Das Verkehrslexikon

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OLG Karlsruhe Beschluss vom 20.12.2017 - 2 Rv 7 Ss 558/17- Umtausch eines auf einer Fälschung beruhenden EU-Führerscheins

OLG Karlsruhe v. 20.12.2017: Vorabentscheidungsersuchen betreffend die Anerkennung eines auf einer früheren Fälschung beruhenden EU-Führerscheins


Das OLG Karlsruhe (Beschluss vom 20.12.2017 - 2 Rv 7 Ss 558/17) hat entschieden:
Besteht die Anerkennungspflicht nach Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (Amtsblatt Nummer L 403/18 vom 30. Dezember 2006) - Dritte Führerschein-Richtlinie (im Folgenden: FS-RL) - auch nach dem ohne Fahreignungsprüfung erfolgten Umtausch eines Führerscheins durch ei-nen Mitgliedsstaat der Europäischen Union, wenn der vorherige Führerschein nicht der Anerkennungspflicht unterliegt (hier: der vorherige von einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union ausgestellte Führerschein beruhte seinerseits auf dem Umtausch eines Führerscheins eines Drittstaats, Artikel 11 Absatz 6 Satz 3 FS-RL)?


Siehe auch EU-Führerschein - Fahren ohne Fahrerlaubnis und Stichwörter zum Thema EU-Führerschein


Gründe:


1. Das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Artikel 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union betrifft die Auslegung von Artikel 11 Absatz 1 und Absatz 6 Satz 3 FS-​RL und des Verhältnisses dieser Vorschriften zueinander und zu Artikel 2 Absatz 1 FS-​RL.

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines schwebenden Strafverfahrens gegen den in der Bundesrepublik Deutschland wohnhaften deutschen Staatsangehörigen M (im Folgenden: der Angeklagte), mit dem das vorlegende Gericht letztinstanzlich befasst ist.

Sachverhalt und Verfahrensgang

3. Das Amtsgericht Bad Säckingen verurteilte den Angeklagten am 24. April 2017 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 21 Absatz 1 Nummer 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl. I Seite 310, berichtigt Seite 919) zu der Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 40 Euro.

4. § 21 Absatz 1 Nummer 1 StVG, soweit er für die Entscheidung Bedeutung hat, lautet:
Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer [...] ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat

[...].
5. Ohne dass dies für die Entscheidung von Bedeutung ist, aber zum besseren Verständnis wird darauf hingewiesen, dass im deutschen Recht zwischen der Fahrerlaubnis als der behördlichen Erlaubnis, Kraftfahrzeuge einer bestimmten Klasse im öffentlichen Straßenverkehr zu führen, und dem Führerschein als der Urkunde, die die Fahrerlaubnis dokumentiert, unterschieden wird.

6. Der amtsgerichtlichen Verurteilung liegt folgender - auch für das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht maßgeblicher - Sachverhalt zugrunde:

7. Der Angeklagte befuhr am 1. September 2015 mit seinem Personenkraftwagen eine öffentliche Straße in L (Baden), wobei er in einen Unfall verwickelt wurde.

8. Dem Angeklagten wurde 2006 in Deutschland die Fahrerlaubnis entzogen. Eine deutsche Fahrerlaubnis ist ihm seither nicht mehr erteilt worden.

9. Er ist im Besitz eines polnischen Führerscheins, der am 1. August 2011 in Polen auf der Basis einer Umschreibung ausgestellt wurde. Dieser Führerschein wurde auf Grundlage eines ausländischen Dokuments der Republik Ungarn vom 3. November 2010 ausgestellt. Der ungarische Führerschein geht wiederum zurück auf einen russischen Führerschein aus dem Jahr 1986, der sich im Nachhinein als Fälschung herausstellte. Der Angeklagte wurde in diesem Zusammenhang in Deutschland 2012 wegen Urkundenfälschung verurteilt. Ob der Angeklagte bei der Ausstellung des ungarischen und des polnischen Führerscheins jeweils seinen Wohnsitz in dem betreffenden Land hatte, blieb ungeklärt. Nach den Erkenntnissen, die das Amtsgericht seiner Entscheidung zugrunde legte, war die Ausstellung des polnischen Führerscheins nicht mit einer Fahreignungsprüfung verbunden.

10. Der Angeklagte hat in zulässiger Weise gegen das Urteil des Amtsgerichts das Rechtsmittel der Revision eingelegt, mit der die Verletzung materiellen Rechts gerügt wird.

11. Über das Rechtsmittel hat ein Strafsenat des Oberlandesgerichts zu entscheiden, wobei die Prüfung darauf beschränkt ist, ob das Amtsgericht das materielle Recht zutreffend angewandt hat. 12. Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist ein ordentliches Rechtsmittel nicht mehr gegeben.

