- Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO darf nur überholen, wer übersehen kann, dass während des gesamten Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Darüber hinaus muss derjenige, der eine ganze Fahrzeugkolonne überholen will, die Gewissheit haben, dass er vor Annäherung des Gegenverkehrs sich entweder vor das vorderste Fahrzeug setzen oder wenigstens in eine ohne Gefährdung oder Behinderung der Rechtsfahrenden ausreichende Lücke einfahren kann.
- Kommt es im Falle eines Kolonnenüberholens dergestalt zum Unfall, dass ein Pkw im Gegenverkehr, dessen Fahrer, um einer Kollision zu entgehen, auf den rechten Grünstreifen gerät, die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert und sodann mit dem entgegen kommenden Fahrzeug eines Dritten sowie des dahinter fahrenden Überholenden zusammenprallt, ohne dass sicher festgestellt werden kann, dass das Ausweichmanöver tatsächlich notwendig war, um einem unmittelbar bevorstehenden Zusammenstoß zu entgehen, haftet der Überholende für den Unfall allein.
- Die Grundsätze des Bundesgerichtshofs für den Fall des berührungslosen Unfalls, dass eine auch objektiv nicht gebotene Ausweich- oder Panikreaktion dem Überholenden zuzurechnen ist, können auf die Situation eines sich nur mittelbar ereignenden Zusammenstoßes der Fahrzeuge der Parteien übertragen werden.
Siehe auch Kolonnen-Überholen und Stichwörter zum Thema Überholen
Gründe:
I.
Die Klägerinnen verlangen materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.
Am 4. August 2008 befuhr die Klägerin zu 1) mit dem von der Klägerin zu 2) gehaltenen Pkw (Toyota, amtl. Kennzeichen…) die B76 aus E in Richtung P. In Gegenrichtung fuhr der Beklagte zu 1) mit dem von der Beklagten zu 2) gehaltenen Pkw (BMW M5, amtl. Kennzeichen …), haftpflichtversichert bei der Beklagten zu 3). In Höhe der Ortschaft D überholte der Beklagte zu 1) mehrere vor ihm fahrende Fahrzeuge. Er will die Klägerin zwar in einer von ihm geschätzten Entfernung von 800 bis 1000m gesehen habe, dachte aber, dass er noch „locker“ die beiden vor ihm in einer Kolonne fahrenden Fahrzeuge überholen könnte. Die Klägerin zu 1) betätigte zunächst die Lichthupe, wich auf eine rechts neben der Fahrbahn liegende Busspur aus, geriet auf den Grünstreifen und verlor dabei die Kontrolle über ihr Fahrzeug. Sie drehte sich und schleuderte auf den auf der Gegenfahrbahn befindlichen Pkw des Zeugen K. Sie prallte sodann von diesem Fahrzeug ab und kollidierte mit ihrem Heck mit der Frontseite des Fahrzeugs des Beklagten zu 1). Durch den Unfall erlitt das Fahrzeug der Klägerin zu 2) einen Totalschaden. Die Klägerin zu 1) wurde bei der Kollision nicht unerheblich verletzt: Schädelhirn-Trauma I. Grades, HWS-Distorsion und Zungenbissverletzung. Sie war wegen eines posttraumatischen Belastungstraumas vom 6.11.2008 bis zum 5.9.2010 in psychotherapeutischer Behandlung.
Der Beklagte zu 1) akzeptierte wegen des Unfalls einen Strafbefehl des Amtsgerichts P vom 11.11.2009 (Az.: … Cs …) wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 3 Nr. 2 StGB. Gegen ihn wurde eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 60,00 € und ein dreimonatiges Fahrverbot verhängt.
Die Klägerinnen haben behauptet, die Klägerin zu 1) sei mit dem Fahrzeug auf den Grünstreifen geraten, weil sie dem entgegenkommenden Fahrzeug habe ausweichen wollen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Die Klägerin zu 1) habe durch den Unfall eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten. Letztere habe eine Behandlung bei der Psychologin G und der Fachärztin B nötig gemacht. Neben krankengymnastischen Maßnahmen habe sie auch osteopathische Behandlungen in Anspruch nehmen müssen.
