Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 19.10.2009 - 12 U 227/08 - Vorrang auf durchgehendem Fahrstreifen
KG Berlin v. 19.10.2009: Vorrang auf durchgehendem Fahrstreifen beim Reißverschlussverfahren
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 19.10.2009 - 12 U 227/08) hat entschieden:
- Nach ständiger Rechtsprechung beider Verkehrssenate des Kammergerichts enthält § 7 Abs. 4 StVO eine Vorrangsregelung dahin, dass derjenige, der den durchgehenden Fahrstreifen befährt, Vorrang vor demjenigen hat, der auf seinem Fahrstreifen nicht durchfahren kann.
- Eine Mithaftung des Bevorrechtigten kommt nur dann in Betracht, wenn er die Gefahr einer Kollision auf sich zukommen sehen musste und unfallverhütend reagieren kann; dann kann an eine Mithaftungsquote von ¼ gedacht werden.
Siehe auch Reißverschlussverfahren und Unfalltypen - typische Unfallgestaltungen
Gründe:
I.
Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall am 14. Juni 2007 um 6:15 Uhr auf der Landsberger Allee in Berlin in Anspruch. Die Zeugin B. befuhr mit dem klägerischen Fahrzeug Nissan Micra mit dem amtlichen Kennzeichen B-… die Landsberger Allee in Richtung Rhinstraße auf der rechten von drei Geradeausspuren. Auf dieser Fahrspur befand sich eine Baustelle, so dass sie Zeugin B. auf den mittleren Fahrstreifen wechseln musste. Der Beklagte zu 1) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten LKW mit dem amtlichen Kennzeichen B-… den mittleren Fahrstreifen. Es kam zu einer Kollision der beiden vorgenannten Fahrzeuge, wobei der Hergang im Einzelnen zwischen den Parteien streitig ist.
Das Landgericht Berlin hat die Klage nach Beweisaufnahme (Anhörung des Erstbeklagten sowie Vernehmung der Zeugin B. und des Zeugen R.) abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, gegen die Zeugin B. spreche bereits der Beweis des ersten Anscheins, da sie einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen habe. Der Kläger habe nicht bewiesen, dass die Fahrerin seines Fahrzeugs mit dem Reißverschlussverfahren an der Reihe gewesen sei und den Beklagten zu 1) ein Mitverschulden an dem Unfall treffe.
Mit der Berufung begehrt der Kläger weiterhin den Ersatz des ihm entstandenen Schadens nach einer Quote von 100% und stützt dies im Wesentlichen darauf, das Landgericht habe zu Unrecht einen Anscheinsbeweis gegen die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs angenommen und dabei unberücksichtigt gelassen, dass es sich um einen so genannten Reißverschlussverkehr gehandelt habe mit der Folge, dass den bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer eine erhöhte Sorgfaltspflicht treffe. Die vom Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung überzeuge nicht: der Erstbeklagte habe das Klägerfahrzeug schlichtweg übersehen. Die Aussage des Zeugen R. lasse sich nicht mit den Beschädigungen am klägerischen Fahrzeug in Einklang bringen. Zudem würden weder die Beschädigungen am klägerischen Fahrzeug noch die von der Zeugin B. gefertigten Unfallskizze gegen ihrer Aussage sprechen. Die gefertigte Unfallskizze würde der Endstellung der klägerischen Fahrzeugs zum LKW entsprechen, die durch die Beschädigungen am Nissan – durchgehend vom vorderen linken Radlauf bis zum hinteren linken Radlauf – bestätigt würde.
II.
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung erfolgreich nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO) oder nach § 529 ZPO zu Grunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.
Beides ist hier nicht der Fall.
1. Das Landgericht hat einen Schadensersatzanspruch des Klägers aus §§ 7, 17 StVG, 823 BGB, 3 Nr. 1 PflVG zu Recht verneint. Unstreitig hat die Zeugin B. mit dem klägerischen Fahrzeug wegen eines Hindernisses auf ihrer Fahrspur einen Fahrstreifenwechsel nach links vorgenommen. Damit spricht aber – wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat – der Beweis des ersten Anscheins gegen die Fahrerin des Klägerfahrzeugs.
