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OLG Brandenburg Urteil vom 07.07.2016 - 12 U 131/15 - Beweislast des Geschädigten hinsichtlich der Primärverletzung
OLG Brandenburg v. 07.07.2016: Beweislast des Geschädigten hinsichtlich der Primärverletzung und Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes bei Hüftgelenksverletzung
Das OLG Brandenburg (Urteil vom 07.07.2016 - 12 U 131/15) hat entschieden:
- Ein Unfallgeschädigter hat den Vollbeweis zu führen, dass er bei dem Unfall eine Primärverletzung - vorliegend eine Hüftgelenksverletzung - erlitten hat.
- Das Gericht ist nicht gehindert, im Rahmen der freien Beweiswürdigung des Verhandlungsergebnisses den Angaben einer Partei - vorliegend hinsichtlich der Sitzposition im Fahrzeug zum Zeitpunkt des Aufpralls - auch dann zu glauben, wenn diese ihre Richtigkeit sonst nicht beweisen kann.
- Musste der Geschädigte über einen Zeitraum von acht Monaten bis zur Durchführung der Hüftgelenksarthroskopie mit andauernden Schmerzen im Hüftgelenk leben und liegt ein erhebliches Verschulden des Beklagten zu 1. vor, rechtfertigt bereits die erlittene Hüftgelenksverletzung das geltend gemachte Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 €.
Siehe auch Kausalzusammenhang und Haftungsrechtlicher Zurechnungszusammenhang
Gründe:
I.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht gemäß §§ 517 ff ZPO eingelegte Berufung der Beklagten ist nicht begründet.
Dem Kläger steht gegen die Beklagten aus §§ 7 Abs. 1, 11 Satz 2, 18 Abs. 1 Satz 1 StVG, §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB jeweils i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG ein Anspruch auf Schmerzensgeld in der vom Landgericht ausgeurteilten Höhe zu.
Die Einstandspflicht der Beklagten dem Grunde nach in vollem Umfang für die vom Kläger infolge des Verkehrsunfalls am 11.10.2011 auf der B97 in G. erlittenen Schäden ist zwischen den Parteien unstreitig. Der Senat ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sowie der ergänzend vor dem Senat vorgenommenen persönlichen Anhörung des Klägers ebenso wie das Landgericht davon überzeugt (§ 286 ZPO), dass die beim Kläger diagnostizierte Hüftgelenksverletzung eine Folge des Verkehrsunfalls vom 11.10.2011 ist und ein Schmerzensgeld in der vom Kläger begehrten Höhe rechtfertigt.
1. Grundsätzlich trägt der Anspruchsteller die Beweislast dafür, dass die geltend gemachten Beschwerden adäquate Folgen des Unfallereignisses sind. Im Streitfall hat daher der Kläger nach den strengen Anforderungen des Vollbeweises gem. § 286 ZPO zur vollen Überzeugung des Gerichts den Nachweis zu führen, dass er bei dem Unfall eine Primärverletzung erlitten hat. Steht eine solche Primärverletzung fest, richtet sich die Frage, ob der Unfall über diese Primärverletzung hinaus auch für weitere Beschwerden des Klägers ursächlich ist, nach dem Beweismaß des § 287 ZPO, wonach je nach Lage des Einzelfalles eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung genügt (vgl. BGH VersR 2003, 474, 476; BGH NJW 2004, 777, 778; Senatsurteil v. 11.11.2010 - 12 U 33/10, Schaden-Praxis 2011, 141 m.w.N.; Saarländisches OLG NZV 2011, 340). Bei den geltend gemachten Schmerzen im rechten Hüftgelenk handelt es sich um eine Primärverletzung, da diese nach dem Vorbringen des Klägers unabhängig von der bei dem Unfall ebenfalls erlittenen HWS-und LWS-Distorsion entstanden sein soll. Den danach zu erbringenden vollen Beweis für die Unfallursächlichkeit der geltend gemachten Hüftgelenksbeschwerden hat der Kläger erbracht.
