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BGH Beschluss vom 16.05.2017 - VI ZR 25/16 - Fehlender Wiedergabe des Rechtsschutzbegehrens der Parteien

BGH v. 16.05.2017: Erfolg der Nichtzulassungsbeschwede bei fehlender Wiedergabe des Rechtsschutzbegehrens der Parteien im Berufungsurteil


Der BGH (Beschluss vom 16.05.2017 - VI ZR 25/16) hat entschieden:
  1. Im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ist die Revision nicht alleine deshalb zuzulassen, weil das Berufungsgericht unter irrtümlicher Anwendung von § 313a Abs. 1, § 540 Abs. 2 ZPO rechtsfehlerhaft davon abgesehen hat, die Rechtsschutzbegehren der Parteien im Berufungsurteil wiederzugeben. Allerdings ist die Richtigkeit des Beschwerdevortrags zu unterstellen, wenn er infolge des Fehlers anhand des Urteils nicht überprüft werden kann (Fortführung Senatsbeschluss vom 18. September 2012, VI ZR 51/12, NJW-RR 2012, 1535 Rn. 1).

  2. Spricht das Berufungsgericht dem Kläger entgegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO mehr zu als von diesem beantragt, so liegt darin regelmäßig auch eine Gehörsverletzung zulasten des Beklagten.

Siehe auch Rechtsmittel - insbesondere Berufung - in Zivilsachen und Fristversäumung und Stichwörter zum Thema Zivilprozess


Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die Beklagten aus einem Verkehrsunfallgeschehen auf Schadensersatz in Anspruch.

Der Beklagte zu 1 wollte nach einer verbalen Auseinandersetzung mit dem Kläger, zu der es gekommen war, weil sich der Kläger über die Fahrweise des Beklagten zu 1 geärgert hatte, mit einem bei der Beklagten zu 3 haftpflichtversicherten Pkw von einem Parkplatz wegfahren. Der Kläger stellte sich ihm in den Weg. Um den Kläger zum Weggehen zu bewegen, fuhr der Beklagte zu 1 weiter auf ihn zu. Der Kläger sprang zu Seite, rappelte sich wieder auf, lief einige Schritte hinter dem sich entfernenden Wagen her und stürzte erneut. Er zog sich einen Bruch des Unterschenkels zu. Im Wesentlichen mit der Behauptung, sich diese Verletzung bereits beim Sprung weg von dem auf ihn zufahrenden Fahrzeug zugezogen zu haben, hat der Kläger die Beklagten zu 1 bis 3 - den Beklagten zu 2 als angeblichen Halter des Fahrzeugs - auf Schadensersatz in Anspruch genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat das Urteil auf die Berufung des Klägers teilweise abgeändert, die Beklagten zu 1 und 3 in der Hauptsache gesamtschuldnerisch zur Zahlung von 15.648,13 € an den Kläger verurteilt und festgestellt, dass die Beklagten zu 1 und 3 als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger seinen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Vorfall zu 75% zu ersetzen. Hinsichtlich des Beklagten zu 2 hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Hiergegen wenden sich die Beklagten zu 1 und 3 mit ihren Nichtzulassungsbeschwerden. Der Beklagte zu 2 hat seine zunächst ebenfalls eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde wieder zurückgenommen.

II.

1. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 1 wurde nicht innerhalb der gesetzlichen Frist eingelegt und war deshalb als unzulässig zu verwerfen (§ 544 Abs. 1 Satz 2 ZPO).

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 3 hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, soweit zum Nachteil der Beklagten zu 3 entschieden worden ist.

a) Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers gegen die Beklagten zu 1 und 3 aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. § 230 StGB, § 253 BGB bejaht und zur Begründung - "abgekürzt gem. § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO" - im Wesentlichen ausgeführt, der Beklagte zu 1 habe mit seinem Verhalten den Kläger beim Betrieb seines Kraftfahrzeugs verletzt. Es sei davon überzeugt, dass sich der Beklagte zu 1 habe entfernen wollen, nachdem es zwischen ihm und dem Kläger zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen sei, sich die Polizei genähert habe, das Martinshorn schon zu hören und das Blaulicht schon zu sehen gewesen sei. Da der Beklagte zu 1 nach seinen eigenen Angaben gesehen habe, dass der Kläger gestürzt sei, sei er verpflichtet gewesen, an der Unfallstelle zu bleiben. Da der Kläger verletzt am Boden gelegen habe, habe der Beklagte zu 1 auch keine weiteren Übergriffe des Klägers zu fürchten gehabt. Das "Auf-​den-​Kläger-​Zufahren" sei nicht durch Notwehr gerechtfertigt gewesen. Die Beklagte zu 3 hafte als Haftpflichtversicherer nach § 3 PflVG. Unaufgeklärt und nicht entscheidungsrelevant sei, ob sich der Kläger beim Sprung weg von dem auf ihn zufahrenden Fahrzeug oder erst beim Hinterherlaufen verletzt habe.