Soweit der Kläger meint, der Anscheinsbeweis würde im Hinblick auf das “Reißverschluss-verfahren” nicht gelten, verhilft dies der Berufung nicht zum Erfolg. Die Anwendung der Grundsätze des “Reißverschlussverfahrens” (§ 7 Abs. 4 StVO) führt nicht zu einer Haftung der Beklagten. § 7 Abs. 4 StVO bestimmt folgendes:
“Ist auf Straßen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich oder endet ein Fahrstreifen, so ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Übergang auf den benachbarten Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass sich diese Fahrzeuge unmittelbar vor Beginn der Verengung jeweils im Wechsel nach einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug einordnen können (Reißverschlussverfahren)."
Nach ständiger Rechtsprechung beider Verkehrssenate des Kammergerichts enthält § 7 Abs. 4 StVO eine Vorrangsregelung dahin, dass derjenige, der den durchgehenden Fahrstreifen befährt, Vorrang hat vor demjenigen, der auf seinem Fahrstreifen nicht durchfahren kann (vgl. KG, Urteil vom 17. Mai 1979 – 22 U 707/79 – DAR 1980, 186= VM 1980 Nr. 27; Urteil vom 29. September 1983 – 12 U 3547/82 – VM 1984, 23 Nr. 25; Urteil vom 8. Januar 1987 – 12 U 2618/97 – VM 70 Nr. 82; Urteil vom 7. Juni 1990 – 12 U 4191/89 – VM 1990, 91 Nr. 118; Urteil vom 23. Oktober 1995 – 12 U 1861/94 – VM 1996, 21 Nr. 27).
Eine Mithaftung der Beklagten käme nur dann in Betracht, wenn feststünde, dass der Erstbeklagte die Gefahr der Kollision auf sich hätte zukommen sehen müssen, er also hätte erkennen müssen, dass die Zeugin B. ihm – trotz der Baustelle im Bereich ihres Fahrstreifens – den Vortritt nicht gewähren würde. In einem derartigen Fall kann eine Sorgfaltspflichtverletzung des bevorrechtigten Erstbeklagten vorliegen (Verstoß gegen §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 2 StVO) mit der Folge, dass dieser auf seinen Vorrang hätte verzichten müssen. Dann könnte an eine Mithaftungsquote von ¼ gedacht werden (vgl. KG Urteil vom 17. Mai 1979 – 22 U 702/79).
2. Zutreffend hat das Landgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht feststellen können, dass für den Erstbeklagten der Fahrspurwechsel des Klägerfahrzeugs erkennbar war, er mithin damit rechnen musste, dass das Klägerfahrzeug sich im Reißverschlussverfahren in seine Fahrspur einordnen würde: das Landgericht hat auch nicht feststellen können, dass die Klägerin nach dem Reißverschlussverfahren an der Reihe war, nach links zu wechseln. Dies geht zu Lasten des insoweit beweisbelasteten Klägers.
a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen.
Dies ist nicht der Fall, wenn sich das Gericht des ersten Rechtszuges bei der Tatsachenfeststellung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht, vom Ergebnis der Beweiswürdigung abzuweichen (vgl. Senat, Urteil vom 8. Januar 2004 – 12 U 184/02- KGR 2004, 269; vgl. auch KG (22. ZS), KGR 2004, 38= MDR 2004, 533; vgl. auch BGH, Urteil vom 9. März 2005 – VIII ZR 266/03 – NJW 2005, 1583).