13. Der Angeklagte wird im Verfahren durch Rechtsanwalt Dr. S als Verteidiger vertreten. Die staatsanwaltschaftlichen Aufgaben im Revisionsverfahren nimmt die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe wahr.

14. Aus einer im Revisionsverfahren bekannt gewordenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-​Württemberg (Beschluss vom 18. Juli 2017 - 10 S 1216/17 = NJW 2017, 3673) ergibt sich, dass die zuständige Straßenverkehrsbehörde, das Landratsamt W, mit Bescheid vom 24. Februar 2017 festgestellt hat, dass die vom Angeklagten am 1. August 2011 in Polen erworbene Fahrerlaubnis (der Klassen A, B, C und T) im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland keine Fahrberechtigung begründet. Mit dem Beschluss wurde die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 9. Mai 2017, der die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids vom 24. Februar 2017 bestätigte, zurückgewiesen.




Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage und der rechtliche Rahmen

15. Die Entscheidung in der vorliegenden Rechtssache hängt davon ab, ob der polnische Führerschein den Angeklagten zum Führen von Personenkraftwagen berechtigt, obwohl dessen Ausstellung letztlich auf einen gefälschten Drittstaatenführerschein zurückgeht.

16. Während der Angeklagte die Auffassung vertritt, die polnische Fahrerlaubnis sei bis zu ihrer Aufhebung durch die polnischen Behörden gültig und auch für die anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verbindlich, ist die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe der Meinung, dass der durch die Fälschung des russischen Führerscheins begründete Mangel des ungarischen Führerscheins sich auch auf den polnischen Führerschein auswirke.

Der nationale rechtliche Rahmen

17. Die Anerkennung von Fahrerlaubnissen aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU-​Fahrerlaubnis) oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-​Fahrerlaubnis) ist in § 28 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-​Verordnung - FeV) geregelt, wobei vorliegend die vom 1. Januar 2015 bis 27. Dezember 2016 gültige Fassung vom 16. Dezember 2014 maßgeblich ist.

18. Der danach maßgebliche Wortlaut der Bestimmung - soweit für die Entscheidung von Bedeutung - ist:
§ 28 Anerkennung von Fahrerlaubnissen aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum
(1) Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-​Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz [...] in der Bundesrepublik Deutschland haben, dürfen - vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 - im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. [...]

[...]

7. [...] deren Fahrerlaubnis aufgrund eines gefälschten Führerscheins eines Drittstaates erteilt wurde,
19. Nach der Auffassung des vorlegenden Gerichts, die auch vom Verwaltungsgerichtshof Baden-​Württemberg in seinem Beschluss vom 18. Juli 2017 geteilt wird, ist § 28 Absatz 4 Nummer 7 FeV nach seinem Wortlaut und dem sich aus der Entstehungsgeschichte ergebenden Normzweck dahin auszulegen, dass die Anwendung nicht auf den erstmaligen Umtausch des Führerscheins eines Drittstaates beschränkt ist. Mit der Vorschrift sollte dem Führerscheintourismus und den sich aus der Umtauschmöglichkeit ergebenden Missbräuchen - im Rahmen der sich aus der FS-​RL ergebenden Anerkennungspflicht für EU-Fahrerlaubnisse, die aufgrund einer Fahreignungsprüfung ausgestellt wurden (Erwägungsgründe 8 und 9 sowie Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a FS-​RL) - begegnet werden (Bundesrat Drucksache 245/12 Seite 1 und 24). Die Wendung „aufgrund“ bringt danach zum Ausdruck, dass der (gefälschte) Drittstaatenführerschein die (entscheidende) Grundlage des neu ausgestellten Führerscheins sein muss. Diese Verknüpfung besteht aber auch bei dem späteren Umtausch der durch die Vorlage eines gefälschten Drittstaatenführerscheins erworbenen EU- oder EWR-​Fahrerlaubnis, mit dem nicht - auf der Grundlage einer Fahreignungsprüfung - eine neue Fahrerlaubnis erteilt, sondern nur die bestehende Fahrerlaubnis umgeschrieben wird.

20. Auf der Grundlage von § 28 Absatz 4 Nummer 7 FeV berechtigte die polnische Fahrerlaubnis den Angeklagten danach nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen, weil auch der in Polen ohne Fahreignungsprüfung erfolgte Umtausch des ungarischen Führerscheins - wie dieser - aufgrund des gefälschten russischen Führerscheins erfolgte.