Der gerichtliche Sachverständige Dr. O. hat eine Unfallbedingtheit der Hüftgelenksverletzung in Form einer Ruptur des Ligamentum capitis femoris aufgrund des Unfallmechanismus, insbesondere unter Berücksichtigung der Positionierung des Fahrers, und des arthroskopischen Befundes bei Vorliegen degenerativer Abnutzungserscheinungen bejaht. Soweit der Sachverständige dieser Beurteilung die vom Kläger geschilderte und von den Beklagten bestrittene Sitzposition zum Zeitpunkt des Aufpralls zugrunde gelegt hat, wonach sich der Kläger in seitlich noch vorn gebeugter gebückter Haltung befunden habe, um bei dem Anhalten zu Boden gefallene Unterlagen aufzuheben, ist der Sachverständige nicht von unzutreffenden Anknüpfungstatsachen ausgegangen. Zwar hätte das Landgericht das Gutachten nicht alleine seiner Überzeugungsbildung zugrunde legen dürfen, da die streitige Frage der Sitzposition des Klägers für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs von Bedeutung war und in erster Instanz ungeklärt geblieben ist. Nach der in erster Instanz unterbliebenen und vom Senat nachgeholten persönlichen Anhörung des Klägers gem. § 141 ZPO ist der Senat jedoch aufgrund der plausiblen und nachvollziehbaren Unfallschilderung des Klägers davon überzeugt, dass seine Angaben betreffend die Sitzposition zum Zeitpunkt des Aufpralls der Wahrheit entsprechen.
Da der Senat seine Überzeugung gem. § 286 ZPO aus dem gesamten Inhalt der Verhandlung und der Beweisaufnahme zu gewinnen hat und zu dem Inhalt der mündlichen Verhandlung auch die Angaben des Klägers im Rahmen der persönlichen Anhörung nach § 141 ZPO gehören, ist der Senat nicht daran gehindert, im Rahmen der freien Würdigung des Verhandlungsergebnisses den Angaben einer Partei auch dann zu glauben, wenn diese ihre Richtigkeit sonst nicht beweisen kann (vgl. BGH NJW-RR 1991, 983; BGH NJW-RR 1992, 920; BGH NJW-RR 2006, 672, 673 Rn. 9). So verhält es sich auch im vorliegenden Fall. Für den Senat bestehen an der Richtigkeit der glaubhaften Unfallschilderung des Klägers und in diesem Zusammenhang an der von ihm zum Zeitpunkt des Aufpralls eingenommenen Sitzposition keine vernünftigen Zweifel. Der Kläger hat anschaulich geschildert, dass er, nachdem er sich durch einen Blick in den Rückspiegel darüber vergewissert hatte, dass das hinter ihm fahrende Fahrzeug noch rechtzeitig zum Stehen gekommen war, sich seitlich nach vorne gebeugt hat, um die auf den Fußboden vor dem Beifahrersitz heruntergefallenen Unterlagen aufzuheben. Dabei habe er den Sicherheitsgurt nicht abgelegt. In dem Moment, als er bereits einige Unterlagen in der Hand gehalten habe, sei er durch den Aufprall, der dadurch entstanden ist, dass durch das Fahrzeug des Beklagten zu 1. das hinter dem Fahrzeug des Klägers stehende Fahrzeug auf dieses aufgeschoben wurde, rückwärts in den Fahrersitz zurückgeschleudert worden. Dies entspricht den Angaben, die der Kläger bereits in der zu den Akten gereichten eidesstattlichen Versicherung vom 27.10.2015 gemacht hat. Dass der Kläger nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte, ob er tatsächlich mit dem Knie gegen das Armaturenbrett gestoßen ist, steht der Glaubhaftigkeit seiner Schilderung nicht entgegen. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass infolge des Zeitablaufs nicht mehr sämtliche Details in Erinnerung geblieben sind. Andererseits hat sich der Kläger im Rahmen seiner Aussage mehrfach darüber empört, dass der Beklagte zu 1. den Unfall unter Alkoholeinfluss verursacht habe, obwohl es aus juristischer Sicht darauf nicht ankommt. Diese Empörung des Klägers war echt und zeugt davon, dass sich der Kläger bei seinen Äußerungen nicht von juristischen Überlegenheiten im Hinblick auf eine Erfolgsaussicht seiner Klage hat leiten lassen, sondern stellt seine Unfallschilderung insgesamt als ungekünstelt, natürlich und deshalb glaubhaft dar. Sie wird ferner dadurch bestätigt, dass in dem Durchgangsarztbericht vom 14.10.2011 ein Hämatom über dem linken Trochanter des Klägers festgestellt worden ist, was sich plausibel durch den infolge des Aufpralls erlittenen Rückstoß des Klägers erklären lässt. Sonstige Anhaltspunkte, die an der Glaubhaftigkeit und Redlichkeit des Klägers Zweifel aufkommen ließen, sind nicht ersichtlich und werden von den Beklagten, die sich lediglich darauf beschränkt haben, die Unfallschilderung des Klägers mit Nichtwissen zu bestreiten, nicht vorgebracht.