Die Klägerin zu 1) beansprucht ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 12.000,00 €. Sie hat außerdem folgende materielle Schadensersatzpositionen geltend gemacht:
Zerstörte Gegenstände (vgl. Anlage K12, Bl. 31 f. d. A.): 585,27 € Einzelzimmerzuschlag 425,30 € Attestkosten 5,00 € Fitness-Studio 230,00 € Zuzahlung Krankengymnastin 21,70 € Zuzahlung Krankengymnastin 21,70 € Osteopathie 330,00 € Zuzahlung Apotheke 5,00 € Fahrtkosten Lebenspartner 81,60 € Zuzahlung Krankentransport und Krankenhausbehandlung 100,00 €
Auf den hieraus folgenden Gesamtschaden in Höhe von 1.805,57 € hat die Beklagte zu 3) vorgerichtlich unstreitig 1.600,00 € gezahlt, so dass noch restliche 205,57 € geltend gemacht werden.
Die Beklagte zu 2) hat einen unstreitigen Schaden am Kraftfahrzeug in Höhe von 4.009,46 € geltend gemacht. Daneben hat sie 40,00 € für Parkquittungen sowie 478,20 € für entgangene Urlaubszeit verlangt. Auf die hiernach geltend gemachten 4.527,66 € hat sich die Klägerin zu 2) einen von der Beklagten zu 3) gezahlten Betrag in Höhe von 3.000,00 € anrechnen lassen.
Die Klägerinnen haben beantragt,Die Beklagten haben beantragt,
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1)
- 205,57 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf 105,57 € seit dem 22.8.2008 und auf 100 € seit Rechtshängigkeit,
- ein angemessenes Schmerzensgeld, das 12.000 € nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.8.2008 zu zahlen;
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 2) 1527,96 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.8.2008 zu zahlen;
- festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 1) sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, die aus dem Unfall vom 4.8.2008 auf der B 76 künftig entstehen, zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind;
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,
- an die Klägerin zu 1) 899,40 € nicht anrechenbare außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit,
- an die Klägerin zu 2) 489,45 € nicht anrechenbare, außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
die Klage abzuweisen.Sie haben behauptet, die Klägerin zu 1) sei aus Unachtsamkeit auf den Grünstreifen geraten. Zu diesem Zeitpunkt sei der Überholvorgang des Beklagten zu 1) bereits beendet gewesen und habe nichts mit dem Unfall zu tun.
Das Landgericht hat die Klägerin zu 1) und den Beklagten zu 1) angehört und im Termin am 13. April 2010 5 Zeugen vernommen (K, M, D, G und G; vgl. Bl. 230-246 d. A.). Es hat zudem ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten eingeholt (vgl. Gutachten M vom 15.12.2010, Bl. 265 ff. d. A.). Der Sachverständige wurde ergänzend im Termin am 17.02.2015 (vgl. Bl. 431 d. A.) angehört. Die Sache ist beim Landgericht in fünf Terminen zwischen 2009 und 2016 verhandelt worden.
Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil vom 30.6.2016 der Klage auf Grundlage einer Haftungsquote von 40 : 60 zugunsten der Klägerinnen stattgegeben. Hinsichtlich der Schadenshöhe hat das Landgericht die Positionen der Klägerinnen teilweise gekürzt und deshalb nur einen Teil des geltend gemachten Schadens als begründet angesehen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagte zu 1) habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme gegen § 5 StVO verstoßen. Es sei bei der Berechnung der Überholstrecke eine Gesamtstrecke von 640 m zugrunde zu legen, da der Beklagte zu 1) nicht damit habe rechnen dürfen, bereits nach dem Überholen von zwei Fahrzeugen wieder auf die rechte Spur wechseln zu können. Seine tatsächliche Sichtweite habe aber lediglich 800 m betragen. Nach der Zeugenvernehmung sei es nämlich so gewesen, dass vor dem überholenden Fahrzeug des Beklagten zu 1) alle Fahrzeuge dicht nacheinander auf seiner Spur fuhren. Der Zeuge K habe mit seinem Fahrzeug dicht auf das vor ihm fahrende Fahrzeug auffahren müssen, um dem Beklagten zu 1) ein Einscheren erst zu ermöglichen. Das Ausweichmanöver der Klägerin zu 1) sei auch kausal auf den Überholvorgang zurückzuführen mit der Folge, dass sie auf den Grünstreifen geriet, ins Schleudern kam und anschließend auf die entgegenkommenden Fahrzeuge prallte. Der Überholvorgang des Beklagten zu 1) sei die einzig vernünftige Erklärung dafür, dass die Klägerin zu 1) nach rechts ausgewichen und dabei auf den Grünstreifen geraten sei. Dies habe auch der Zeuge K bestätigt. Die Klägerin zu 1) trage jedoch eine Mithaftung in Höhe von 40%, denn es könne nicht sicher festgestellt werden, dass ihr Ausweichmanöver zur Vermeidung einer Kollision erforderlich war. Durch ein Abbremsen hätte der Unfall vermieden werden können.
