Fällt durch ein Hindernis oder auf sonstige Weise ein Fahrstreifen weg bzw. wird dieser unpassierbar, müssten bei Vorhandensein eines weiteren Fahrstreifens den dort ankommenden Fahrzeugen stets das Vorrecht eingeräumt werden, da der auf dem wegfallenden Fahrstreifen fahrende Fzg-Führer den Fahrstreifen wechseln müsste.
Um die daraus für die Verkehrsflüssigkeit resultierenden Nachteile zu vermeiden, wurde das sog. Reißverschlussverfahren eingeführt, das exakt regelt, wie an einer solchen Stelle das Einfädeln vor sich zu gehen hat.
Angesichts der eigentlich sehr klaren Regelung erstaunt immer wieder, in welchem Ausmaß die Fahrzeugführer über die richtige Anwendung dieses Prinzips nicht Bescheid wissen.
KG Berlin v. 17.05.1979:
Der Beginn des "Reißverschlusses" liegt auf dem freien Fahrstreifen, es sei denn, der auf dem blockierten Fahrstreifen Fahrende hat vor dem Nachfolgenden einen solchen Vorsprung, dass er den Fahrstreifenwechsel ohne Gefährdung des Nachfolgenden ausführen kann. Auch wenn die Voraussetzungen eines Spurwechsels nach dem Reißverschlussverfahren vorliegen, darf der Spurwechsler nicht darauf vertrauen, dass ihm der Benutzer des durchgehenden Streifens den Vortritt einräumt, sondern muss durch allmähliches, spitzwinkliges Hinübersetzen, vorherige Rückschau und Richtungszeichen deren Gefährdung vermeiden (Haftungsquote 3/4 zu 1/4 zu Gunsten des Bevorrechtigten).
KG Berlin v. 07.06.1990:
Das Reißverschlussverfahren gilt auch bei liegengebliebenen Fahrzeugen. Der Vorrang des auf dem durchgehenden Fahrstreifen ersten sich dem Hindernis nähernden Fahrzeugs gilt allerdings nicht, wenn der auf dem blockierten Fahrstreifens vorausfahrende Kraftfahrer einen derartigen Abstand zu dem auf dem durchgehenden Fahrstreifen befindlichen Kraftfahrer hat, dass er noch gefahrlos in den freien Fahrstreifen hinüberwechseln kann. In diesem Falle braucht er dem auf dem nicht blockierten Fahrstreifen befindlichen Kraftfahrer nicht den Vorrang zu gewähren (volle Haftung des Spurwechslers - Abgrenzung gegen ältere Quotenrechtsprechung).
KG Berlin v. 19.10.2009:
Nach ständiger Rechtsprechung beider Verkehrssenate des Kammergerichts enthält § 7 Abs. 4 StVO eine Vorrangsregelung dahin, dass derjenige, der den durchgehenden Fahrstreifen befährt, Vorrang vor demjenigen hat, der auf seinem Fahrstreifen nicht durchfahren kann. - Eine Mithaftung des Bevorrechtigten kommt nur dann in Betracht, wenn er die Gefahr einer Kollision auf sich zukommen sehen musste und unfallverhütend reagieren kann; dann kann an eine Mithaftungsquote von ¼ gedacht werden.
AG Dortmund v. 23.02.2010:
Bei Anwendung des sogenannten Reißverschlussverfahrens trifft den Verkehrsteilnehmer, der den Fahrstreifen wechselt, die Verpflichtung des § 7 Abs. 5 StVO. Es obliegt demjenigen der vom nicht weiterführenden in den durchgehenden Fahrstreifen wechseln will, entweder eine ausreichend große Lücke abzuwarten oder aber sich durch Blickkontakt mit dem anderen Fahrer zu verständigen (§ 11 Abs. 3 StVO), so dass erst bei einer erkennbaren Verzichtshaltung des anderen auf das bestehende Vorrecht ein Fahrstreifenwechsel vollzogen wird. Bei der Haftungsabwägung ist die Betriebsgefahr des auf dem durchgehenden Fahrstreifen befindlichen Fahrzeugs zu berücksichtigen.
OLG Stuttgart v. 14.04.2010:
Üblicherweise beträgt die Haftungsverteilung bei einem durch einen Fahrspurwechsel im sog. Reißverschlussverfahren verursachten Unfall 1:1. Von dieser Quote kann allerdings dann erheblich abgewichen werden, wenn derjenige, dem an sich nach den Grundsätzen des Reißverschlussverfahrens das Vorrecht auf dem durchgehenden Fahrstreifen zustehen würde, mit erheblich überhöhter Geschwindigkeit fährt (hier: 160 km/h statt zugelassener 100 km/h auf der Autobahn).
OLG München v. 21.04.2017:
Bei der Kollision eines die Spur wechselnden Fahrzeugs mit einem sich bereits auf der Zielspur befindlichen Fahrzeug kann der Beweis des ersten Anscheins dafür sprechen, dass der Unfall auf ein schuldhaftes Verhalten des Spurwechslers hinsichtlich seiner Pflichten aus § 7 Abs. 5 StVO zurückzuführen ist.
OLG Hamm v. 18.02.2020::
Überholt ein Kraftfahrer auf einer auslaufenden rechten Fahrspur außerorts, an deren Ende im Reißverschlussverfahren auf den linken, in dieselbe Richtung verlaufenden Fahrstreifen gewechselt werden muss, bereits mehrere hundert Meter vor dem Ende des rechten Fahrstreifens, ein auf diesem befindliches Fahrzeug rechts, so handelt es sich nicht um ein Einordnen im Reißverschlussverfahren nach § 7 Abs. 4 StVO. Ein Rechtsüberholen ist in einer solchen Situation nur dann nicht verkehrsordnungswidrig, wenn einer der gesetzlich abschließend geregelten Fälle zulässigen Rechtsüberholens vorliegt.