Das Verkehrslexikon
Zur Zumutbarkeit einer nicht fachgebundenen Reparaturwerkstatt bei fiktiver Schadensabrechnung
Zur Höhe der dem Geschädigten bei fiktiver Schadensabrechnung zustehenden Werkstatt-Stundenverrechnungssätze
Solange das Fahrzeug nicht repariert ist bzw. wenn der Geschädigte die sog. fiktive Schadensabrechnung ("auf Gutachtenbasis") wählt, steht kein konkreter Stundenverrechnungssatz einer beauftragten Werkstatt fest. Sachverständige setzen in ihren Gutachten unterschiedliche Sätze an, z. B. die höheren Sätze einer Vertragswerkstatt oder durchschnittliche örtliche Sätze, wobei dann auch nicht werksgebundene, freie Werkstätten mit ihren niedrigeren Sätzen in die Berechnung einfließen.
Für die Regulierung der Ansprüche des Geschädigten ist also fraglich, welchen Stundenverrechnungssatz er bei fiktiver Schadensabwicklung verlangen kann.
Siehe auch Stundenlohnsätze - Stundenverrechnungssätze einer Fachwerkstatt und Einzelne Schadenspositionen in der Unfallregulierung
Die Rechtsprechung zu dieser Frage ist vollkommen uneinheitlich; teilweise wird die Auffassung vertreten, dass der Geschädigte Anspruch auf die Stundensätze habe, die eine markengebundene Fachwerkstatt verlangt; teils werden die Preise sog. freier oder Fachwerkstätten zugrundegelegt; eine Reihe von Urteilen billigt dem Geschädigten nur den Ersatz sog. mittlerer Stundensätze zu. Schließlich gibt es vereinzelt auch Entscheidungen, in denen dem Geschädigten lediglich die jeweils niedrigsten örtlichen Sätze zugesprochen wurden, solange er nicht konkret repariert.
Wird die Reparatur in einer Werkstatt nach freier Wahl des Geschädigten durchgeführt, dann sind in der Regel auch die konkret entstandenen Kosten zu ersetzen, obwohl auch dies in Einzelfällen bezweifelt wurde, z. B. wenn der Geschädigte sein Fahrzeug vor dem Unfall regelmäßig nur in Billigwerkstätten pflegen oder reparieren ließ, nach einem Unfall mit einem ersatzpflichtigen Schädiger dann aber plötzlich eine teure markengebundene Fachwerkstatt beauftragte.
Rechtsprechung: Der Geschädigte hat bei Abrechnung der Reparaturkosten auf Gutachtenbasis lediglich Anspruch auf Erstattung der durchschnittlichen örtlichen Verrechnungssätze
Wenn bei einem Reparaturschaden nach Gutachten abgerechnet wird (also ohne Vorlage einer Rechnung einer Fachwerkstatt), dann darf der Ersatzpflichtige durchaus ortsübliche Lohnstundensätze zugrundelegen, auch wenn im Gutachten vom Sachverständigen Stundensätze angesetzt wurden, die darüber liegen.
Es ist sogar ausdrücklich entschieden worden:
"Bei fiktiver Reparaturkostenabrechnung (d.h. wenn nach dem SV-Gutachten abgerechnet werden soll) muss sich der Geschädigte mit der preisgünstigsten Kostenabrechnung begnügen." (KG Urt. v. 20.12.93 - 12 U 5205/91; AG Mitte Urt. v. 14.04.94 - 107 C 47/94).
Der Geschädigte hat somit bei Abrechnung der Reparaturkosten auf Gutachtenbasis lediglich Anspruch auf Erstattung der durchschnittlichen örtlichen Verrechnungssätze, vgl. AG Mitte Urt. v. 10.03.1997 - 113 C 608/96 - und Urt. v. 12.07.1999 - 113 C 487/98 -.
Rechtsprechung: Dem Geschädigten stehen bei fiktiver Abrechnung lediglich mittlere oder sogar nur niedrigste Stundenverrechnungssätze zu
Für den Ersatz lediglich sog. mittlerer Stundensätze (also unter Einbeziehung auch von Billigwerkstätten bei der Durchschnittsbildung) haben sich ausgesprochen: LG Berlin SP 1995, 78; OLG Hamm DAR 1996, 400; AG Pforzheim DAR 1996, 501; AG Stuttgart (44 C 2940/96 + 41 C 1734/97 + 40 C 7088/98); AG Frankfurt (Oder) SP 1997, 106; AG Gießen zfs 1998, 51; AG Mönchengladbach SP 1997, 161.