Ist nach alledem die vom Kläger behauptete Sitzposition als erwiesen anzusehen, steht somit auch aufgrund der gutachterlichen Feststellungen des Sachverständigen Dr. O. fest, dass die Hüftgelenksverletzung auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Entgegen der Auffassung der Beklagten bedurfte es zu dieser Feststellung nicht der Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens. Denn die Frage, ob die vom Kläger eingenommene Sitzposition geeignet ist, eine derartige Verletzung herbeizuführen, fällt in das Fachgebiet eines medizinischen Sachverständigen. Dass der gerichtliche Sachverständige Dr. O., bei dem es sich um einen Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und Chefarzt einer Klinik für Traumotologie und Orthopädie handelt, nicht über die erforderliche Sachkunde verfügt, die Frage des Ursachenzusammenhangs aus medizinischer Sicht zu beantworten, ist nicht ersichtlich.
Zutreffend ist, dass der Sachverständige auch das Bestehen degenerativer Veränderungen des Hüftgelenks festgestellt hat. Dies schließt jedoch den Ursachenzusammenhang zwischen den Beschwerden des Klägers und dem Verkehrsunfall nicht aus. Nicht erforderlich ist, dass das Unfallereignis die ausschließliche oder alleinige Ursache einer Gesundheitsbeeinträchtigung ist, vielmehr reicht bereits eine bloße Mitverursachung, sei sie auch nur „Auslöser“ neben erheblichen anderen Umständen, aus, um einen Ursachenzusammenhang zu bejahen (vgl. BGH NJW-RR 2005, 897). Hier traf das Unfallereignis einen zwar degenerativ vorgeschädigten, jedoch beschwerdefreien Menschen. Der Kläger hat glaubhaft geschildert, vor dem Unfall keine Beschwerden in der rechten Hüfte gehabt zu haben. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem von den Beklagten vorgelegten Vorerkrankungsregister der Krankenkasse des Klägers. Daraus ergeben sich als Vorerkrankungen eine Spinalstenose, Schlaganfall und Diabetes mellitus, somit Erkrankungen, die nicht mit einer Vorschädigung der rechten Hüfte im Zusammenhang stehen.
Der Annahme des ursächlichen Zusammenhangs steht schließlich auch nicht entgegen, dass in den unfallnahen Arztberichten Beschwerden des Klägers im rechten Hüftgelenk nicht dokumentiert worden sind. Auch insoweit hat der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung glaubhaft angegeben, bereits unmittelbar nach dem Unfallereignis Schmerzen in der rechten Hüfte verspürt und diese auch gegenüber seiner Hausärztin angegeben zu haben. Dies entspricht auch den Angaben des Klägers sowohl in der Anamnese zur Hüftgelenksarthroskopie am 11.06.2012 (Bl. 13 GA) als auch bei der Begutachtung durch den gerichtlichen Sachverständigen. Auch insoweit besteht keine Veranlassung, die Angaben des Klägers in Zweifel zu ziehen.
