Das Verkehrslexikon
Amtsgericht Essen Urteil vom 02.05.2007 - 20 C 89/0 - Keine Bindung der Haftpflichtversicherung an die Einwände des Versicherungsnehmers
AG Essen v. 02.05.2007: Zum Umfang des Ermessens des eigenen Haftpflichtversichers bei der Unfallschadenregulierung
Das Amtsgericht Essen (Urteil vom 02.05.2007 - 20 C 89/07) hat entschieden:
Da die Versicherung in eigener Regie über die Frage der Regulierung zu entscheiden hatte, hat sie die Einwendungen des Versicherungsnehmers zur Frage der Schadensersatzpflicht zwar zur Kenntnis zu nehmen, aber sodann im Rahmen ihres Ermessensspielraums nach geeigneter Vorermittlung selbständig über die Befriedigung der an sie gerichteten Ansprüche zu befinden. Unter diesen Umständen verletzt der Versicherer bei der Entscheidung, den Schaden zu regulieren, seine Pflichten gegenüber dem Versicherungsnehmer nur dann, wenn er offensichtlich unbegründete Ansprüche, die leicht nachweisbar unbegründet sind, und ohne weiteres abzuwehren wären, reguliert oder den Geschädigten ohne Prüfung der Sachlage “auf gut Glück” befriedigt.
Siehe auch Regulierungsvollmacht und Regulierungsermessen der eigenen Haftpflichtversicherung bei der Abwicklung gegnerischer Schadensersatzansprüche und Stichwörter zum Thema Kfz-Versicherung
Zum Sachverhalt: Der Kläger war mit seinem Pkw Opel Astra - amtliches Kennzeichen - … - bei der Beklagten kraftfahrzeughaftpflichtversichert. Am 21.08.06 war er mit dem versicherten Fahrzeug in einen Verkehrsunfall verwickelt. Beim Wechsel von der rechten auf die linke Fahrspur berührte das versicherte Fahrzeug mit der hinteren linken Seite den auf die Firma J GmbH zugelassenen und von dem Fahrer L geführten Pkw Opel Zafira mit dem amtlichen Kennzeichen …. An dem Pkw ist als deutlich sichtbares Berührungszeichen der auf dem Lichtbild in der Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 30.03.07 dokumentierte Wischschaden (Abrieb) verblieben. Die Parteien streiten darüber, ob an dem gegnerischen Fahrzeug unfallbedingt die in dem Lichtbild aus der Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 30.03.07 festgehaltenen Schäden am Radlaufbogen vorne rechts und am Scheinwerfer entstanden sind.
Die Unfallgegnerin machte gegenüber der Beklagten unter Vorlage des der Anlage zur Klageschrift zu entnehmenden Gutachtens des Sachverständigenbüro Hans vom 28.08.06 Reparaturkosten in Höhe von 1 595,35 EUR brutto geltend. Der Kläger gab gegenüber der Beklagten seine Version der Unfallschilderung mit Schreiben vom 28.10.06 ab. Die Beklagte holte das Kurzgutachten des Verkehrsanalytikers Dipl.-Ing. X ein, der zu dem Ergebnis kam, dass der Schaden an dem Fahrzeug der Unfallgegnerin von dem Fahrzeug des Klägers bei dem Vorfall vom 21.08.06 stammen kann. Mit Schreiben vom 20.11.06 brachte sie dem Kläger dieses Gutachten zur Kenntnis. Sodann regulierte sie den Schaden und erteilte die der Anlage Kläger 4 zu entnehmende Beitragsrechnung, wonach der Versicherungsvertrag des Klägers von der Schadensfreiheitsklasse 4 (60 %) in die Schadensfreiheitsklasse 2 (85 %) zurückgestuft wurde. Auf weitere Einwände des Klägers reagierte die Beklagte, in dem sie den Verkehrsanalytiker Dipl.-Ing. X erneut einschaltete. Der Sachverständige verblieb bei seiner Meinung, dass das Fahrzeug der Unfallgegnerin bei dem Vorfall vom 21.08.06 durchaus beschädigt worden sein konnte, wenn in die Überlegung einbezogen wird, dass sich die Front des gegnerischen Pkw bremsbedingt absenkte. Über das Ergebnis der Stellungnahme des Sachverständigen X erhielt der Kläger mit Schreiben vom 11.12.06 Nachricht.