Das AG München zfs 1988, 311 ging sogar soweit, dem Geschädigten bei fiktiver Abrechnung lediglich den jeweils niedrigsten Stundensatz zuzubilligen.
Das AG Dortmund NZV 2006, 92 (Urt. v. 07.06.2005 - 121 C 909/05) hat für den Fall fiktiver Schadensabrechnung den Geschädigten für verpflichtet gehalten, den Stundensatz einer nachgewiesenen - niedriger berechnenden - Werkstatt zu Grunde zu legen.
Rechtsprechung: Bei der Abrechnung eines Schadens auf Gutachtenbasis ist der durchschnittliche Stundensatz einer Vertragswerkstatt zugrundezulegen und nicht auf mittlere Stundensätze freier Werkstätten abzustellen
Der Geschädigte hat nicht nur Anspruch auf Werkstatt-(Lohn-)Kosten auf dem untersten Level, es sind ihm vielmehr die sachverständigerseits oder sonst belegten Kosten einer regionalen Fachwerkstatt zu erstatten. So hat z.B. das AG Charlottenburg (Urt. v. 08.11.88 - AZ: 207 C 136/88) ausdrücklich festgestellt:
"Das Gericht vermag sich der Auffassung der Beklagten, dass ein Geschädigter bei Abrechnung auf Gutachtenbasis lediglich die durchschnittlich ... in Rechnung gestellten Stundenlohnsätze beanspruchen könne, nicht anzuschließen. Der geschädigte Fahrzeugeigentümer kann auf Kosten des Schädigers eine ordnungsgemäße und sachgerechte Schadensbeseitigung in einer anerkannten Fachwerkstatt seiner Wahl durchführen lassen und bei fiktiver Schadensabrechnung auf der Basis eines Kostenvoranschlages bzw. eines Sachverständigengutachtens Erstattung der Reparaturkosten verlangen, die ihm üblicherweise in einer Fachwerkstatt in Rechnung gestellt worden wären. Auf den hiernach ermittelten Schadensumfang hat es nach Auffassung des Gerichts keinerlei Einfluss mehr, ob der Geschädigte nun tatsächlich eine Fachwerkstatt mit der völligen Schadensbeseitigung beauftragt, er lediglich eine Teil-Instandsetzung möglicherweise sogar in Eigenarbeit vornimmt oder er von einer Reparatur gänzlich absieht."
Auch das AG Augsburg DAR 1995, 163 f. hat entschieden:
"Bei der Abrechnung eines Schadens auf Gutachtenbasis ist der durchschnittliche Stundensatz einer Vertragswerkstatt zugrundezulegen und nicht auf mittlere Stundensätze freier Werkstätten abzustellen."
Ebenso hat das AG Warensdorf (Urteil v. 24.03.95 - 10 C 37/95 - abgedruckt in Mitteilungsblatt 2/96 der ARGE Verkehrsrecht im DAV) geurteilt:
"Dem Gutachten sind die Reparaturkosten nach den Stundenverrechnungssätzen einer Fachwerkstatt ... zugrundezulegen ...
Soweit die Beklagte behauptet, der Kläger habe nur Anspruch auf Erstattung von "Durchschnittskosten", so kann das Gericht ihr darin nicht folgen. Der Kläger hat das Recht, den Pkw in einer Fachwerkstatt seiner Wahl reparieren zu lassen. ..."
Rechtsprechung: Dem Geschädigten stehen bei fiktiver Schadensabrechnung die Stundenverrechnungssätze einer Fachwerkstatt zu
Für den Ersatz der in einer markengebundenen Fachwerkstatt regelmäßig anfallenden Stundensätze haben sich ausgesprochen: BGH NJW 1992, 1618 ("Kundendienstwerkstatt"); AG Bochum zfs 1992, 300 und SP 1993, 323 sowie SP 1995, 41; AG Königswinter zfs 1995, 55; AG Langen zfs 1995, 174; AG Warendorf ARGE Mitt. 1996, 43; AG Clausthal-Zellerfeld SP 1997, 259; AG Gelsenkirchen zfs 1998, 53; AG Neuss SP 1997, 397; AG Mosbach zfs 1997, 415; AG Saarlouis zfs 1997, 95; AG Hamburg DAR 1996, 410; AG Augsburg DAR 1995, 163; AG Aachen (8 C 185/97); AG Dinslaken (9 C 14/98).
