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BGH Urteil vom 25.06.1997 - IV ZR 269/96 - Sachschaden durch Selbsttötungsversuch - Gefahren des täglichen Lebens

BGH v. 25.06.1997: Sachschaden durch Selbsttötungsversuch - Gefahren des täglichen Lebens


Der BGH (Urteil vom 25.06.1997 - IV ZR 269/96) hat entschieden:

   Aus der Formulierung „aus den Gefahren des täglichen Lebens“ in Nr 1 der Besonderen Bedingungen und Risikobeschreibungen für die Privathaftpflichtversicherung ergibt sich keine Beschränkung des Versicherungsschutzes, die über die in dieser Bestimmung genannten Ausnahmen hinausgeht. Ein Selbstmordversuch fällt in den Bereich der „Gefahren des täglichen Lebens“ mit der Folge der Einstandspflicht des Privathaftpflichtversicherers für durch jenen unbeabsichtigt verursachte Schäden.

Siehe auch
Vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls
und
Stichwörter zum Thema Kfz-Versicherung


Tatbestand:


Der Kläger nimmt die Beklagte auf Deckungsschutz aus einer Privathaftpflichtversicherung in Anspruch. Der mitversicherte Sohn des Klägers sprang am 23. Mai 1995 gegen 21.00 Uhr in S. in Selbsttötungsabsicht von der oberen Etage eines Parkhauses. Er überlebte, weil er auf einen vor dem Gebäude geparkten Pkw fiel. Dessen Eigentümer nimmt den Sohn des Klägers auf Ersatz des dadurch entstandenen Schadens in Höhe von 15.000 DM in Anspruch.

Dem Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Haftpflichtversicherung (AHB) und die Besonderen Bedingungen und Risikobeschreibungen für die Privathaftpflichtversicherung (BBR) zugrunde. Nach Nr. 1 BBR ist versichert

   "die gesetzliche Haftpflicht des Versicherungsnehmers als Privatperson aus den Gefahren des täglichen Lebens - mit Ausnahme der Gefahren eines Betriebes, Berufes, Dienstes, Amtes (auch Ehrenamtes), einer verantwortlichen Betätigung in Vereinigungen aller Art oder einer ungewöhnlichen und gefährlichen Beschäftigung -, insbesondere ..."

Die Beklagte hat den Deckungsschutz verweigert, weil sich in dem durch den Selbstmordversuch eingetretenen Schadensereignis keine Gefahr des täglichen Lebens verwirklicht habe und auch der Risikoausschluss der ungewöhnlichen und gefährlichen Beschäftigung eingreife.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht (sein Urteil ist veröffentlicht in VersR 1997, 177) hat ihr stattgegeben. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage.


Entscheidungsgründe:


Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat der Klage auf Gewährung von Deckungsschutz zu Recht stattgegeben.

I. 1. Das Berufungsgericht nimmt an, das durch den Selbsttötungsversuch verursachte Schadensereignis gehöre zu den nach Nr. 1 BBR versicherten Gefahren des täglichen Lebens. Der Begriff "Gefahren des täglichen Lebens" sei weit zu fassen. Er diene in erster Linie der Abgrenzung des Bereichs der privaten Haftpflichtversicherung zu den anderen Haftpflichtversicherungen wie der Betriebshaftpflichtversicherung oder der Berufshaftpflichtversicherung. Vom Versicherungsschutz in der Privathaftpflichtversicherung seien deshalb auch nicht alltägliche, leichtsinnige oder verbotene Tätigkeiten erfasst.




Für die Entscheidung des vorliegenden Falles könne aber auch einer in der Rechtsprechung erwogenen einschränkenden Auslegung gefolgt werden. Danach bestehe Versicherungsschutz nur für solche Schadensfälle, die auf einem Verhalten des Versicherten beruhten, das nicht eine bewusste Verletzung grundlegender Regeln des sozialen Zusammenlebens darstelle. Eine solche Sozialwidrigkeit sei jedoch in der allein auf Selbstschädigung angelegten, aus einer persönlichen Zwangssituation motivierten Selbsttötungshandlung nicht zu sehen. Das Risiko, dass ein Versicherter seinen Lebenswillen so weit verliere, dass er sich zur Selbsttötung entschließe, sei nicht so ungewöhnlich, dass mit ihm im Privatleben eines Versicherten nicht gerechnet werden müsste. Die bloße Selbsttötungshandlung stehe als solche in keinem näheren Zusammenhang mit den durch die Grundregeln des sozialen Zusammenlebens geschützten Belangen Dritter. Nur aus einem derartigen Zusammenhang aber könne sich gemäß dem Zweck der privaten Haftpflichtversicherung eine Einschränkung des versicherten Risikos ergeben, da die Beeinträchtigung eigener Rechtsgüter des Versicherten vom Versicherungsschutz ohnehin nicht umfasst werde.