Von den materiellen Schadenspositionen der Klägerin zu 1) hat das Landgericht die Positionen zerstörte Gegenstände (585,27 €), Fahrtkosten Lebenspartner (81,60 €) sowie Krankenhauszuzahlungsbeträge (100,00 €) nicht als begründet angesehen. Hiernach verbleibe ein Erstattungsbetrag in Höhe von 1.048,70 €, 60% hiervon seien 629,22 €. Der Schaden sei durch die Zahlung der Versicherung in Höhe von 1.600,00 € mithin abgedeckt. Bezüglich des immateriellen Schadensersatzes der Klägerin zu 1) hat sich das Landgericht auf die von der Klägerin zu 1) zur Akte gereichten Belege gestützt und hiernach unter Berücksichtigung des Mitverschuldensanteils ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000,00 € (Bei eine Quote von 60 %) als begründet angesehen. Diesen hat es um den noch verbleibenden Verrechnungsbetrag aus der vorgerichtlichen Zahlung der Beklagten zu 3) gekürzt (4000 ./. 970,78 €) und den rechnerisch verbleibenden Betrag von 3.029,22 € zuerkannt. Vom materiellen Schadensersatzanspruch der Klägerin zu 2) hat das Landgericht die geltend gemachten Positionen entgangene Urlaubszeit (478,20 €) sowie Parkquittungen (40,00 €) abgezogen. Hiernach verbleibe ein Schaden in Höhe von 4.009,46 €, 60% hiervon seien 2.405,68 €. Dieser Betrag lag unterhalb des von der Beklagten zu 3) vorgerichtlich bereits erstatteten Betrages in Höhe von 3.000,00 €. Den Feststellungsantrag der Klägerin zu 1) hat das Landgericht abgewiesen, weil es für diesen an einer Begründung fehle und nicht ersichtlich sei, welche zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden noch drohten. Die von der Klägerin geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten seien begründet (dies hat das Landgericht im Tenor der Entscheidung allerdings nicht berücksichtigt). Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Klägerin zu 2) seien nicht begründet, da nicht festgestellt werden könne, wann die Rechtsanwältin beauftragt worden sei.
Wegen der tatsächlichen Feststellungen im Übrigen wird auf das angefochtene Urteil nebst darin enthaltener Verweisungen Bezug genommen.
Mit Berufung und Anschlussberufung wenden sich beide Parteien gegen das Urteil und verfolgen, soweit erstinstanzlich nicht obsiegend, ihre Anliegen weiter. Zur Begründung machen die Klägerinnen geltend, wegen Verstoßes gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO streite gegen den Beklagten zu 1) ein Anscheinsbeweis. Die Klägerin zu 1) durfte sich angesichts des grob verkehrswidrigen und rücksichtslosen Fahrverhaltens des Unfallgegners zum Ausweichen nach rechts herausgefordert fühlen. Deshalb treffe die Klägerin kein Mitverschuldensvorwurf. Die Abweisung des Feststellungsantrags sei zu Unrecht erfolgt, da nicht völlig ausgeschlossen sei, dass die Klägerin zu 1) auch in Zukunft noch unfallbedingte Beeinträchtigungen haben werde.
Der Klägerinnen beantragen,das angefochtene Urteil des Landgerichts Kiel zu ändern undDie Beklagten beantragen,
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1) 205,57 € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz auf 105,57 € seit dem 22.08.2008 sowie auf 100,00 € seit Rechtshängigkeit sowie ein angemessenes Schmerzensgeld, das 12.000,00 € nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.08.2008 zu zahlen.
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 2) 1.527,96 € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.08.2008 zu zahlen.
- festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 1) sämtlichen materielle und immaterielle Schäden, die aus dem Unfall vom 04.08.2008 auf der B76 künftig entstehen, zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind.
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1) 899,40 € nicht anrechenbare außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit sowie an die Klägerin zu 2) 489,45 € nicht anrechenbare außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
die Berufung zurückzuweisen,sowie im Wege der Anschlussberufung,das Urteil des Landgerichts Kiel abzuändern und die Klage vollständig abzuweisen.Die Klägerinnen beantragen,die Anschlussberufung zurückzuweisen.Die Beklagten stellen im Wesentlichen darauf ab, dass eine Verantwortlichkeit des Beklagten zu 1) für den Unfall nicht bestehe. Der Klägerin zu 1) sei es nach den Feststellungen des Sachverständigen möglich gewesen, durch leichte Verminderung ihrer Geschwindigkeit und sogar durch einfaches Weiterfahren den Unfall zu vermeiden. Der Beklagte zu 1) habe sich bereits eine ganze Zeit wieder auf seiner Fahrspur befunden, bevor es zur Kollision gekommen sei. Das Landgericht habe bei seiner Weg-Zeit-Berechnung zu Unrecht eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h des Beklagten zu 1) zugrunde gelegt, denn maßgeblich sei der tatsächliche Ist-Wert mit einer Spitzengeschwindigkeit von 120 km/h. Auch sei es falsch, das Überholen von drei Fahrzeugen zugrunde zu legen, da der Beklagte zu 1) eben nur zwei Fahrzeuge überholt habe. Die Zeugenaussagen könnten demgegenüber nicht zugrunde gelegt werden, denn hierbei handelte es sich um unzuverlässige Beweismittel. Anders seien die Erkenntnismöglichkeiten der Beifahrerin des Beklagten zu 1) zu bewerten, denn diese seien überdurchschnittlich entwickelt, die Zeugin G sei von Beruf Tennislehrerin. Anlass des Unfalls sei ein ungeschicktes und missglücktes Hantieren der Klägerin zu 1) mit ihrer Zigarette. Das taxierte Schmerzensgeld mit einer Bemessung von 6.666,67 € auf 100%-Basis sei völlig überzogen. Für eine Gehirnerschütterung und die HWS-Erkrankung sei ein Schmerzensgeld von 1.500,00 € auf 100%-Basis angemessen und ausreichend.
Wegen der Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf die zweitinstanzlich gewechselten Schriftsätze verweisen. Der Senat hat die Klägerin im Termin am 14.3.2017 zu den derzeitigen Folgen ihrer unfallbedingt erlittenen Verletzungen persönlich angehört. Wegen der HWS/BWS- Verletzungen soll es zeitweise immer noch Rücken-Blockaden geben, so dass sie sich weiterhin in osteopathischer Behandlung befindet. Am Kopf befinde sich immer noch eine kleine Beule mit Druckschmerz. Bei Autofahrten auf Bundesstraßen leide sie immer noch unter psychischen Angstgefühlen.
II.
Die Berufung der Klägerinnen hat überwiegend Erfolg. Insoweit rechtfertigen die zugrundeliegenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO). Lediglich hinsichtlich der Schadenshöhe bleibt es bei den vom Landgericht vorgenommenen Kürzungen, weil insoweit auch keine Berufungsangriffe vorliegen. Die Anschlussberufung der Beklagten ist unbegründet.
1. Den Klägerinnen steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf Ersatz der Unfallschäden gemäß §§ 7, 17 StVG in Verbindung mit § 115 Abs. 1 VVG dem Grunde nach zu 100% zu.
Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Absatz 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Absatz 1 u. 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (vgl. BGH, NZV 1996, S. 231). Das Zurücktreten eines Verursachungsbeitrags setzt in der Regel eine nicht erheblich ins Gewicht fallende mitursächliche Betriebsgefahr auf der einen Seite und ein grobes Verschulden auf der anderen Seite voraus (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., StVG, § 17, Rn. 16).