Hinsichtlich der materiellen Schadenshöhe habe der Kläger dem Berufungsgericht im Termin zur mündlichen Verhandlung unwidersprochen erläutert, dass und warum er wegen seines Ausfalls in seinem Unternehmen Aushilfskräfte habe anstellen und einen Subunternehmer mit der Fertigstellung von Arbeiten habe beauftragen müssen. Aus den vorgelegten Rechnungen ergebe sich insoweit ein Schaden von 6.197,50 €, der unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von 25% in Höhe von 4.648,13 € ersatzfähig sei. Das dem Kläger zustehende Schmerzensgeld belaufe sich unter Berücksichtigung seines Mitverschuldensanteils auf 11.000 €.

b) Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt die Beklagte zu 3 in entscheidungserheblicher Weise in ihrem Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).

aa) Das Berufungsgericht hat dem Kläger gehörswidrig mehr zugesprochen als von diesem beantragt.

Nach den Darlegungen der Nichtzulassungsbeschwerde hat der Kläger mit der Berufung in der Hauptsache unter anderem beantragt, die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Zahlung von 14.819,40 € zu verurteilen. Das darin enthaltene Schmerzensgeld habe er mit 8.000 € konkret beziffert und nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt. Dies ist im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren - ungeachtet der Tatsache, dass der Vortrag auch nach Aktenlage zutrifft - schon deshalb als zutreffend zugrunde zu legen, weil das Berufungsgericht unter irrtümlicher Anwendung von § 313a Abs. 1 Satz 1, § 540 Abs. 2 ZPO rechtsfehlerhaft davon abgesehen hat, die Rechtsschutzbegehren der Parteien im Berufungsurteil wiederzugeben. Dieser Fehler begründet für sich alleine zwar noch keinen Revisionszulassungsgrund (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 2003 - V ZR 441/02, NJW 2003, 3208), führt aber dazu, dass der Beschwerdevortrag, soweit er anhand des Urteils nicht überprüft werden kann, als richtig zu unterstellen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 18. September 2012 - VI ZR 51/12, NJW-​RR 2012, 1535 Rn. 1; BGH, Beschluss vom 18. Juli 2007 - XII ZR 87/05 Rn. 26, juris).

Hat der Kläger damit die Verurteilung der Beklagten zu einem konkret bezifferten Schmerzensgeld von 8.000 € und einem - unter Einrechnung materieller Schäden - Gesamtbetrag von 14.819,40 € beantragt, das Berufungsgericht die Beklagten aber zu einem Schmerzensgeld von 11.000 € bzw. zur Zahlung von insgesamt 15.648,13 € verurteilt, so hat es gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO verstoßen. Hierin liegt regelmäßig zugleich eine Gehörsverletzung (vgl. etwa Hk-​ZPO/Saenger, 2017, § 308 Rn. 6; MüKoZPO/Musielak, 2016, § 308 Rn. 22 mwN).

bb) Auf einer weiteren Verletzung des Anspruchs der Beklagten zu 3 auf Gewährung rechtlichen Gehörs beruht die Annahme des Berufungsgerichts, dem Kläger seien wegen seines unfallbedingten Ausfalls in dem von ihm betriebenen Unternehmen Kosten für die Beschäftigung von Aushilfskräften und die Einschaltung eines Subunternehmens in Höhe von 6.197,50 € entstanden. Das Berufungsgericht hat insoweit gehörswidrig übergangen, dass die Beklagte zu 3 den diesbezüglichen Vortrag des Klägers bestritten hatte.

(1) Der Gehörsgrundsatz verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt jedoch keine Pflicht, sich mit jedem Vorbringen der Parteien in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägungen gezogen haben. Art. 103 Abs. 1 GG ist daher erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen klar ergibt, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerfG, Beschluss vom 19. August 2016 - 1 BvR 1283/13, juris Rn. 9, mwN). Davon ist im Streitfall auszugehen.