2. Das ist schon deshalb richtig, weil sich aus der Formulierung "aus den Gefahren des täglichen Lebens" in Nr. 1 BBR keine Beschränkung des Versicherungsschutzes ergibt, die über die in dieser Bestimmung genannten Ausnahmen, insbesondere die Gefahren einer ungewöhnlichen und gefährlichen Beschäftigung, und den Risikoausschluss der vorsätzlichen Herbeiführung des Schadens nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 AHB hinausgeht.

a) Ob Gefahren, die durch ein gänzlich aus dem Rahmen des "Normalbürgers" fallendes Verhalten erwachsen, als nicht mehr zu den Gefahren des täglichen Lebens gehörend vom Versicherungsschutz ausgenommen sind, ist in der Rechtsprechung der Instanzgerichte und der Literatur umstritten (vgl. Voit in Prölss/Martin, VVG 25. Aufl. Privathaftpfl. Anm. 1a S. 1152 und Späte, Haftpflichtversicherung PrivH Rdn. 2, 17, jeweils m.w.N.). Dabei geht es unter anderem um unbeabsichtigt verursachte Schäden an Rechtsgütern Dritter im Zusammenhang mit einem Einbruch (OLG Hamm VersR 1982, 565; OLG Schleswig VersR 1984, 954), einer Selbsttötungshandlung (OLG Hamburg VersR 1995, 1475; OLG Hamm VersR 1985, 463; LG Aachen VersR 1991, 871; LG Köln VersR 1990, 778), leichtsinnigem Umgang mit Schusswaffen (OLG Karlsruhe r+s 1995, 376; OLG Hamm r+s 1992, 47) oder mit Feuer (OLG Düsseldorf r+s 1997, 11), einer Flucht vor einer Blutprobe (OLG Koblenz VersR 1996, 444). Der Bundesgerichtshof hat zu dieser Streitfrage bisher nicht Stellung genommen, sie ist auch im Urteil des Senats vom 17. Januar 1996 - IV ZR 86/95 - VersR 1996, 495 unter II. 1. nicht entschieden worden.


b) Maßgeblich für ihre Beantwortung ist eine Auslegung der Klausel unter Nr. 1 BBR aus der Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers (BGHZ 123, 83, 85).

Mit Nr. 1 BBR wird der Umfang der Versicherung durch die Aufzählung negativer Komponenten des Haftpflichtversicherungsrisikos beschrieben (vgl. Senatsurteil vom 17. Januar 1996 aaO unter II. 2. a). Das dient dem bildhaften Verständnis des Versicherungsumfangs. So wird zum einen der - verbal schwer zu beschreibende - Bereich des Privaten durch die Aufzählung aller derjenigen Bereiche definiert, die nicht als "privat" im Sinne der Bedingungen anzusehen sind (Betrieb, Beruf, Dienst, Amt, verantwortliche Betätigung in Vereinigungen). Zum anderen werden auf die gleiche Weise die Gefahren des "täglichen Lebens" dadurch umschrieben, dass ihnen negativ "ungewöhnliche und gefährliche Beschäftigungen" entgegengesetzt werden, die nicht vom Versicherungsschutz umfasst sein sollen. Schon das legt dem Versicherungsnehmer die Annahme nahe, dass damit jedes Verhalten des Versicherungsnehmers als Privatperson vom Versicherungsschutz umfasst wird, das nicht als ungewöhnliche oder gefährliche Beschäftigung im Sinne der Klausel einzuordnen ist. Zwar ist der Schutzbereich der Versicherung damit erkennbar weit abgesteckt. Er umfasst nach dieser Maßgabe auch nicht alltägliche, leichtsinnige, selbst verbotene Tätigkeiten (Voit in Prölss/Martin, aaO). Eine weitere Eingrenzung erschließt sich dem Versicherungsnehmer aus der Klausel selbst nicht; ihr Wortlaut und erkennbarer Sinn deuten eine solche über die in ihr genannten objektiven Abgrenzungskriterien hinaus nicht einmal an.