Der Kläger nimmt die vorgenommene Rückstufung nicht hin. Er meint, die Beklagte habe pflichtwidrig eine falsche Schadensausgleichung vorgenommen. Hierzu behauptet er:
Das gegnerische Fahrzeug sei durch den Unfall nicht beschädigt worden. Die vorhandenen Schäden müssten bei früherer Gelegenheit entstanden sein. Sie entsprächen in ihrer Höhe nicht den wesentlich tiefer liegenden Schäden an seinem eigenen Pkw. Hierbei sei ferner zu berücksichtigen, dass der Stoßfänger des Pkw Opel Zafira wulstartig ca. 2 cm hervortrete, während die Fläche in Höhe des Scheinwerfers um eben diesen Abstand zurückspringe, so dass es technisch gar nicht möglich sei, dass die tiefer gelegene Stelle betroffen sei.
Die Klage blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Die Klage dürfte zu weit formuliert sein, soweit die Beklagte verpflichtet wird, den Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrag des Klägers rückwirkend ab dem 21.08.06 wieder in die Schadensfreiheitsklasse SF 4 einzugruppieren. Dies würde bedeuten, dass die Beklagte alle späteren Ereignisse nach dem 21.08.06, die zu einer Höherstufung führen könnten, nicht berücksichtigen dürfte. Zutreffend hätte die Klägerin den Antrag stellen müssen, festzustellen, dass der Vorfall vom 21.08.06 kein zur Höherstufung führender Versicherungsfall ist.
Aber auch unter Berücksichtigung einer solchen Auslegung des Klageantrages (§ 133 BGB analog) ist die Klage unbegründet.
Denn die Beklagte hat den Versicherungsfall reguliert, so dass sie zur Höherstufung der Schadensfreiheitsklasse und zur Rückstufung des Beitragssatzes berechtigt war. Gemäss § 3 Nummer 10 PflVG muss der Versicherungsnehmer - die Schadensfeststellung des Versicherers gegenüber dem Dritten gegen sich gelten lassen. Dies bedeutet, dass der Kläger im Verhältnis zu der Beklagten grundsätzlich nicht geltend machen darf, es liege kein Versicherungsfall vor oder der Versicherungsfall sei nicht so eingetreten, wie ihn die Versicherung festgestellt habe.
Anders liegt der Fall gemäss § 3 Nummer 10 Satz 1, letzte Alternative PflVG nur dann, wenn dem Versicherer ein Regulierungsverschulden gemäss § 280 Absatz 1 zur Last fällt, weshalb der Versicherungsnehmer nachzuweisen hat, dass der Versicherer die Pflicht zur Abwehr unbegründeter Entschädigungsansprüche schuldhaft verletzt hat.
Eine solche Pflichtverletzung der Beklagten hat der Kläger nicht dargetan. Weil die Beklagte dem Direktanspruch des Unfallgegners nach § 3 Nummer 1 PflVG ausgesetzt ist, hat sie selbständig darüber zu entscheiden, ob sie sich verklagen lassen will, oder ob sie zur Regulierung schreitet. Keineswegs ist sie gehalten, die Regulierung deshalb zu verweigern, weil ihr Versicherungsnehmer eine Schadensersatzpflicht von vornherein bestreitet (Knappmann in Prölss/Martin, VVG, 27. Auflage 2004, § 10 AKB Randnummer 32). Da sie in eigener Regie über die Frage der Regulierung zu entscheiden hatte, hat sie die Einwendungen des Versicherungsnehmers zur Frage der Schadensersatzpflicht zwar zur Kenntnis zu nehmen, aber sodann im Rahmen ihres Ermessensspielraums nach geeigneter Vorermittlung selbständig über die Befriedigung der an sie gerichteten Ansprüche zu befinden. Unter diesen Umständen verletzt der Versicherer bei der Entscheidung, den Schaden zu regulieren, seine Pflichten gegenüber dem Versicherungsnehmer nur dann, wenn er offensichtlich unbegründete Ansprüche, die leicht nachweisbar unbegründet sind, und ohne weiteres abzuwehren wären, reguliert oder den Geschädigten ohne Prüfung der Sachlage “auf gut Glück” befriedigt (BGH VersR 1981, 180; Knappmann, a.a.O., § 10 AKB, Randnummer 32). Entscheidend für das Regulierungsverhalten des Versicherers ist hierbei sein Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Regulierung, wobei ihm allerdings ein Ermessensspielraum eingeräumt werden muss, der so weit geht, dass der Versicherer auch dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie den Vorrang gegen darf (Knappmann, a.a.O., § 10 AKB, Randnummer 32). Dies bedeutet gleichzeitig, dass es dem Gericht nicht erlaubt ist, ein eigenes Sachverständigengutachten einzuholen, um auf diese Weise neue und weitere Erkenntnisse zu erlangen, die den damaligen Kenntnisstand des Versicherers überholen.
