Das Verkehrslexikon

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OLG München Urteil vom 17.11.2017 - 10 U 1319/17 - Tramunfall mit Kfz auf der Gleisanlage

OLG München v. 17.11.2017: Volle Haftung des Halters eines auf dem Gleisgelände der Straßenbahn stehenden Kfz


Das OLG München (Urteil vom 17.11.2017 - 10 U 1319/17) hat entschieden:
Ordnet sich ein Kfz-Führer auf den Gleisen einer Straßenbahn ein und kommt es sodann zum Unfall, obwohl für ihn die herannahende Bahn lt. Sachverständigen-Gutachten in einer Entfernung von 69 bis 95 m für 5 bis 7 Sekunden sichtbar war, so tritt jegliche Haftung des Bahnbetreibers - auch die Gefährdungshaftung gem. § 1 Abs. 1 HaftpflG - hinter dem groben Verschulden des Kfz-Führers zurück.


Siehe auch Straßenbahn - Tram - Stadtbahn und Unfalltypen - typische Unfallgestaltungen


Gründe:

A.

Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO sowie §§ 540 II, 313 b I 1 ZPO).

B.

I.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache ganz überwiegend Erfolg.

1.) Die Klage war - vollständig - abzuweisen.

a) Hinsichtlich des Beklagten zu 2) war die Klage bereits deswegen abzuweisen, weil es für eine Haftung aus § 823 I BGB am Verschuldensnachweis fehlt (insoweit zutreffend vom Erstgericht festgestellt), weil es für eine Haftung aus § 18 I 1 StVG am Tatbestandsmerkmal des Kraftfahrzeuges fehlt (vgl. die Legaldefinition in § 1 II StVG und weil aus § 1 I HPflG nur der Betriebsunternehmer, nicht auch der im Betrieb beschäftigte Straßenbahnfahrer, haftet.

b) Aber auch bzgl. der Beklagten zu 1) war die Klage abzuweisen.

Zwar greift hier, anders als beim Beklagten zu 2), die Anspruchsgrundlage des § 1 I HPflG. Allerdings tritt im Rahmen der gem. § 17 I, II, IV StVG vorzunehmenden Haftungsverteilung (vgl. auch König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 17 StVG, Rdnr. 37 m.w.N.) die - nicht verschuldensbedingt erhöhte - Betriebsgefahr der Beklagten-​Straßenbahn hinter dem groben Verschulden des Klägers vollständig zurück (vgl. hierzu auch König in Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 17 StVG, Rdnr. 43 m.w.N.).

aa) Zunächst ist bezüglich des Unfallorts darauf hinzuweisen, dass es - entgegen der Darstellung des Klägers (vgl. S. 2 der Berufungserwiderung = Bl. 199 d.A.) - auf der C.str. in dem Bereich, in dem der Kläger abgebogen ist, eine Linksabbieger- und eine Geradeausspur gibt. Der F.-​M.-​Weg beschreibt einen Bogen und mündet an zwei Stellen in Fahrtrichtung des Klägers links in die C.str. ein; zunächst bildet er zusammen mit der R.-​U.-​Str. eine Kreuzung, sodann, weiter nordöstlich, mit der K.straße. An der Kreuzung mit der K.str. gibt es auf der C.str. in Fahrtrichtung Nordost sowohl eine gemeinsame Geradeaus- und Rechtsabbieger - als auch eine separate Linksabbiegerspur. Nach der vom Kläger selbst gefertigten Skizze, welche als Anlage zum Protokoll der erstinstanzlichen Sitzung vom 14.07.2015 genommen wurde (vgl. Bl. 48 d.A.), bog der Kläger von der Linksabbiegerspur auf den Schienenbereich ab. Auch das Gutachten des Sachverständigen S. vom 07.03.2016 geht von der Kreuzung mit der K.str. als Unfallort und einem dort vorhandenen Linksabbiegerstreifen aus (vgl. insb. Gutachten S. 15 = Bl. 81 d.A.).

bb) Wenn auch in der Begründung widersprüchlich sowie knapp, hat das Erstgericht doch im Ergebnis zutreffend festgestellt, dass der Kläger grob verkehrswidrig gegen § 9 I 3 StVO verstoßen hat. Denn selbst wenn er bereits fünf bis sieben Sekunden im Gleisbereich gehalten haben sollte, ehe es zur Kollision kam, hätte er bereits beim Einfahren in den Gleisbereich die herannahende Straßenbahn sehen können. Dies ergibt sich aus S. 16/17 des Ergänzungsgutachtens des Sachverständigen Dipl.-​Ing. Dr. S. vom 21.12.2016 (= Bl.144/145 d.A.). Demzufolge befand sich die herannahende Straßenbahn - bei (späteren) Haltezeiten des Klägers von mindestens fünf bis sieben Sekunden - in einer Entfernung von ca. 69 m bis 95 m zum klägerischen Pkw und war für den Kläger in jedem Fall zu erkennen. Dabei hat der Sachverständige eine Annäherungsgeschwindigkeit der Straßenbahn von 47 km/h zu Grunde gelegt. Fehler des Gutachtens sind nicht ersichtlich. Ein Anlass für die Erholung eines neuen Sachverständigengutachtens, wie vom Kläger auf S. 3 der Berufungserwiderung (= Bl. 200 d.A.) beantragt, besteht mithin nicht. Im Übrigen hatte der Kläger, trotz ihm eigens hierzu gesetzter Frist (vgl. den Beschluss des Erstgerichts vom 27.12.2016 = Bl. 146/147 d.A.), keine Einwände gegen das o.g. Ergänzungsgutachten erhoben.