In diesem Verständnis der Klausel sieht sich der Versicherungsnehmer bestärkt, wenn er zudem in den Blick nimmt, dass der Versicherer schon außerhalb der Klausel mit § 4 Abs. 2 Nr. 1 AHB eine weitere Einschränkung des Versicherungsschutzes herbeigeführt hat. Denn nach dieser Bestimmung sind Versicherungsansprüche aller Personen von der Versicherung ausgeschlossen, die den Schaden vorsätzlich herbeigeführt haben. Aus dem Zusammenwirken der Regelungen ergibt sich für den Versicherungsnehmer demgemäß, dass der ihm mit Nr. 1 BBR als Privatperson versprochene Versicherungsschutz aus den Gefahren des täglichen Lebens jede Tätigkeit, jedes Verhalten umfasst, soweit es sich dabei nicht um eine ungewöhnliche oder gefährliche Beschäftigung handelt und soweit der Versicherungsnehmer den Schaden nicht vorsätzlich herbeigeführt hat. Für eine weitere Differenzierung fehlt es an einem dem Versicherungsnehmer erkennbaren Anhalt in den Versicherungsbedingungen. Demgemäß gibt es auch in der Regelung des Nr. 1 BBR keinen Raum für eine Abgrenzung des Versicherungsschutzes danach, ob ein Verhalten des Versicherungsnehmers als "sozialwidrig" oder als aus dem Rahmen des "Normalbürgers" fallend einzustufen ist.



II. Das Berufungsgericht hat ferner richtig entschieden, dass die Beklagte den Versicherungsschutz auch nicht deshalb verweigern kann, weil sich in der Schädigung des Fahrzeugeigentümers die Gefahren einer ungewöhnlichen und gefährlichen Beschäftigung im Sinne von Nr. 1 BBR verwirklicht hätten.

Nach dem vom Berufungsgericht zitierten Urteil des Senats vom 17. Januar 1996 (aaO unter II. 2. a)) sind die Voraussetzungen dieser Ausschlussklausel nicht bereits dann erfüllt, wenn sich die die Haftpflicht auslösende Handlung selbst als ungewöhnlich und gefährlich darstellt. Ihre Geltung ist vielmehr auf die seltenen Ausnahmefälle beschränkt, in denen die schadenstiftende Handlung im Rahmen einer allgemeinen Betätigung des Versicherten vorgenommen worden ist, die ihrerseits "ungewöhnlich und gefährlich" ist und deshalb in erhöhtem Maße die Gefahr der Vornahme schadenstiftender Handlungen in sich birgt. Lässt sich die schadenstiftende Handlung nicht in den Kreis einer allgemeinen Betätigung einordnen, greift die Klausel nicht ein.

Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, dass es im vorliegenden Fall an einer von der schadenstiftenden Handlung zu unterscheidenden allgemeinen, als ungewöhnlich und gefährlich einzustufenden Betätigung fehlt. Die schadenstiftende Handlung ist der Sprung von der oberen Etage des Parkhauses, nicht erst - wie die Revision meint - der Aufprall auf das Autodach. Die Selbsttötungsabsicht als solche ist keine Handlung und kann schon deshalb keine allgemeine Betätigung im Sinne einer Rahmenhandlung bilden. Davon abgesehen ist die Selbsttötungsabsicht, wie das Berufungsgericht in anderem Zusammenhang zutreffend dargelegt hat, für das in der Haftpflichtversicherung gedeckte Risiko ohne Relevanz. Deshalb ist es unerheblich, ob die unbeabsichtigte Beschädigung des fremden Autos auf einem in Selbsttötungsabsicht vorgenommenen Sprung oder einem versehentlichen Sturz vom Parkhaus beruht.

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