Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 22.02.2000 - VI ZR 92/99 - Bei Dunkelheit darf zur Überprüfung der erforderlichen Überholstrecke kurz das Fernlicht benutzt werden. Eine Überholgeschwindigkeit von 80 km/h bei Abblendlicht ist zu hoch

BGH v. 22.02.2000: Bei Dunkelheit darf zur Überprüfung der erforderlichen Überholstrecke kurz das Fernlicht benutzt werden. Eine Überholgeschwindigkeit von 80 km/h bei Abblendlicht ist zu hoch.


Der BGH (Urteil vom 22.02.2000 - VI ZR 92/99) hat zur Einhaltung des Sichtfahrgebots und zur kurzfristigen Benutzung des Fernlichts beim Überholen in der Dunkelheit entschieden:
Aus einer Gesamtschau der StVO §§ 3 Abs 1, 5 Abs 2 folgt, dass sich der Überholende zu Beginn des Überholvorgangs vergewissern muss, dass ihm der benötigte Überholweg hindernisfrei zur Verfügung steht.


Siehe auch Fahren auf Sicht - Sichtfahrgebot - Auffahren auf Hindernisse und Auffahren auf unbeleuchtete Hindernisse oder Fahrzeuge bei Dunkelheit


Zum Sachverhalt: Der Kläger erlitt erhebliche Verletzungen, als er am 18. Juni 1994 zwischen 22.35 und 22.55 Uhr mit seinem Leichtkraftrad auf der zweispurigen B 240 zwischen H. und D. mit dem entgegenkommenden, von L. gesteuerten und bei dem Beklagten haftpflichtversicherten Pkw zusammenprallte. L. war gerade im Begriff, auf der Gegenfahrbahn mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h den vor ihm fahrenden Pkw der Zeugin A. zu überholen. Er hatte während des Überholvorgangs Abblendlicht eingeschaltet. Das Fahrzeug des Klägers war vorn unbeleuchtet; es war bei Beginn des Überholmanövers 120 m von L. entfernt.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... sind die Gründe, mit denen das Berufungsgericht eine unfallursächliche schuldhafte Verletzung der Verhaltenspflichten des L. im Straßenverkehr und damit dem Grunde nach eine Haftung des Beklagten aus §§ 823, 847 BGB, § 3 PflVG verneint hat, von ergebnisrelevanten Rechtsfehlern beeinflusst.

a) Der Senat teilt nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, nach der das Fahrverhalten des L. nicht an den Postulaten der §§ 3 Abs. 1 Satz 2, 5 Abs. 2 Satz 1 StVO zu messen sei, weil sich der Kläger in dem Zeitpunkt, als L. zum Überholen angesetzt habe, außerhalb der Schutzbereiche dieser Vorschriften bewegt habe. Vielmehr lässt sich nach Auffassung des Senats diesen Vorschriften bei einer Gesamtschau eine Aussage des Inhalts entnehmen, dass ein Fahrzeugführer nur dann überholen darf, wenn er sich zuvor vergewissert hat, dass ihm der benötigte Überholweg hindernisfrei zur Verfügung steht. Aus seiner Zweckbestimmung, die mit einem Überholvorgang verbundenen spezifischen Gefahren auszuschließen, folgt, dass dieses Gebot jedes Hindernis erfasst. Dieser Bestimmung des Schutzzwecks steht das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22. Dezember 1961 (4 StR 365/61 - VRS 22, 137, 139) nicht entgegen; dort ging es nicht um die Frage, welchen Sorgfaltsanforderungen der Überholende genügen muss. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts fällt damit der Kläger unabhängig davon, dass das Frontlicht seines Kraftrades nicht brannte, in den Schutzbereich dieses Gebots.

Der Fahrer L. hat dieses Gebot schuldhaft verletzt, als er mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h mit Abblendlicht zum Überholen ansetzte. Er konnte unter diesen Umständen nicht übersehen, dass ihm der benötigte Überholweg hindernisfrei zur Verfügung stand. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hätte er mit Abblendlicht höchstens mit einer Geschwindigkeit von 55 km/h fahren dürfen, um auf ein Hindernis auf seiner Fahrbahn noch rechtzeitig reagieren zu können. Damit hätte L. nach den Umständen, mit denen er sich konfrontiert sah - einer für erforderlich gehaltenen Überholgeschwindigkeit von 80 km/h einerseits und einer durch das Abblendlicht begrenzten Sichtweite andererseits - von der Durchführung des Überholvorgangs absehen müssen.

Dies bedeutet, dass die Unfallverletzungen, auf die der Kläger seine Schadensersatzansprüche stützt, mit auf einem schuldhaften Fahrfehler des L. beruhen. Der Senat hat deshalb das Berufungsurteil aufgehoben, um dem Berufungsgericht Gelegenheit zu geben, diesen Sorgfaltsverstoß in die Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge einzubeziehen.

b) Bei dieser Sachlage stellt sich nicht mehr die Frage, ob L. die Zeugin A. mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h hätte überholen dürfen, wenn er - sei es auch nur kurz - das Fernlicht eingeschaltet hätte. Hierzu beschränkt sich der Senat auf folgende Bemerkungen:

Im Schrifttum wird vereinzelt die Meinung vertreten, das Blendverbot des § 17 Abs. 2 Satz 3 StVO stehe der Betätigung des Fernlichts beim Überholen entgegen (vgl. Booß, Straßenverkehrs-Ordnung, 3. Aufl. § 17 Anm. 2). Auf der anderen Seite findet sich die Auffassung, das Sichtfahrgebot verlange, beim zügigen Überholen das Fernlicht einzuschalten, wenn der Überholende sonst die zum Anhalten benötigte Strecke nicht überblicken kann; der Überholte müsse die für ihn damit verbundene Blendwirkung hinnehmen (vgl. OLG Hamm, VRS 20, 297, 298 und DAR 1970, 132, 133; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., § 17 StVO Rdn. 23; Mähl, DAR 1970, 233; Mühlhaus/Janiszewski, Straßenverkehrs-Ordnung, 15. Aufl., § 17 Rdn. 8 b). Nach einer vermittelnden Auffassung ist es dem Überholenden gestattet, sich durch ein kurzes Einschalten des Fernlichts zu Beginn des Überholvorgangs einen Überblick über den benötigten Überholweg zu verschaffen, bis er wieder aufblenden kann, sobald beide Fahrzeuge auf gleicher Höhe sind (vgl. Drees/Kuckuck/Werny, Straßenverkehrsrecht, § 17 StVO Rdn. 9; Maase, DAR 1961, 9, 10; Jäger in Heidelberger Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, § 17 StVO Rdn. 25). Mit Blick auf § 5 Abs. 5 StVO, wonach außerhalb geschlossener Ortschaften dann, wenn entgegenkommende Fahrzeugführer nicht geblendet werden, das Überholen auch durch ein kurzes Blinken mit Fernlicht angezeigt werden darf, neigt der Senat der letztgenannten Auffassung zu. Dies unter der Voraussetzung, dass ein kurzes Aufblinken nach den örtlichen Verhältnissen einen ausreichend sicheren Überblick über die Überholstrecke erwarten lässt. ..."



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