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OLG Hamm Urteil vom 20.10.2005 - 27 U 37/05 - Lückenunfall beim Verlassen eines Grundstücks

OLG Hamm v. 20.10.2005: Zum Lückenunfall beim Verlassen eines Grundstücks


Das OLG Hamm (Urteil vom 20.10.2005 - 27 U 37/05) hat zur Anwendung der Grundsätze über den Lückenunfall an einer Tankstellenausfahrt entschieden:
  1. Fährt ein Kraftfahrer links an einer verkehrsbedingt vor einer Ampel zum Halten gekommenen Fahrzeugkolonne vorbei und überfährt er hierbei verbotswidrig eine Sperrfläche, so muss er den von rechts aus einer Grundstücksausfahrt kommenden, mit seinem Pkw in einer Lücke auf der rechten Fahrspur stehenden Verkehrsteilnehmer, der erkennbar durch die Lücke nach links einbiegen will und dabei nur nach rechts schaut, durch Schallzeichen warnen.

  2. Zur Haftungsverteilung, wenn es auf Grund einer Missachtung dieser Verpflichtung zur Kollision der Fahrzeuge kommt (hier 50:50).

Siehe auch Lückenunfälle und Unfalltypen - typische Unfallgestaltungen


Zum Sachverhalt: Der Kl. macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 30. 5. 2003 in H geltend. Er befuhr mit seinem Pkw die I-Straße in nördlicher Richtung, und zwar im Bereich einer Ein- und Ausfahrt einer Tankstelle in zweiter Reihe, weil rechts andere Fahrzeuge standen. Dabei überfuhr er eine wegen Straßenbahnschienen durch Markierungen aufgebrachte Sperrfläche. Er beabsichtigte, nach der Sperrfläche auf die Linksabbiegerspur an der folgenden Ampelkreuzung zu fahren, an der die Lichtzeichenanlage „Rot” zeigte und wo auf der rechten Geradeausspur Fahrzeuge warteten. Streitig ist, ob diese Warteschlange bis zur Tankstelle zurück reichte, oder ob dort rechts auch Fahrzeuge (verbotswidrig) parkten, und der Kl. deshalb in die zweite Reihe auswich. Jedenfalls hatten diese rechts stehenden Pkw eine Lücke an der Ein- und Ausfahrt der Tankstelle gelassen. Durch diese wollte die Bekl. zu 2) mit dem Pkw des Bekl. zu 1) von der Tankstelle nach links in südliche Richtung auf die I-Straße einbiegen. An dieser Stelle weist die Sperrfläche eine Unterbrechung auf, um ein solches Abbiegen zu erlauben. Es kam zum Zusammenstoß, bei dem im Wesentlichen der Kotflügel vorne rechts des Fahrzeugs des Kl. und die Frontpartie links des von der Bekl. zu 2) geführten Pkw beschädigt wurden.

Der Kl. hat in erster Instanz Ersatz des vollen ihm entstandenen Schadens begehrt. Das LG hat der Klage nur im Umfang eines Drittels stattgegeben. Die Berufung war teilweise erfolgreich.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Der Kl. hat gegen die Bekl. einen Anspruch auf Ersatz der Hälfte des ihm entstandenen Schadens gem. §§ 7, 17, 18 StVG, 823 I, 254 BGB, 3 I Nr. 1 PflVG.

Ein Ausschluss der Haftung eines der Bet. nach § 17 III StVG kommt ersichtlich nicht in Frage. Die demnach durchzuführende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge nach § 17 II i.V.m. I StVG ergibt, dass sie gleiches Gewicht haben und daher der hälftige Schaden zu ersetzen ist.

1. Die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Bekl. zu 2) (im Folgenden: Bekl.) ist durch ein Verschulden erheblich erhöht. Bereits der Beweis des ersten Anscheins spricht für einen Verstoß der Bekl. gegen § 10 1 StVO (vgl. nur Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. A. 2005, § 10 StVO Rdnr. 11). Er wird im vorliegenden Fall noch dadurch gestützt, dass ausweislich der Beschädigungen der Fahrzeuge die Bekl. in die Seite des Pkws des Kl. fuhr und nicht etwa der Kl. gegen den Pkw der Bekl. Ein solcher Verstoß führt angesichts der von § 10 StVO aufgestellten hohen Anforderungen an denjenigen, der aus einem Grundstück ausfährt (er muss eine Gefährdung anderer „ausschließen"), grundsätzlich zu dessen Alleinhaftung, sofern nur die einfache Betriebsgefahr des Gegners entgegensteht (Hentschel, aaO, § 17 StVG Rdnr. 18; Janiszewski/Jagow/Burmann, Straßenverkehrsrecht, 18. A. 2004, § 10 StVO Rdnr. 8).