Im vorliegenden Fall ist der Beklagten ein Regulierungsverschulden nicht vorzuwerfen. Sie hat sorgfältig recherchiert und sodann eine nachvollziehbare Entscheidung zur Regulierung getroffen. Die Sorgfältigkeit bei ihrer Recherche ergibt sich daraus, dass sie den Kläger vor der Regulierung angehört hat und seine Einwände gegen den Schadensausgleich ernst genommen hat. Sie hat nämlich einen Sachverständigen - den Verkehrsanalytiker Dipl.-Ing. X - um eine Verkehrsunfallanalyse ersucht und ihm hierbei die Einwände des Klägers bekannt gegeben. Zu weiteren Ermittlungen gab es keine Anhaltspunkte. Dass sich der Kläger mit dem Ermittlungsergebnis nicht zufrieden gab, bedeutet nicht, dass die Beklagte zu solchen weiteren Ermittlungen - etwa zur kostspieligen Einholung weiterer Gutachten - genötigt war. Der Sachverständige Dipl.-Ing. X ist vielmehr auf die Einwände des Klägers vollständig eingegangen und hat sie widerlegt. Die Ausführungen des Sachverständigen sind nachvollziehbar und lassen erkennen, dass es die vom Kläger in Frage gestellten Kontaktstellen durchaus geben kann, wenn sich die Front des gegnerischen Fahrzeuges infolge eines von dem Kläger gar nicht bestrittenen Bremsmanöver abgesenkt hat. Der Sachverständige X hat den möglichen Kontakt der Fahrzeuge nachträglich noch einmal zeichnerisch dargestellt, wobei er deutlich gemacht hat, dass beim Eintauchen des Fahrzeuges der Unfallgegnerin durch Abbremsen eine Absenkung von ca. 8 cm entsteht, so dass die betroffenen Fahrzeugflächen in Kontakt zueinander gestanden haben können, wobei es sodann wegen der bestehenden Differenzgeschwindigkeit zu der schrammenden Beschädigung gekommen sein kann.
Wenn die Klägerin nach den angestellten Anhörungen und Recherchen die Entscheidung zur Schadensregulierung getroffen hat, ist dies nicht zu beanstanden. Die Klägerin musste besorgen, dass sie von dem Unfallgeschädigten in Anspruch genommen würde, dass sodann im Rahmen des Unfallprozesses ein Gutachten eingeholt werden würde und dass dieses Gutachten die Überlegungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. X aufgreifen würde. Die Wahrscheinlichkeit, im kommenden Rechtsstreit zu obsiegen, war unter Berücksichtigung der Prognose des Sachverständigen Dipl.-Ing. X gering. Hierbei ist ferner zu berücksichtigen, dass zu erwarten war, dass die Geschädigte, nachdem sie die Schäden an der vorderen rechten Fahrzeugseite auf den Vorfall vom 21.08.06 zurückgeführt hatte, ohne Schwierigkeiten auch Zeugen dafür benennen würde, die angeben, dass das Fahrzeug zuvor unbeschädigt war. Der Kläger selbst hätte der Beklagten als Zeuge nicht zur Verfügung gestanden, da er aller Voraussicht nach als Gesamtschuldner neben ihr - der Beklagten - auf Ersatz des Schadens verklagt worden wäre. Bei einer solch ungünstigen Ausgangslage war es in jeder Hinsicht - auch aus dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie - vertretbar, wenn die Beklagte von der Überlegung, in einen Rechtsstreit einzutreten, Abstand nahm und stattdessen die Regulierung vornahm. ..."