Dass die herannahende Straßenbahn für ihn zum Zeitpunkt des Befahrens des Gleisbereichs nicht zu erkennen gewesen wäre, hat der Kläger im Übrigen auch selbst nicht behauptet. Vielmehr hat er bekundet, er habe gar nicht auf die Straßenbahn, sondern auf den Verkehr der Gegenfahrbahn geachtet (vgl. S. 2 unten des Protokolls der erstinstanzlichen Sitzung vom 14.07.2015 = Bl. 45 d.A.). Zudem hat der Kläger nicht vorgetragen, dass es für ihn überraschend gewesen wäre, so lange im Gleisbereich halten zu müssen. Vielmehr hat er bekundet, es habe dichter Verkehr geherrscht und er habe gewartet, bis er sich auflöst (vgl. das o.g. Sitzungsprotokoll, a.a.O.).

cc) Um dem Beklagten zu 2) einen Verschuldensbeitrag nachzuweisen, hätte der Kläger nachweisen müssen, dass er mit seinem Pkw tatsächlich bereits mehrere Sekunden lang im Gleisbereich stand, bevor es zu der streitgegenständlichen Kollision kam. Dieser Nachweis ist ihm nicht gelungen, wie das Erstgericht insoweit zutreffend und für den Senat gem. § 529 I Nr. 1 ZPO bindend, festgestellt hat. Es ist damit gerade nicht bewiesen, dass dem Trambahnfahrer die von der Berufung unterstellte lange Abwehrzeit zur Verfügung stand.

Da damit feststeht, dass sich der Kläger ohne Beachtung der herannahenden Straßenbahn schuldhaft im Gleisbereich aufgehalten hat, tritt hier die allgemeine Betriebsgefahr der Straßenbahn hinter dem groben Verschulden des Pkw-​Fahrers zurück (vgl. auch Senat, Urteil vom 13.01.2017, Az.: 10 U 4109/16, juris).

2.) Entsprechend war der Kläger (und Widerbeklagte) - auf die Widerklage hin - antragsgemäß zu verurteilen.

a) Dem Grunde nach haftet der Kläger aus §§ 823 I BGB, 7 I, 17 I, II, IV StVG zu 100%, wobei auf die Ausführungen oben zu 1.) b) Bezug genommen wird.

b) Auch der Höhe nach ist die Widerklage vollständig begründet, und zwar auch hinsichtlich der vom Erstgericht nicht zugesprochenen vier Positionen („Vorhaltekosten“ = 481,00 €, „Zusatzpersonal“ = 181,00 €, „Schienenersatzverkehr“ = 207,48 € und „Verkehrsmeister“ = 49,01 €).

Entgegen der Ansicht der Widerklägerin hat zwar der Widerbeklagte den entsprechenden Sachvortrag der Widerklägerin bestritten (vgl. auf S. 3 des Schriftsatzes vom 19.03.2015 [Bl. 39 d.A.] wurde auf den - das entsprechende Bestreiten enthaltenden - Schriftsatz des Klägervertreters vom 23.02.2015 Bezug genommen).

Entgegen der Ansicht des Widerbeklagten ist jedoch der diesbezügliche Vortrag in der Widerklage (vgl. dort S.4/5 = Bl. 24/25 d.A.) i.V.m. den Anlagen WK4 bis WK7 hinreichend substantiiert, mit der Folge, dass wiederum das bloße Bestreiten - außer soweit es sich auf die Position „Zusatzpersonal“ bezieht - nicht substantiiert ist, so dass es insoweit bereits gar keines Nachweises seitens der Widerklägerin bedurft hätte. Indes hat sie diesen Nachweis in einer dem Senat im Rahmen des § 287 ZPO genügenden Weise (vgl. auch Senat, Urteil vom 07.07.2006, Az.: 10 U 2270/06, juris) mit den Anlagen WK4 bis WK7 erbracht, und zwar auch bzgl. der Position „Zusatzpersonal“ (vgl. hierzu die Anlage WK5).

c) Hinsichtlich der Zinsen war die o.g. zeitliche Staffelung auszusprechen, weil die Widerklage dem Kläger zwar bereits am 09.02.2015 zugestellt worden war, Zinsen analog § 187 I BGB aber erst ab dem auf die Zustellung folgenden Tag geschuldet werden (vgl. auch Ellenberger in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 76. Aufl., § 187 BGB, Rdnr. 1 m.w.N.). Nachdem das Erstgericht demgegenüber Zinsen aus 6.402,61 € bereits für die Zeit seit 09.02.2015 zugesprochen hatte und die Beklagte zu 1) (und Widerklägerin) mit der Berufung Zinsen seit 09.02.2015 beantragt, durfte das Ersturteil gem. § 528 S. 2 ZPO insoweit nicht abgeändert werden.

Aus diesem Grund war zwar nicht die Widerklage im Übrigen abzuweisen (Zinsen waren nämlich „seit Zustellung der Widerklage“, und nicht etwa konkret seit dem 09.02.2015, beantragt worden), aber die weitergehende Berufung.

II.

Die Entscheidung bzgl. der Kosten des Verfahrens erster Instanz beruht auf § 91 I 1 ZPO.

III.

Die Kostenentscheidung bzgl. der Kosten des Berufungsverfahrens folgt aus §§ 91 I 1, 92 II Nr. 1 ZPO.

IV.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

V.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.