Dass dem Geschädigten die Stundensätze einer Fachwerkstatt zustehen, haben das AG Köln r+s 1993, 103 und SP 1993, 176; das AG Celle SP 1993, 323 sowie das AG München (Urt. v. 0.06.2006 - 343 C 34380/05); das LG Trier (Urt. v. 20.09.2005 - 1 S 112/05) und auch das LG Bochum ZfSch 2006, 205 ff. (Urt. v. 09.09.2005 - 5 S 79/05) entschieden.
Leider hat das sog. Porsche-Urteil des BGH vom 29.04.2003 - VI ZR 398/02 - (NJW 2003, 2086 ff. = NZV 2003, 372 ff. = VRS 105, 244 ff.) nicht zu einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung der Instanzgerichte geführt, weil zwar der BGH dem Geschädigten grundsätzlich einen Anspruch auf die Erstattung von Stundensätzen markengebundener Fachwerkstätten zusprach, andererseits jedoch ausführte:
"... kann dem Berufungsgericht vom Ansatz her in der Auffassung beigetreten werden, dass der Geschädigte, der mühelos eine ohne weiteres zugängliche, günstigere und gleichwertige Reparaturmöglichkeit hat, sich auf diese verweisen lassen muss."
Dies hatte zur Folge, dass die Versicherungen immer wieder versuchen, durch den Nachweis preiswerterer Werkstätten niedrigere Stundensätze durchzusetzen, und zwar teilweise auch mit Erfolg bei den Gerichten.
So hat zum Beispiel das LG Berlin (Urt. v. 21.06.2006 - 58 S 75/06) ausgesprochen:
Wird dem Geschädigten vom Schädiger bzw. von dessen Versicherung eine preisgünstigere Werkstatt in einer Entfernung von nur 3 km nachgewiesen, in der eine qualitativ gleichwertige Reparatur mit Originalersatzteilen möglich ist, dann kann er bei fiktiver Abrechnung nicht die Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt verlangen.
Mit Urteil vom 10.04.2007 hat das AG Hamm (17 C 409/06) sich ebenfalls für den fiktiven Ersatz von Stundensätzen einer markengebundenen Fachwerkstatt ausgesprochen.
Neuere Rechtsprechung des BGH:
Der BGH billigt im Grundsatz dem Geschädigten das Recht zu, die vom Sachverständigen im Gutachten festgestellten Stundensätze seiner Abrechnung zu Grunde zu legen, auch wenn es sich dabei und Verrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt handelt.
Jedoch besteht der BGH darauf, dass es dem Schädiger auch möglich sein muss, den Geschädigten auf seine Schadensminderungspflicht hinzuweisen und ihm in diesem Rahmen zuzumuten, eine günstigere Reparaturmöglichkeit in Anspruch nehmen zu müssen, wenn dabei bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
Beispielhaft seien hier einige Entscheidungen aus dem Jahre 2010 genannt:
- BGH v. 23.02.2010:
Der Schädiger darf den Geschädigten im Rahmen der fiktiven Schadensabrechnung unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht im Sinne des § 254 Abs. 2 BGB auf eine günstigere und vom Qualitätsstandard gleichwertige Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen "freien Fachwerkstatt" verweisen, wenn der Geschädigte keine Umstände aufzeigt, die ihm eine Reparatur außerhalb der markengebundenen Fachwerkstatt unzumutbar machen.
- BGH v. 22.06.2010:
Der Schädiger kann den Geschädigten unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht gemäß § 254 Abs. 2 BGB auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen "freien Fachwerkstatt" verweisen, wenn er darlegt und gegebenenfalls beweist, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht, und wenn er gegebenenfalls vom Geschädigten aufgezeigte Umstände widerlegt, die diesem eine Reparatur außerhalb der markengebundenen Fachwerkstatt unzumutbar machen würden.
- BGH v. 22.06.2010:
Der Schädiger kann den Geschädigten unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht gemäß § 254 Abs. 2 BGB auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen "freien Fachwerkstatt" verweisen, wenn er darlegt und gegebenenfalls beweist, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht. Unzumutbar ist eine Reparatur in einer "freien Fachwerkstatt" für den Geschädigten jedoch dann, wenn sie nur deshalb kostengünstiger ist, weil ihr nicht die marktüblichen Preise dieser Werkstatt, sondern auf vertraglichen Vereinbarungen mit dem Haftpflichtversicherer des Schädigers beruhende Sonderkonditionen zugrunde liegen.