Das Verkehrslexikon

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VGH München Beschluss vom 31.07.2017 - 11 CS 17.1089 - Hypoglykämie eines Diabetikers

VGH München v. 31.07.2017: Keine Fahrerlaubnis bei Hypoglykämie eines Diabetikers


Der VGH München (Beschluss vom 31.07.2017 - 11 CS 17.1089) hat entschieden:
Hat eine Hypoglykämie bei einem Diabetiker mindestens einmal zu einer eingeschränkten Bewusstseinslage mit Leistungseinschränkungen geführt, kommt eine Ausnahme von der Regelbewertung gem. Nr. 5 der Anlage 4 zur FeV nach Vorbemerkung Nr. 3 zur Anlage 4 zur FeV nicht in Betracht.


Siehe auch Krankheiten und Fahrerlaubnis und Die Fahrerlaubnis im Verwaltungsrecht


Gründe:

I.

Infolge eines Verkehrsunfalls am 23. Dezember 2015 und auf der Grundlage eines verkehrsmedizinischen Gutachtens der DEKRA vom 26. September 2016 entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem an insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ 1 leidenden Antragsteller mit Bescheid vom 8. Dezember 2016 die Fahrerlaubnis der Klassen 1, 3 und 4 (entspricht Fahrerlaubnisklassen A, A 1, A2, AM, B, BE, C1, C1E, L) und ordnete den Sofortvollzug an. Das Gutachten war zu dem Ergebnis gekommen, dass beim Antragsteller eine Erkrankung vorliege, die nach Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung in Frage stelle, und der Antragsteller nicht in der Lage sei, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe I und II vollständig gerecht zu werden. Es liege keine ausreichende Adhärenz (Compliance; z.B. Krankheitseinsicht, regelmäßige/überwachte Medikamenteneinnahme [Hinweise auf - ggf. selbstinduzierte - Unter- oder Überdosierung] usw.) vor.

Nachdem der Antragsteller am 10. Dezember 2016 bei der Polizei den Verlust seines Führerscheins angezeigt hatte, verzichtete die Fahrerlaubnisbehörde auf die Erhebung von Zwangsgeldern, um die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins zu vollstrecken.

Die Bevollmächtigten des Antragstellers legten Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist, und stellten einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 15. Mai 2017 ablehnte.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde, mit der der Antragsteller die Aussetzung der sofortigen Vollziehung der Nummer 1 des Bescheides und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs sowie die Ausstellung eines neuen Führerscheins der Klassen A, A1, A2, AM, B, BE, C1, C1E und L begehrt. Zur Begründung trägt der Antragsteller vor, das Gutachten der DEKRA sei unter Berücksichtigung der Angaben des Antragstellers zu den Besonderheiten seines Krankheitsbildes und zur Unfallursache nicht schlüssig. Der Verweis des Gerichts auf § 11 Abs. 2 Satz 5 FeV rechtfertige nicht die Außerachtlassung des hausärztlichen Gutachtens. Der Hausarzt sei Facharzt für Innere Medizin. Auch die abstrakte, formelhafte Anordnung des Sofortvollzuges sei vor diesem Hintergrund und dem der jahrzehntelangen Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr rechtswidrig.

Der Antragsgegner trat der Beschwerde mit Schreiben vom 27. Juni 2017 entgegen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird gem. § 117 Abs. 3 VwGO analog auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist, soweit der Antragsteller die Ausstellung eines neuen Führerscheins begehrt, bereits unzulässig, im Übrigen unbegründet.

Der Antrag auf Ausstellung eines neuen Führerscheins ist im Rahmen des Verfahrens gem. § 80 Abs. 5 VwGO nicht statthaft, da die vom Bestehen der entsprechenden Fahrerlaubnis abhängige Ausstellung eines Ersatzdokuments nach Verlust des Führerscheins gem. § 25 Abs. 4 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-​Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert am 18. Mai 2017 (BGBl I S. 1282), zunächst bei der zuständigen Fahrerlaubnisbehörde zu beantragen wäre. Es handelt sich um ein Verpflichtungsbegehren, für das einstweiliger Rechtsschutz ggf. im Verfahren gem. § 123 VwGO zu suchen wäre, nicht aber um einen Folgenbeseitigungsanspruch, den das Gericht im Falle freiwilliger Abgabe des Führerscheins oder erfolgten Vollzugs nach Fahrerlaubnisentziehung gem. § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO gewähren könnte. Im Übrigen fehlt dem Antragsteller insoweit das Rechtsschutzbedürfnis.

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheides unter Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses wiederherzustellen, ist unbegründet. Ein - auf das gleiche Rechtsschutzziel gerichteter und gem. § 80 Abs. 4 VwGO bei der Fahrerlaubnisbehörde zu stellender - Antrag auf Aussetzung des Sofortvollzuges kommt daneben nicht in Betracht. Er kann nach §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO zweckgerecht dahin ausgelegt werden, dass hiermit kein weiterer, über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hinausgehender Antrag anhängig gemacht werden sollte.

Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat grundsätzlich beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen es nicht, den angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt, weil sich die auf § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert am 23. Juni 2017 (BGBl I S. 1822), § 46 Abs. 1 Satz 1, § 11 FeV i.V.m. Nr. 5.4, 9.6.2 der Anlage zur FeV gestützte Fahrerlaubnisentziehung vom 8. Dezember 2016 voraussichtlich als rechtmäßig und der Widerspruch des Antragstellers somit als erfolglos erweisen wird.

Die Behauptungen des Antragstellers, dass Unfallursache nicht eine Hypoglykämie, sondern ein durch Stress ausgelöster Schwächeanfall gewesen sei, und dass er bei einem Blutzuckerspiegel von 27 mg/dl keine Ausfallerscheinungen habe, lassen sich weder mit dem Unfallgeschehen noch mit den polizeilichen Feststellungen nach dem Unfall vereinbaren. Nach den Feststellungen des mit der Erkrankung erfahrenen Polizeibeamten hat der Antragsteller bei der Aufnahme des Verkehrsunfalls verwirrt und desorientiert gewirkt, was sich nach mehrmaliger Verabreichung von Glukose gebessert hat. Dies hat der rechtsmedizinische Sachverständige im Strafverfahren in Verbindung mit dem unmittelbar nach dem Unfall gemessenen, nach verschiedenen Maßstäben sehr niedrigen Blutzuckerwert von 27 mg/dl und den nach der Verabreichung von Glukose gemessenen Werten nachvollziehbar als klaren Beleg für einen Kausalzusammenhang gewertet. Er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Unfallursache eine Unterzuckerung war, was letztlich auch der Antragsteller akzeptiert hat, da er nach der Erstattung des Gutachtens seinen Einspruch gegen den Strafbefehl auf die Rechtsfolgen beschränkt hat. Weiter hat der Sachverständige einen Wert von unter 40 mg/dl allgemein als „gefährlich“ bezeichnet. Nach allgemeinen (verkehrs-​) medizinischen Erkenntnissen ist bei einem Blutzuckerspiegel von 40 mg/dl oder niedriger auch ohne Symptome von einer Unterzuckerung auszugehen (vgl. Dr. Otmar Huth in der Handreichung der TÜV SÜD Life Service GmbH, Seite 21, Bl. 78 ff. d.A.; Annahme einer Hypoglykämie bei Werten unter 50 mg/dl durch Diabetes Informationsdienst München, Bl. 105 d.A.). Entgegen den Angaben des Antragstellers zu seinen Symptomen bei niedrigen Blutzuckerwerten waren bei ihm unmittelbar nach dem Unfall deutliche Symptome einer eingeschränkten Bewusstseinslage und fehlenden Leistungsfähigkeit zu beobachten. Auch hatte er selbst am Unfalltag bereits Anzeichen für eine Unterzuckerung wahrgenommen und deshalb einen Schokoladenriegel verzehrt, was jedoch nach der Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen keinesfalls ausreichend war. Auch der behandelnde Hausarzt des Antragstellers ist bei seiner mündlichen Befragung durch die Polizei am 29. März 2016 von einer Hypoglykämie am Unfalltag ausgegangen. Die verkehrsmedizinische Gutachterin sieht bei Blutzuckerwerten unter 30 mg/dl allgemein ein Risiko von Krämpfen und Bewusstlosigkeit (ebenso Diabetes Informationsdienst München, Bl. 106 d.A.). Nach den im Internet veröffentlichten Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften vom September 2011 (Seite 66) wird bereits bei Werten von 50 - 60 mg/dl die Gabe von Glukose empfohlen.

