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OLG Köln Urteil vom 14.02.2017 - 1 RVs 294/16 - Voraussetzungen für ein Einstellungsurteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO
OLG Köln v. 14.02.2017: Anforderungen an ein tatrichterliches Einstellungsurteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO
Das OLG Köln (Urteil vom 14.02.2017 - 1 RVs 294/16) hat entschieden:
In einem Einstellungsurteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO sind die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Verfahrenshindernisses in einer revisionsrechtlich überprüfbaren Weise festzustellen und zu begründen. Der Tatrichter ist verpflichtet, die Verfahrensvoraussetzungen zu prüfen und ihr Bestehen grundsätzlich so darzulegen, dass sie vom Revisionsgericht nachgeprüft werden können. Soweit zu dieser Überprüfung eine dem Tatrichter obliegende Feststellung von Tatsachen erforderlich ist, hat er diese rechtsfehlerfrei zu treffen und (gegebenenfalls) zu würdigen. In den Urteilsgründen muss daher grundsätzlich, von der zugelassenen Anklage ausgehend, in revisionsrechtlich nachprüfbarer Weise dargelegt werden, aus welchen Gründen die Durchführung des Strafverfahrens unzulässig ist.
Siehe auch Urteilsanforderungen im Strafverfahren und Stichwörter zum Thema Verkehrsstrafsachen
Gründe:
I.
Mit unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage vom 19. Oktober 2015 liegt dem Angeklagten zur Last, während einer Rollerfahrt am 2. Mai 2015 gegen 2:30 Uhr in B über insgesamt 4,283 g Heroinbase-Zubereitung mit einer Wirkstoffmenge von insgesamt 1,5 g Heroin-Hydrochlorid sowie über 0,294 g Kokain-Hydrochlorid-Zubereitung mit einem Wirkstoffgehalt von 0,23 g Kokainhydrochlorid verfügt zu haben.
Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Amtsgericht - Schöffengericht - Bonn das Verfahren wegen des Verfahrenshindernisses des Strafklageverbrauchs eingestellt. Zur Begründung ist ausgeführt:
"Der Angeklagte wurde im Rahmen der Verkehrskontrolle am 02.05.2015 gegen 2:30 Uhr durch die Polizei angehalten. Der Angeklagte gab an, nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis zu sein. Insoweit leiteten die Strafverfolgungsbehörden ein gesondertes Verfahren wegen des Vorwurfs des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) ein, in dem der Angeklagte durch Strafbefehl des Amtsgerichts Bonn vom 07.10.2015, rechtskräftig seit 28.10.2050, zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt wurde. Nach den im Rahmen der Hauptverhandlung verlesen Feststellung des Strafbefehls befuhr der Angeklagte am 02.05.2015 gegen 2:30 Uhr mit einem erlaubnispflichtigen Mofa der Marke N mit dem Kennzeichen xxx unter anderem die F Straße. Zum Führen des Fahrzeugs war er - wie ihm bekannt war - nicht berechtigt, weil er zum Zeitpunkt der Tat keine Fahrerlaubnis besaß."
Und im Rahmen der rechtlichen Würdigung ist ausgeführt:
"Der Angeklagte hat sich zur Sache nicht eingelassen, so dass zu seinen Gunsten anzunehmen war, dass die Fahrt gerade dem Transport der Drogen diente und mithin eine verfahrensrechtliche Identität vorliegt."
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der die Verletzung materiellen Rechts gerügt wird. Die Generalstaatsanwaltschaft ist der Revision beigetreten.
II.