So liegt der Fall hier. Das Landgericht hat einen Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1) gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO (unzulässiges Überholen, obwohl Behinderung des Gegenverkehrs nicht ausgeschlossen ist) festgestellt. Dies hält der Überprüfung durch den Senat stand. Denn das Landgericht hat es nach Beweisaufnahme als erwiesen angesehen, dass der Überholvorgang kausal für den späteren Unfall war. Das ist nicht zu beanstanden. Es ist im Straßenverkehr anerkannt, dass maßgeblicher Zeitpunkt für Ursächlichkeit und Zurechnungszusammenhang der Eintritt der konkreten kritischen Verkehrslage ist, die unmittelbar zum Schaden führt. Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (BGH, Urteil v. 22.11.2016, VI ZR 533/15, Juris RN. 17 m.w.N.). Es steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass die Ausweichreaktion der Klägerin zu 1) durch das Überholmanöver des Beklagten zu 1) ausgelöst worden ist. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) berechtigt das Gericht, die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten, wobei der Richter lediglich an die Denk- und Naturgesetze sowie sonstige Erfahrungssätze gebunden ist (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 31. Aufl. § 286, Rn. 13). Ein Verstoß gegen diese Grundsätze ist nicht erkennbar. Im Übrigen steht die Wiederholung der Beweisaufnahme außerdem gem. §§ 529, 531 ZPO nicht mehr in reinem Ermessen des Berufungsgerichts. Sie ist im Sinne eines gebundenen Ermessens vielmehr nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen und eine gewisse- nicht notwendig überwiegende- Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall einer Beweiserhebung die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand mehr haben werden, sich also ihre Unrichtigkeit herausstellt (Zöller/Heßler, a.a.O. § 529, Rn 3). Solche konkreten Anhaltspunkte werden mit der Berufung jedoch nicht vorgetragen. Es genügt nicht, wenn der Berufungskläger lediglich seine Beweiswürdigung anstelle derjenigen des Landgerichts setzt.
Die von den Beklagten gegen dieses Beweisergebnis vorgebrachten Umstände sind aus mehreren Gründen nicht geeignet, der Anschlussberufung zum Erfolg zu verhelfen. Denn aufgrund der Zeugenaussagen und des Fahrverhaltens der Klägerin zu 1) steht fest, dass dieses durch das Überholmanöver des Beklagten zu 1) hervorgerufen wurde. Es ist kein einleuchtender Grund dafür erkennbar, warum die Klägerin zu 1) die Lichthupe betätigen und auf den Bereich einer rechts liegenden asphaltierten Busspur (vgl. Sachverständigengutachten M., Bl. 283 d. A) hätte ausweichen sollen, ohne dass dies einen Zusammenhang zum Überholvorgang des Beklagten zu 1) hat. Damit korrespondiert die Angabe des Zeugen M (Bl. 238 d. A.), der bereits bei Beginn des Überholvorgangs den Reflex hatte „das wird knapp“ und wahrnahm, dass das Klägerfahrzeug in Bedrängnis geriet. Er hat auch bekundet, dass der Beklagte u 1) schon auf den VW-Golf des Zeugen K aufgeschlossen war. Demnach wollte der Beklagte zu 1) nicht nur zwei Fahrzeuge überholen. Der Zeuge K hat von einem Stau berichtet und dass er ganz dich auf den Vordermann aufrücken musste, um dem Beklagten zu 1) ein Einscheren in die Kolonne erst zu ermöglichen. Bereits danach steht fest, dass der Beklagten zu 1) überholt hat, obwohl eine Gefährdung des Gegenverkehrs nicht ausgeschlossen war. Dass es ihm nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme möglicherweise gelungen ist, so rechtzeitig wieder auf seine Spur zu ziehen, dass die Klägerin zu 1) eigentlich gar nicht hätte ausweichen, sondern einfach auf ihrer Spur hätte weiterfahren müssen (Gutachten M, Bl. 300 d. A.), ist demgegenüber unbeachtlich. Denn für die Erfüllung des Tatbestandes ist eine bloße „Behinderung“ ausreichend, die aufgrund der Zeugenaussagen und der Feststellungen des Sachverständigen M, der in allen Konstellationen des Unfallablaufs (Weg - Zeit Berechnungen) eine Reaktion der Klägerin zu 1) auf den Überholvorgang des Beklagten zu 1) angenommen hat, nachgewiesen ist. Bei der Zeugin G handelt es sich um die Freundin des Beklagten zu1) und es erschließt sich nicht, weshalb sie über bessere Erkenntnisse und ihre Aussage über eine höhere Glaubhaftigkeit verfügen sollte, als die der übrigen Zeugen. Es steht deshalb nicht fest, dass der Beklagte zu 1) schon längst wieder in die Kolonne eingeschert war und den Überholvorgang beendet hatte, als die Klägerin zu 1) ihr Ausweichmanöver vornahm.