Der europarechtliche Rahmen und die Vorlagefrage

21. Für das vorlegende Gericht stellt sich jedoch die Frage, ob die vorstehend geschilderte Auslegung des nationalen Rechts mit den Vorgaben des europäischen Rechts durch die FS-​RL vereinbar ist.

22. § 28 Absatz 4 Nummer 7 FeV setzt die durch Artikel 11 Absatz 6 Satz 3 FS-​RL eingeräumte Möglichkeit in nationales Recht um, den durch Umtausch eines von einem Drittland ausgestellten Führerscheins erworbenen Führerschein eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Union nicht anzuerkennen - allerdings nur teilweise, weil nur der Umtausch aufgrund gefälschter Drittstaatenführerscheine von der Anerkennung ausgenommen wird.

23. Ob die Befreiung von der Anerkennungspflicht gemäß Artikel 2 Absatz 1 FS-​RL jedoch auch beim weiteren Umtausch des durch Umtausch eines Drittstaatenführerscheins erlangten Führerscheins durch einen weiteren Mitgliedsstaat der Europäischen Union gilt, ist auf der Grundlage der FS-​RL nicht eindeutig zu beurteilen.

24. Obwohl in der FS-​RL sprachlich zwischen Ausstellung, Ersetzung, Erneuerung und Umtausch eines Führerscheins unterschieden wird (vgl. nur Artikel 7 Absatz 5 Buchstabe c Satz 2) und die Anerkennungspflicht nach Artikel 2 Absatz 1 nur für die von den Mitgliedsstaaten ausgestellten Führerscheine angeordnet wird, sprechen Systematik und Inhalt der Vorschriften der FS-​RL gleichwohl deutlich dafür, dass die Anerkennungspflicht grundsätzlich auch nach dem Umtausch eines Führerscheins durch einen anderen Mitgliedsstaat besteht. Insbesondere wäre ansonsten die Befreiung von der Anerkennungspflicht beim Umtausch von Drittstaatenführerscheinen in Artikel 11 Absatz 6 Satz 3 überflüssig.

25. Gleichwohl spricht nach der Auffassung des vorlegenden Gerichts einiges dafür, dass mit einem Umtausch nicht ohne Weiteres die gleichen Rechtswirkungen wie mit der (Neu-​)Erteilung bzw. Ausstellung - beide Begriffe werden in der deutschen Fassung synonym verwendet, wenn in der englischen bzw. französischen Fassung einheitlich von „issue“ bzw. „délivrer“ die Rede ist (Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 7 Absatz 5 letzter Satz) - verbunden sind.

26. Nach dem Verständnis des vorlegenden Gerichts wird anders als bei der Neuerteilung eines Führerscheins (dazu Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a FS-​RL) beim Umtausch regelmäßig keine (erneute) Prüfung der Fahreignung vorgenommen, die nach der Auslegung der FS-​RL durch den EuGH maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die in Artikel 2 Absatz 1 FS-​RL normierte Anerkennungspflicht ist (Urteil vom 19. Februar 2009 - C-​321/07 = Slg 2009, I 1113 - 1116, Nummern 91 ff., mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH).

27. Jedenfalls dann, wenn - wie im Ausgangsfall - durch den umtauschenden Staat keine (erneute) Prüfung der Fahreignung erfolgt, fehlt es damit an dem rechtfertigenden Grund, dem durch den Umtausch erworbenen Führerschein selbständige Bedeutung für die Reichweite der Anerkennungspflicht zuzumessen.

28. Dafür spricht auch die Formulierung in Artikel 11 Absatz 1 Satz 1 FS-​RL, wonach das Ergebnis des Umtauschvorgangs ein „gleichwertiger“ Führerschein ist.

29. Soweit Artikel 11 Absatz 6 Satz 1 FS-​RL vorgibt, dass die Herkunft bei Umtausch eines Drittstaatenführerscheins im EG-​Muster-​Führerschein, vor allem auch bei späterer Ersetzung oder Erneuerung, zu vermerken ist, lässt sich dies nach der Auffassung des vorlegenden Gerichts ebenfalls dahin interpretieren, dass die Drittstaatenherkunft deshalb dokumentiert werden soll, weil sie im Hinblick auf die in Artikel 11 Absatz 6 Satz 3 FS-​RL normierte Ausnahme von der Anerkennungspflicht auch bei einem weiteren Umtausch von Bedeutung bleibt.

30. Da die so vorgenommene Auslegung des Unionsrechts aber nicht derart offenkundig ist, dass sie keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel lässt, und nach Kenntnis des vorlegenden Gerichts auch noch nicht Gegenstand einer Entscheidung durch den EuGH war, wird die Sache dem EuGH zur Beantwortung der eingangs (unter 1.) formulierten Frage vorgelegt.