Das Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende Rechtsmittel hat (vorläufigen) Erfolg. Es führt gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bonn. Die Verfahrenseinstellung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. a) In einem Einstellungsurteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO sind die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Verfahrenshindernisses in einer revisionsrechtlich überprüfbaren Weise festzustellen und zu begründen. Der Tatrichter ist verpflichtet, die Verfahrensvoraussetzungen zu prüfen und ihr Bestehen grundsätzlich so darzulegen, dass sie vom Revisionsgericht nachgeprüft werden können. Soweit zu dieser Überprüfung eine dem Tatrichter obliegende Feststellung von Tatsachen erforderlich ist, hat er diese rechtsfehlerfrei zu treffen und (gegebenenfalls) zu würdigen. In den Urteilsgründen muss daher grundsätzlich, von der zugelassenen Anklage ausgehend, in revisionsrechtlich nachprüfbarer Weise dargelegt werden, aus welchen Gründen die Durchführung des Strafverfahrens unzulässig ist. Der Umfang der Darlegung richtet sich dabei nach den besonderen Gegebenheiten des Einzelfalls, insbesondere nach der Eigenart des Verfahrenshindernisses (vgl. für das Verfolgungshindernis der Verjährung BGH NJW 2011, 547, [548]; allgemein Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Auflage 2016, § 267 Rz. 29; KK-StPO-StPO-Kuckein, 7. Auflage 2013, § 267 Rz. 45; MüKo-StPO-Wenske, § 267 Rz. 537 f.). Bei einer Verfahrenseinstellung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Doppelverfolgung ("ne bis in idem" - Art. 103 Abs. 3 GG), die - wie zu zeigen sein wird - von der Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse abhängt, bedarf es einer vom Tatrichter festzustellenden Sachverhaltsgrundlage, von der ausgehend erst das Bestehen oder Nichtbestehen des Verfahrenshindernisses beurteilt werden kann.
b) Dem steht hier nicht entgegen, dass das Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen und das Fehlen von Prozesshindernissen in jeder Lage des Verfahrens - also auch vom Revisionsgericht, soweit es aufgrund eines zulässigen Rechtsmittels mit der Sache befasst wird - grundsätzlich nach den Regeln des Freibeweises zu prüfen ist (s. SenE v. 27.11.2012 - III-1 RVs 192/12 m. w. N.). Soweit es nämlich - wie hier - auf den genauen Tathergang ankommt, unterliegen die entsprechenden Feststellungen den Regeln des Strengbeweises (BGHSt 46, 349 - bei Juris Tz. 10; SenE v. 18.08.1987 - Ss 293/87; Löwe/Rosenberg-StPO-Stuckenberg, 26. Auflage 2008, § 206a Rz. 64 aE; s. a. SK-StPO-Velten, 5. Auflage 2016, § 267 Rz. 64 f.).
2. Den danach an seine Begründung zu stellenden Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht zur Gänze.
a) aa) Zutreffend hat das Schöffengericht freilich den prozessualen Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG, § 264 StPO bestimmt. Art 103 Abs. 3 GG verbürgt den Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung. Die Vorschrift will den Bürger davor schützen, dass er wegen einer bestimmten Tat, derentwegen er schon strafgerichtlich zur Verantwortung gezogen worden ist, nochmals in einem neuen Strafverfahren verfolgt wird (s. nur BGHSt 28, 119, 121 = NJW 1979, 54). "Tat" im Sinne dieser Bestimmung ist ein "konkretes Vorkommnis", ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet. Zu diesem Vorgang gehört das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach natürlicher Lebensauffassung einen einheitlichen Lebensvorgang darstellt. Zwischen den einzelnen Verhaltensweisen des Täters muss eine "innere Verknüpfung" bestehen, dergestalt, dass ihre getrennte Aburteilung in verschiedenen erstinstanzlichen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde. Dabei kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an (so insgesamt SenE v. 28.06.2016 - III-1RBs 181/16; Senat NZV 2005, 210 m. w. N.).
bb) Nach diesen Maßstäben geht die Rechtsprechung in den Fällen des Zusammentreffens von Betäubungsmittelbesitz und Führen eines Kraftfahrzeugs unter dem Einfluss berauschender Mittel vom Vorliegen zweier Taten im prozessualen Sinne dann aus, wenn beide ohne innere Beziehung zueinander stehen, der Drogenbesitz gleichsam nur "bei Gelegenheit" der Fahrt stattfindet (BGH NStZ 2004, 694 = StV 2005, 256; SenE v. 09.05.2014 - III-1 RVs 49/14; SenE v. 09.02.2007 - 83 Ss 1/07 -; OLG Hamm NStZ-RR 2010, 154; KG NStZ-RR 2012, 155 = NZV 2012, 305; OLG Braunschweig Urt. v. 10.10.2014 - 1 Ss 52/14 bei Juris Tz. 21; zust. König/Seitz DAR 2012, 362). Ein innerer Zusammenhang zwischen dem Führen eines Kraftfahrzeuges unter der Wirkung berauschender Mittel bei gleichzeitigem Mitsichführen von Betäubungsmitteln wird indessen angenommen, wenn die Fahrt den Zweck verfolgt, den Drogenbesitz aufrechtzuerhalten bzw. abzusichern, also dazu dient, die Betäubungsmittel zu transportieren, zu finanzieren, an einen sicheren Ort zu bringen, sie zu verstecken oder dem staatlichen Zugriff zu entziehen. Maßgeblich ist demnach eine Finalbeziehung von Fahrt und Drogenbesitz (vgl. BGH NStZ 2012, 709; BGH DAR 2012, 390; BGH NStZ 2009, 705; BGH NStZ 2004, 694 = StV 2005, 256; SenE v. 28.06.2016 - III-1 RBs 181/16; SenE v. 09.05.2014 - III-1 RVs 49/14 -). Diese Grundsätze beanspruchen gleichermaßen Geltung, wenn - wie hier - der Besitz des Rauschgifts mit einem Vergehen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis zusammentrifft (SenE v. 10.12.2008 - 83 Ss 92/08; OLG Hamm B. v. 05.07.2016 - III-2 Ws 132/16 - bei Juris Tz. 15).
