 (Bl. 38 d.A.) zufolge erfolgte der Auszug aus der im Rubrum bezeichneten Wohnung (in der der Betroffene jetzt wieder wohnt) bereits am 15. Juli 2015. Die Auskunft der Stadt K./Schweiz vom 16. Juli 2016 (Bl. 40 d.A.) nennt als Zuzugsdatum den 14. Juli 2016. Die Aufenthaltsbewilligung (Bl. 41 d.A.) nennt als Einreisedatum in die Schweiz den 12. Juli 2016. Dem widerspricht nicht die von der Mitwagenfirma am 15. Oktober 2016 der Bußgeldbehörde mitgeteilte Anschrift der im Rubrum bezeichneten Wohnung, da der Betroffene dies nachvollziehbar damit erklärt hat, dass er den Mietwagen mit einer Kreditkarte angemietet hatte und beim Mietwagenunternehmen schon länger als Kunde registriert gewesen sei. Vorliegend war der Betroffene mithin bereits vor der Tat in die Schweiz umgezogen und hatte sich auch den Meldegesetzen entsprechend bereits umgemeldet. Allein seinen Namen auf dem Briefkasten hatte er nicht entfernt. Mithin wäre es dem Betroffenen auch bei Zugrundelegung der Rechtsansicht des OLG Hamm im Beschluss vom 27. Januar 2015 nicht versagt, sich auf die Unwirksamkeit der Zustellung zu berufen. Nur eine noch weiter gehende Ausdehnung der Rechtsansicht des OLG Celle könnte mithin zur Verwerfung der Rechtsbeschwerde führen.