Außerdem hat der Beklagte zu 1) auch gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO verstoßen, weil er trotz Gegenverkehrs eine Kolonne mit mehreren Fahrzeugen überholt hat. Wer eine Fahrzeugkolonne überholen will, muss die Gewissheit haben, dass er vor Annäherung des Gegenverkehrs sich entweder vor das vorderste Fahrzeug setzen oder wenigstens in eine zum Einscheren ohne Gefährdung oder Behinderung der Rechtsfahrenden ausreichende Lücke einfahren kann (vgl. BHHJJ/Heß, 24. Aufl., 2016, StVO § 5 Rn 20). Dies war hier nicht gegeben, denn jedenfalls der Zeuge K hat bekundet, er habe dicht auf das vor ihm fahrende Fahrzeug auffahren müssen, um für den Beklagten zu 1) eine Lücke zu schaffen (vgl. Bl. 234 d. A.). Da der Beklagte zu 1) nicht damit rechnen konnte, dass der Zeuge K sich in diese für ihn gefährliche Situation begeben würde, um ein Einscheren zu ermöglichen, hätte er von einem Überholvorgang Abstand nehmen müssen.
Zu Lasten der Klägerinnen ist lediglich die Betriebsgefahr des Fahrzeugs in die Abwägung einzustellen. Eine Erhöhung der Betriebsgefahr aufgrund eines Verkehrsverstoßes seitens der Klägerin zu 1) ist nicht bewiesen. Denn ein solcher Verkehrsverstoß (wie z.B. fehlendes Bremsen) steht nicht mit hinreichender Sicherheit fest. Dass für die Klägerin zu 1) der Unfall nach den eingeholten Rekonstruktionsgutachten je nach Unfallkonstellation durch Beibehaltung der konstanten Geschwindigkeit oder jedenfalls durch die Einleitung einer Bremsung vermeidbar gewesen wäre, steigert die Betriebsgefahr nicht. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist für den Fall des berührungslosen Unfalls anerkannt, dass eine Ausweichreaktion, die in Ansehung eines überholenden Kraftfahrzeugs in Gegenrichtung vorgenommen wird, dem Überholenden zuzurechnen ist (BGH, Urteil vom 21.9.2010, VI ZR 263/09, VersR 2010,1614-1615, juris Rn. 8, zitiert nach Juris). Dies gilt auch dann, wenn es sich hierbei um eine voreilige - also objektiv nicht erforderliche - Ausweichreaktion handelt (vgl. BGH Urteil vom 26.4.2005, VI ZR 168/04, VersR 2005,992-993, Juris Rn. 12). Selbst wenn man die Ausweichreaktion der Klägerin als eine „Panikreaktion“ bezeichnen wollte, ist sie doch durch das Verhalten des Beklagten zu 1) verursacht worden, weil eine Gefährdung des entgegenkommenden Verkehrs bei dem Überholmanöver gerade nicht ausgeschlossen werden konnte. Diese BGH-Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall übertragbar. Zwar liegt kein berührungsloser Unfall vor, denn es ist im Verlauf zu einem Zusammenstoß der Fahrzeuge gekommen. Dies geschah jedoch im Verhältnis der Parteien nur mittelbar, weil die Klägerin zu 1) durch das riskante Überholmanöver des Beklagten zu 1) zunächst ins Schleudern geriet und erst anschließend mit dem Pkw des Zeugen K und nachfolgend auch mit dem Fahrzeug des Beklagten zu 1) kollidiert ist.