b) Hängt nach dem zuvor Dargestellten das Bestehen eines Verfahrenshindernisses der Doppelverfolgung vom Vorliegen eines inneren Zusammenhangs von (ohne Fahrerlaubnis getätigter) Fahrt und Drogenbesitz ab, ist das Tatgericht - was bereits auf die von der Rechtsmittelführerin allein erhobene Sachrüge beachtlich ist (vgl. BGH NStZ 2010, 160; BGH NStZ 1999, 38) - seinen diesbezüglichen Feststellungs- und Darlegungsaufgaben nicht gerecht geworden. Die Urteilsgründe erweisen sich vielmehr als materiell-rechtlich unvollständig; sie belegen daher nicht, dass die Entscheidung in jeder Hinsicht auf rechtsfehlerfreien Erwägungen beruht (§ 337 StPO).
aa) Ein Strafverfahren darf grundsätzlich nur durchgeführt werden, wenn feststeht, dass die erforderlichen Prozessvoraussetzungen vorliegen und Prozesshindernisse nicht entgegenstehen. Daher besteht - im Sinne von §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO - ein Verfahrenshindernis immer schon dann, wenn es möglicherweise vorliegt. Hierüber kann freilich erst nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten entschieden werden (BGH NStZ 2010, 160; BGH BeckRS 2002 30248031; BayObLG NJW 1968, 2118, das von "endgültiger" Ungewissheit spricht, s. a. BGH NStZ 1992, 142). Auch bei dem - jedenfalls strukturgleichen, wenn nicht gar unmittelbar anwendbaren - Satz "in dubio pro reo" (dazu vgl. Löwe/Rosenberg-StPO-Stuckenberg, a.a.O., § 206a Rz. 37 ff.; zusf. Radtke/Hohmann, StPO, § 260 Rz. 42) handelt es sich um eine Entscheidungsregel, die erst nach vollständig durchgeführter Beweisaufnahme zur Anwendung gelangen kann (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 261 Rz. 26; HK-StPO-Julius, 5. Auflage 2012, § 261 Rz. 17 je mit Nachw.). Die Urteilsgründe, die ausschließlich auf die (fehlende) Sacheinlassung des Angeklagten abstellen, geben keinen Aufschluss darüber, ob dem Tatgericht diese Grundsätze bei seiner Entscheidung vor Augen standen und ob andere Beweismittel - wie etwa die anhaltenden Polizeibeamten, denen gegenüber der Angeklagte jedenfalls zu seiner (fehlenden) Fahrerlaubnis Angaben gemacht hat und die ggf. auch zum Auffinden des Rauschgifts hätten bekunden können - unergiebig geblieben sind.
bb) Darüber hinaus ist das Tatgericht schon grundsätzlich nicht gehalten, zu Gunsten eines Angeklagten Sachverhaltsvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (BGH NJW 2003, 2179 m. w. Nachw.; BGH NStZ 2009, 285). Dieser Grundsatz gilt auch im Zusammenhang mit der Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen eines Verfahrenshindernisses. Insofern reichen bloß theoretische, nur denkgesetzlich mögliche Zweifel nicht aus; sie müssen sich vielmehr auf konkrete tatsächliche Umstände gründen und - nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten - unüberwindbar sein (BGHSt 46, 349 - bei Juris Tz. 9; BGH NStZ 2010, 160). Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass das Tatgericht in Verkennung dieses Grundsatzes unzutreffende, weil zu geringe Anforderungen an die Überzeugungsbildung im Hinblick auf die vorerwähnte Beziehung von Fahrt und Drogenbesitz gestellt hat.