§ 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze sowie an Erfahrungssätze und ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf. So darf er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen (vgl. Thomas/ Putzo, ZPO, 30. Aufl. 2009, § 286 Rd 2a) oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung feststellen (Zöller/ Greger, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 286 Rn 13). Die leitenden Gründe und die wesentlichen Gesichtspunkte für seine Überzeugungsbildung hat das Gericht nachvollziehbar im Urteil darzulegen. Dabei ist es nicht erforderlich, auf jedes einzelne Parteivorbringen und Beweismittel ausführlich einzugehen; es genügt, dass nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (Senat, Urteil vom 12. Januar 2004 – 12 U 211/02 – DAR 2004, 223; Thomas/ Putzo, a.a.O., § 286 Rn 3,5).
b) An diese Regeln der freien Beweiswürdigung hat sich das Landgericht im angefochtenen Urteil gehalten; der Senat folgt der Beweiswürdigung auch in der Sache.
aa) So ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sowie dem Akteninhalt nicht die Überzeugung gewonnen hat, dass der Kläger einen Vortritt seines Fahrzeugs im Reißverschlussverfahren bewiesen hat und dass für den Erstbeklagten der Fahrspurwechsel - sei es auch im Reißverschlussverfahren - erkennbar war. Das Landgericht hat auf den Seiten 4 und 5 des angefochtenen Urteils dargelegt, dass und warum es zu dieser Überzeugung gelangt ist. Dies genügt den Anforderungen an eine der Zivilprozessordnung entsprechenden Beweiswürdigung. Der Senat folgt dieser Beurteilung. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Gerichts keine absolute Gewissheit und keinen Ausschluss jeder Möglichkeit des Gegenteils erfordert, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, also einen so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, dass er den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH NJW 2000, 953).
Daraus, dass die Klägerin die Beweiswürdigung des Landgerichts für fehlerhaft hält, folgt kein Rechtsfehler des Landgerichts; ein Verstoß gegen Beweisregeln oder Denk- und Naturgesetze wird in der Berufungsbegründung nicht aufgezeigt.
bb) Da die Zeugin B. aufgrund einer Baustelle ihren Fahrstreifen verlassen musste, hätte sie auf den links neben ihr fahrenden LKW achten und ihm, dessen Verkehrsraum nicht durch eine Baustelle blockiert war, den Vortritt lassen müssen (§ 7 Abs. 4 StVO). Die Zeugin B. hat nämlich – wie das Landgericht zutreffend ausführt - nicht angegeben, dass sie nach dem vor ihr fahrenden, nach links gewechselten Pkw ein anderes, vor dem LKW befindliches Fahrzeug auf dem linken Fahrstreifen hat durchfahren lassen, sie also nach dem Reißverschlussverfahren an der Reihe gewesen wäre. Soweit der Kläger ausführt, die Zeugin B. sei nicht gefragt worden, wie viele Fahrzeuge vor dem LKW gewesen seien, kann er hieraus keine Rechte für sich herleiten. Er trägt selbst nicht vor, wie die Zeugin auf eine entsprechende Frage reagiert hätte.
Selbst wenn der Kläger die Ausführung im Urteil “ es ist daher durchaus möglich und auch wahrscheinlich, dass die Zeugin B. sogleich nach dem vor ihr befindlichen Pkw ebenfalls nach links hinüberlenkte und dass beide PKW …. nach links vor den LKW hinüberwechselten” als bloße Mutmaßung bewertet, verhilft dies der Berufung nicht zum Erfolg. Er legt nicht dar, wie die tatsächlichen Verhältnisse bezüglich des Ablaufs des Reißverschlussverfahrens gewesen sein sollen. Nur durch konkreten Tatsachenvortrag kann er jedoch den gegen die Zeugin B. sprechenden Anscheinsbeweis entkräften.