Eine Zurechnung der Ausweichreaktion der Klägerin zu 1) entfällt auch nicht aus dem Grund, dass der Beklagte zu 1) bereits seinen Überholvorgang, wie die Anschlussberufung unter Vornahme einer Weg-Zeit-Berechnung vorbringt, „längst“ abgeschlossen hatte und sich mindestens seit sieben Sekunden wieder auf der rechten Fahrspur befunden haben soll. Zwar hält der Sachverständige M auch eine solche Unfallkonstellation technisch für möglich, bei der der Beklagte zu 1) bereits „seit geraumer Zeit“ wieder auf die rechte Fahrspur eingeschert war. Erwiesen ist diese Konstellation allerdings nicht und kann deshalb bei der Abwägung der Verursachungsanteile auch nicht berücksichtigt werden. Die bloße Möglichkeit des von den Beklagten geschilderten Unfallablaufs genügt nicht. Die von den Beklagten vorgelegte Weg-Zeit-Berechnung kann schon deshalb nicht bei der Schadensverteilung als feststehender Sachverhalt berücksichtigt werden, weil ihr tatsächliche Annahmen zugrunde liegen, die nicht feststehen (insbesondere zum Punkt, an dem der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug zum Überholen ansetzte und zur von ihm gefahrenen Geschwindigkeit).
Die allein zu berücksichtigende Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin zu 2) tritt gegenüber dem erheblichen, grob verkehrswidrigen Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1) zurück. Er ist zu recht aufgrund des streitgegenständlichen Unfalls wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung gem. § 315 c StGB verurteilt worden.
2. Schadenshöhe
Bei der Schadenshöhe können im Hinblick auf die materiellen Schäden die von den Parteien insoweit nicht angegriffenen Schadenspositionen des Landgerichts zu Grunde gelegt werden.
Die Klägerin zu 1) hat hiernach ungekürzt einen berechtigten materiellen Schadensersatzanspruch in Höhe von 1.048,70 Euro. Durch die Zahlung von 1.600 Euro ist der Betrag abgedeckt. Die Berufung bleibt insoweit erfolglos. Es verbleibt ein Verrechnungsbetrag auf den immateriellen Schadensersatzanspruch in Höhe von 551,30 Euro.
Der materielle Schaden der Klägerin zu 2) bemisst sich auf 4.009,46 Euro. Abzüglich vorgerichtlich gezahlter 3.000 Euro folgt hieraus ein Zahlungsanspruch in Höhe von noch 1.009,46 Euro.
Das der Klägerin zu 1) zuzusprechende und um den vorgenannten Verrechnungsbetrag (551,30 €) zu reduzierende Schmerzensgeld bemisst der Senat mit 10.000 Euro. Dabei ist nicht nur die unmittelbare Gesundheitsbeeinträchtigung zu berücksichtigen, sondern auch, dass die Klägerin zu 1) über längere Zeit unter den psychischen Folgewirkungen des Unfalls zu leiden hatte und sich wegen eines posttraumatischen Belastungssyndroms bis Ende 2010 in psychotherapeutischer Behandlung befand. Zudem befindet sie sich auch heute noch wegen des Unfalls und der Beschwerden im Bereich der der Hals-Wirbelsäule. in osteopathischer Behandlung. Diagnose und Therapie der unfallbedingten posttraumatischen Belastungsstörung (Symptome: Flashbacks, partielle peritraumatische Amnesie, Ein- und Durchschlafstörungen, Alpträume, Hypervigilanz, erhöhte Schreckhaftigkeit, stark erhöhtes allgemeines Anspannungsniveau, verminderte Empfindungsfähigkeit, depressive Reaktion) sind durch die ausführlichen Arztberichte der Diplom Psychologin G vom 5.12.2009 (Anlage K 25) und vom 12.1.2011 (Anlage K 26) nachgewiesen.
Die Berufung hat auch hinsichtlich des Feststellungsantrags Erfolg. Das Feststellungsinteresse ist gegeben. Denn für die Feststellung der Pflicht zum Ersatz künftigen Schadens aus einer bereits eingetretenen Rechtsgutsverletzung ist die Möglichkeit eines Schadenseintritts ausreichend. Sie kann nur verneint werden, wenn aus der Sicht des Anspruchsberechtigten bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines Schadens wenigstens zu rechnen (vgl. BGH, NJW 2001, 1431). Hier ist der Eintritt künftiger Schäden nicht ausgeschlossen. Die Klägerin gab im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung vor dem Senat an, noch immer unter unfallbedingten Beschwerden der Hals-Wirbelsäule zu leiden. Auch mögliche psychische Spätfolgen sind nicht auszuschließen.
Die Ausführungen der Beklagten aus dem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 15. März 2017 enthalten keine neuen, entscheidungsrelevanten Erkenntnisse und gebieten demzufolge nicht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gem. § 156 ZPO.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 100, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.