Auch soweit der Antragsteller geltend macht, das verkehrsmedizinische Gutachten der DEKRA sei keine geeignete Beurteilungsgrundlage für seine Fahreignung, weil es seine Angaben zu den Besonderheiten seines Krankheitsbildes (allgemein niedriger Blutzuckerspiegel, Leistungsfähigkeit auch bei niedrigem Blutzuckerspiegel) nicht ausreichend berücksichtige und nichts darüber aussage, ob bei ihm bei Blutzuckerwerten unter 30 mg/dl Symptome einer Unterzuckerung aufträten, kann dem nicht gefolgt werden. Seine Selbstauskünfte sind in das Gutachten eingeflossen, auch wenn die verkehrsmedizinische Gutachterin aus ihnen nicht den vom Antragsteller intendierten Schluss gezogen hat. Zunächst ist, wie bereits ausgeführt, nach dem Unfallhergang und den polizeilichen und sachverständigen Feststellungen nicht zu beanstanden, dass sie davon ausgegangen ist, dass Unfallursache eine Hypoglykämie war. Weiter ist der Schluss auf eine gestörte Hypoglykämiewahrnehmung auf der Grundlage der vom 28. Juni bis 19. September 2016 gemessenen Blutzuckerwerte und der Angaben des Antragstellers nachvollziehbar und überzeugend, dass er sich am Unfalltag nach dem Verzehr des Schokoladenriegels normal gefühlt habe und erst bei Werten unter 25 mg/dl Symptome einer Unterzuckerung wahrnehme, also in einem Bereich, in dem seine Bewusstseinslage und Leistungsfähigkeit am Steuer zumindest einmal erheblich eingeschränkt war und in dem allgemein bereits mit Krämpfen und Bewusstlosigkeit zu rechnen ist. Der bei seinem Hausarzt durchgeführte Belastungstest am 11. November 2016 ist hinsichtlich des Leistungsvermögens des Antragstellers unmittelbar vor dem Unfall oder bei einem in der Zeit vom 28. Juni bis 19. September 2016 gemessenen Wert von 32 mg/dl schon deshalb nicht aussagekräftig, weil er bei einem spürbar höheren Blutzuckerwert von 38 mg/dl nahe dem „kritischen“ Wert von 40 mg/dl erfolgt ist, ab dem eine Hypoglykämie zum Teil erst beim Vorliegen von Symptomen angenommen wird. Somit kommt es nicht darauf an, ob das Verwaltungsgericht die hausärztlichen Aussagen schon wegen § 11 Abs. 2 Satz 5 FeV nicht für geeignet erachten durfte, die Ergebnisse des Fahreignungsgutachtens in Frage zu stellen.

Nachdem beim Antragsteller eine Hypoglykämie mindestens einmal zu einer eingeschränkten Bewusstseinslage und Leistungsfähigkeit geführt hat, kommt eine Ausnahme von der Regelbewertung gem. Nr. 5 der Anlage 4 zur FeV nach Vorbemerkung Nr. 3 zur Anlage 4 zur FeV nicht in Betracht. Der Verordnungsgeber geht in Fällen, in denen wie beim Antragsteller mit Insulin therapiert wird, nach Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV von einem hohen Hypoglykämierisiko aus und fordert daher für die Annahme der Fahreignung in jedem Fall eine ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung, die beim Antragsteller nicht gegeben ist. Im Übrigen liegt es auf der Hand, dass bei dem begründeten Verdacht einer gestörten Hypoglykämiewahrnehmung die Feststellung einer Hypoglykämie oder die Diagnose einer Wahrnehmungsstörung auf der Grundlage individuell wahrgenommener Symptome ausscheiden muss, weil der Betroffene in diesem Fall seinen Gesundheitszustand gerade selbst nicht hinreichend erkennt.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Fahrerlaubnisbehörde auch nicht aufgrund des Abweichungsverbots des § 3 Abs. 4 StVG von der Fahreignung des Antragstellers ausgehen musste. Zwar hat der Strafrichter trotz der Regelvermutung nach § 69 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 315c StGB in dem rechtskräftigen Urteil vom 4. Juli 2016 (2 Cs 55 Js 3650/16) lediglich ein dreimonatiges Fahrverbot verhängt, allerdings entgegen der sich aus dem Regel-​Ausnahme-​Verhältnis ergebenden Begründungspflicht (vgl. Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 69 Rn. 42; Burmann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl. 2016, § 69 StGB Rn. 21) keine Ausführungen dazu gemacht, weshalb er anders als noch im Strafbefehl vom 20. April 2016 die Fahreignung des Antragstellers als gegeben angesehen und von der gesetzlich indizierten Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen hat. Voraussetzung der Bindungswirkung nach § 3 Abs. 4 StVG ist indes eine ausdrückliche Beurteilung der Fahreignung durch das Strafgericht, die sich zweifelsfrei aus dem Inhalt des Urteils selbst ergeben muss und nicht aus ergänzenden Ermittlungen zu diesem (Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 3 StVG Rn. 59).

Die behördliche Anordnung des Sofortvollzuges genügt auch den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO. Bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, ist das Interesse an der Entziehung der Fahrerlaubnis regelmäßig identisch mit dem Vollzugsinteresse (BayVGH, B.v. 16.12.2015 – 11 CS 15.2377 – juris Rn 10; Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 36), so dass die Fahrerlaubnisbehörde keine darüber hinausgehenden besonderen Gründe anführen muss. Weiter rechtfertigt es auch eine jahrzehntelange unbeanstandete Teilnahme am Straßenverkehr angesichts der erheblichen Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer nicht, vorläufig die weitere Teilnahme eines für fahrungeeignet erachteten Kraftfahrers am Straßenverkehr hinzunehmen (st.Rspr., vgl. BayVGH, B.v. 27.10.2016 – 11 CS 16.1388 – juris Rn 3 u. B.v. 14.9.2016 - 11 CS 16.1467 - juris Rn. 13 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.1, 46.3, und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31. Mai/1. Juni 2012 und am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).