cc) Soweit der Kläger darauf abstellt, dass der Erstbeklagte die Zeugin B. schlichtweg übersehen habe, verhilft dies der Berufung nicht zum Erfolg. Dass er die Zeugin B. nicht gesehen hat, hat der Erstbeklagte selbst bestätigt und ist damit unstreitig. Ein Über sehen und damit ein Fehlverhalten läge aber nur dann vor, wenn der Erstbeklagte die Zeugin B. tatsächlich hätte sehen können. Dass dies vorliegend der Fall war, trägt der Kläger schon nicht konkret vor. Nach seinem Vorbringen sei die Tatsache, der Beklagte zu 1) habe das Klägerfahrzeug nicht gesehen, kein Nachweis dafür, dass er es bei entsprechender Aufmerksamkeit auch nicht hätte erkennen können. Dies ist jedoch irrelevant, da es die Sache des Klägers ist, ein Fehlverhalten des Beklagten zu 1) nachzuweisen. Hierfür reichen Vermutungen nicht aus.
Ein Fehlverhalten des Erstbeklagten lässt sich auch der Aussage der Zeugin B. nicht entnehmen. Danach befand sich der LKW während der Rotlichtphase neben dem klägerischen Fahrzeug. Dass in dieser Situation für den Beklagten zu 1) als LKW-Fahrer ein Blinken der Zeugin B. sichtbar gewesen sein soll, trägt weder der Kläger konkret vor, noch hat die Zeugin B. dies bestätigt. Sie hat vielmehr ausgesagt, keinen Augenkontakt zu dem Erstbeklagten aufgenommen zu haben, wobei sie schon nicht angeben konnte, ob dieser Augenkontakt überhaupt möglich gewesen sei. Bei dieser Schilderung ist nicht nachvollziehbar, weshalb es dem Erstbeklagten möglich gewesen sein soll, ein Blinken des Nissan zu sehen oder die Absicht der Zeugin B., in den Fahrstreifen nach links zu wechseln, zu erkennen. Zwar hat die Zeugin auch erklärt, sie habe sich ein “Stück” vor dem LKW befunden. Dies reicht aber nicht aus, um die Sichtmöglichkeit des Erstbeklagten auf den Nissan einschätzen zu können. Ohne Entfernungsangaben kann nicht zu Gunsten des – für ein Fehlverhalten des Erstbeklagten darlegungs- und beweisbelasteten - Klägers unterstellt werden, dass ein Blinken für den Erstbeklagten sichtbar gewesen sein muss. Die Zeugin B. hat auch nicht etwa erklärt, dass der LKW stehen geblieben sei, sondern vielmehr ausgesagt, der LKW sei langsam angefahren. Er hat sich damit bereits in Bewegung befunden.
dd) Zutreffend hat das Landgericht auch ausgeführt, dass die Schäden an dem klägerischen Fahrzeug für ein Fehlverhalten der Zeugin B. sprechen. Wenn die Zeugin B. den Fahrstreifenwechsel im Unfallzeitpunkt zu 95% abgeschlossen haben will, ist nicht verständlich, warum die Schäden am klägerischen Fahrzeug an der linken Seite und nicht zumindest auch hinten) und am Beklagtenfahrzeug vorne rechts entstanden sind. Diese Schäden sprechen gerade nicht dafür, dass sich die Zeugin B. mit dem klägerischen Fahrzeug so weit vor dem LKW befunden hat, dass sie gefahrlos in den anderen Fahrstreifen wechseln konnte. Sie durfte einen etwa bestehenden Vorrang nicht erzwingen.
ee) Selbst wenn zu Gunsten des Klägers die Aussagen des Beklagten zu 1) und des Zeugen R. nicht für überzeugend gehalten würden- wofür der Senat im Hinblick auf die Ausführungen des Landgerichts im angefochtenen Urteil kein Anlass hatte-, folgt daraus keine Haftung der Beklagten. Wie oben dargestellt, reicht die Aussage der Zeugin B. bereits nicht aus, um ein Fehlverhalten des Erstbeklagten festzustellen.
III.
Im Übrigen hat die Sache weder grundsätzliche Bedeutung nicht ist eine Entscheidung des Senats zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 ZPO.
Es wird angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.