2. Die Höhe des vom Landgericht ausgeurteilten Schmerzensgeldes ist ebenfalls nicht zu beanstanden.
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist in erster Linie dessen Ausgleichsfunktion zu beachten. Insoweit kommt es auf die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung an. Maßgeblich sind Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychischen Beeinträchtigungen, wobei Leiden und Schmerzen wiederum durch die Art der Primärverletzung, die Zahl und Schwere der Operationen, die Dauer der stationären und der ambulanten Heilbehandlungen, den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit und die Höhe des Dauerschadens bestimmt werden (vgl. BGH VersR 1955, 615; Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 11. Aufl., Rn. 274 ff). Dabei muss die Entschädigung zu Art und Dauer der erlittenen Schäden in eine angemessene Beziehung gesetzt werden (vgl. BGH VersR 1976, 968; OLG Hamm MDR 2003, 1249). Im Rahmen der Genugtuungsfunktion ist insbesondere die Schwere des Verschuldens des Schädigers in Ansatz zu bringen (vgl. BGH NJW 1955, 1675; BGH NJW 1982, 985; BGH VersR 1982, 1410). Im Streitfall rechtfertigt bereits die erlittene Hüftgelenksverletzung des Klägers das geltend gemachte Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 €. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger über einen Zeitraum von acht Monaten bis zur Durchführung der Hüftgelenksarthroskopie mit andauernden Schmerzen im rechten Hüftgelenk leben musste. Dass eine solche Hüftgelenksverletzung Schmerzen und Bewegungseinschränkungen bereitet, ist lebensnah und auch für den Senat ohne weiteres ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen nachvollziehbar. Zudem liegt im Streitfall ein ganz erhebliches Verschulden des Beklagten zu 1. vor, der - wie der Kläger unbestritten vorgetragen hat - ungebremst und unter Alkoholeinfluss auf den hinter dem Fahrzeug des Klägers stehenden Pkw aufgefahren ist. Das Landgericht hat sich bei seiner Schmerzensgeldbemessung auch noch im Rahmen vergleichbarer Entscheidungen gehalten. So ist neben der vom Kläger bereits angeführten Entscheidung des OLG Naumburg vom 27.02.2008 (6 U 71/07, veröffentlich in Juris) auf eine Entscheidung des OLG Oldenburg (VersR 1997, 1535, veröffentlicht bei Hacks/Wellner/Häcker, Schmerzensgeldbeträge, 34. Aufl. unter Nr. 34.1162) zu verweisen, das bereits im Jahre 1996 bei leichten Bewegungseinschränkungen im rechten Hüftgelenk unter Berücksichtigung bestehender Vorschädigungen ein Schmerzensgeld von seinerzeit 15.000,00 DM zuerkannt hat, was unter Berücksichtigung der seitdem erfolgten Preisindexanpassung ebenfalls einem Betrag von knapp 10.000,00 € entspricht.
Aus diesem Grunde kann letztlich offen bleiben, ob der Kläger bei dem Verkehrsunfall darüber hinaus eine Distorsion im Bereich der Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule erlitten hat, die unstreitig komplikationslos ausgeheilt ist und daher im Rahmen der Schmerzensgeldbemessung nicht besonders ins Gewicht fällt. Ebenso wenig bedarf es letztlich weiterer Klärung, inwieweit der Kläger zum heutigen Zeitpunkt noch Bewegungseinschränkungen verspürt und inwieweit diese unfallbedingt sind. Ein Feststellungsantrag betreffend die Ersatzpflicht der Beklagten für künftige Schäden ist nicht geltend gemacht worden.
3. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus den §§ 708 Nr. 10 Satz 2, 713 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Senat entscheidet über den hier vorliegenden Einzelfall und weicht dabei nicht von bestehender höchst- oder obergerichtlicher Rechtsprechung ab, so dass die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
Der Gebührenstreitwert für das Berufungsverfahren wird gem. § 3 ZPO i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG auf 10.000,00 € festgesetzt.