(2) Die Beklagte zu 3 hat - wie die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend ausführt - unter anderem vorgetragen:
"Bezüglich des Verdienstausfalls bestreiten wir, dass der Kläger die ihm erteilten Aufträge nicht weiter ausführen konnte. Wir bestreiten einen Auftrag an einem Flachdach der Firma L[…] in H[…]. Wir bestreiten vorsorglich, dass der Kläger zum Unfallzeitpunkt keinen Mitarbeiter hatte, der eine Fahrerlaubnis besitzt. Wir bestreiten vorsorglich, dass es nicht möglich gewesen ist, die Arbeiten zu verschieben. […] Die Rechnungen des Herrn P[…] bestreiten wir als nicht notwendig. Es ist nicht einmal klar, welche Arbeiten denn der Zeuge P[…] getätigt haben soll. Seine Rechnungen weisen aus, dass er einen Fahrzeugbetrieb unterhält. Wir bestreiten die in den Rechnungen v. 23.01.2012, 19.12., 15.12. und 12.12.2011 dargestellten Hilfsarbeiten der Höhe nach. Hier wird der Kläger zunächst substantiiert darzustellen haben, für welche Bauvorhaben welche Hilfsarbeiten getätigt worden sein sollen. Wir bestreiten, dass es dem Mitarbeiter M[…] nicht möglich war, diese Arbeiten durchzuführen. Wir bestreiten ferner, dass der Zeuge P[…] die Arbeiten überhaupt durchgeführt hat. Wir bestreiten ferner, dass die Rechnung der Firma H[…] unfallbedingt notwendig ist. Es wird nicht einmal vorgetragen, warum 75 Meisterstunden á 42,50 € notwendig gewesen sein sollen. Wir bestreiten ferner, dass die Rechnungen beglichen sind."
Trotz dieses dezidierten Bestreitens des vom Kläger behaupteten materiellen Schadens lässt sich den Ausführungen des Berufungsgerichts schon nicht hinreichend klar entnehmen, dass die Höhe des materiellen Schadens zwischen den Parteien überhaupt streitig war. Auch ist nicht erkennbar, dass und warum das Berufungsgericht die diesbezüglichen Behauptungen des Klägers für erwiesen erachtet hat. Vielmehr hat sich das Berufungsgericht auf den offensichtlich unzureichenden Hinweis beschränkt, der Kläger habe "im Termin zur mündlichen Verhandlung - unwidersprochen - erläutert, dass und warum wegen seines Ausfalls eine Aushilfskraft vor Ort nötig war, um die Arbeiten weiter voranzubringen und einen Teil der Arbeiten durch die Beauftragung eines anderen Unternehmens fertig gestellt werden musste", weshalb ihm die in den vorgelegten Rechnungen ausgewiesenen Beträge zuzusprechen seien. Hieraus folgt hinreichend klar, dass das Berufungsgericht aus dem Blick verloren hat, dass die Beklagten die vom Kläger behaupteten Schäden bereits vor den Erläuterungen des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vollumfänglich bestritten hatten.

Aus § 314 ZPO folgt nichts anderes. Zwar wäre danach auch der erkennende Senat im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren an eine tatbestandliche Feststellung im Berufungsurteil, nach der die Höhe des materiellen Schadens unstreitig ist, gebunden. Eine solche Feststellung enthält das Berufungsurteil aber ebenfalls nicht. Denn dem Berufungsurteil lässt sich insoweit allein entnehmen, dass die Beklagten den erläuternden Ausführungen des Klägers in der mündlichen Berufungsverhandlung nicht ausdrücklich widersprochen haben, nicht aber, dass der Vortrag des Klägers zum materiellen Schaden dadurch insoweit unstreitig wurde. Im Übrigen beziehen sich die diesbezüglichen Ausführungen des Berufungsgerichts alleine auf die Erforderlichkeit von Aushilfskraft und Subunternehmer, nicht aber auf die von den Beklagten ebenfalls bestrittene Höhe der dafür erforderlichen Aufwendungen.

3. Für das weitere Verfahren weist der erkennende Senat auf Folgendes hin:

Die nach den dem Berufungsurteil zugrundeliegenden Feststellungen ungeklärte Frage, ob sich der Kläger beim Sprung weg von dem auf ihn zufahrenden Fahrzeug oder erst beim Hinterherlaufen verletzt hat, wäre nur dann nicht entscheidungserheblich, wenn davon ausgegangen werden könnte, dass dem Beklagten zu 1 auch eine erst beim Hinterherlaufen entstandene Verletzung des Klägers zugerechnet werden kann. Dies beurteilt sich nach den Grundsätzen der sogenannten "Herausforderungsfälle" (vgl. nur Senatsurteil vom 31. Januar 2012 - VI ZR 43/11, BGHZ 192, 261 Rn. 8 ff.), wobei der Kläger als Anspruchsteller in Bezug auf die die Zurechenbarkeit begründenden Tatsachen darlegungs- und beweisbelastet ist (vgl. Senatsurteil vom 4. November 1980 - VI ZR 231/79, NJW 1981, 570, 571). Bislang sind tatsächliche Feststellungen, die die Zurechnung einer erst beim Hinterherlaufen entstandenen Verletzung tragen, nicht getroffen. Insbesondere sind die Erwägungen des Berufungsgerichts zur Frage, ob sich der Beklagte zu 1 nach dem Eintritt der Verletzung des Klägers unerlaubt entfernt hat, insoweit - wie auch sonst hinsichtlich der Frage nach dem Bestehen der streitgegenständlichen Schadensersatzansprüche - ohne Bedeutung. Denn das Verhalten des Beklagten zu 1 nach Eintritt der Verletzung des Klägers kann für die Verletzung des Klägers schon nicht kausal geworden sein.