Entgegen der Auffassung der Bekl. bestand das Vorfahrtsrecht des Kl. für die gesamte Straße und auch auf der Sperrfläche, so dass auch der Kl. durch § 10 StVO geschützt war. Das entspricht der st. Rspr. und allgemeinen Auffassung (vgl. nur Hentschel, aaO, § 8 StVO Rdnr. 30).

II. Allerdings ist auch die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs deutlich erhöht.

1. Zum einen ist dem KI. das Überfahren der Sperrfläche gefahrerhöhend anzurechnen. Soweit außer dem Gegenverkehr auch andere Verkehrsteilnehmer auf die Berücksichtigung der Sperrflächenmarkierung vertrauen dürfen und ihr Verhalten hierauf einstellen, sind auch sie in den Schutzbereich der genannten Bestimmung einbezogen (BGH, NZV 1992, 148, 150; vgl. auch Hentschel, aaO, § 41 StVO Rdnr. 248 zu Z 298; OLG Köln, NZV 1990, 72).

Das ist hier der Fall: Die Bekl. konnte grundsätzlich davon ausgehen, dass aus ihrer Sicht von links kein Fahrzeug kommen würde, weil die Sperrfläche ein Überholen der auf der rechten Seite stehenden Warteschlange nicht zuließ. Dass es sich jedenfalls unmittelbar an der Ausfahrt der Tankstelle um wartende und nicht parkende Fahrzeuge handelte, hat die Beweisaufnahme erster Instanz ergeben. Zwar enthob dieses Vertrauen die Bekl. nicht von der Pflicht, auch eine Gefährdung solcher verbotswidrig fahrender Fahrzeuge auszuschließen (s. o. I.). Es führt jedoch dazu, dass die Fahrweise des Kl. wesentlich gefahrträchtiger war als ohne eine solches Überfahren einer Sperrfläche.

2. Hinzu kommt, dass der Kl. gegen § 1 StVO verstoßen hat, weil er mit dem Verhalten der Bekl. rechnen und hierauf unfallvermeidend reagieren musste und konnte.

a) Allerdings musste der KI. nach überwiegender Auffassung nicht schon allein wegen der Lücke im haltenden Verkehr vor einer Grundstücksausfahrt besonders vorsichtig sein (Hentschel, aaO, § 10 StVO Rdnr. 9 a. E.; KG, NZV 1996, 365; 1998, 376; a.A. OLG Hamm, 9. ZS, NZV 1992, 238). Das ist anders als bei Einmündungen, weil diese wesentlich besser erkennbar sind und hier eher damit gerechnet werden muss, dass sich Verkehr aus der Einmündung nicht nur in die Lücke einfädeln, sondern diese durchfahren will.

Ob dieser Unterscheidung in dieser Weise zu folgen ist (wozu der Senat allerdings neigt), kann vorliegend offen bleiben. Denn hier bestand die Besonderheit, dass der Kl. die Bekl. wahrgenommen hatte, als sie bereits in der Lücke auf der rechten Fahrspur stand. Hiermit war für ihn erkennbar, dass sie nach links auf die Straße einbiegen wollte. Außerdem hatte er erkannt, dass die Bekl. nur nach rechts schaute. Beides hat der KI. in seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat so geschildert. Hierdurch musste sich ihm die Gefahr aufdrängen, dass die Bekl. sein Vorfahrtsrecht missachten könnte, weil er in Rechnung stellen musste, für die Bekl. überraschend aufzutauchen, da er eine Sperrfläche befuhr.

b) Deshalb musste der Kl. mit sofortiger Bremsbereitschaft fahren. Entgegen der Auffassung des LG kann aber auf Grund der bisherigen Feststellungen weder festgestellt werden, dass er das nicht getan hat, noch, dass sich ein etwaiges zu schnelles oder nicht bremsbereites Fahren unfallursächlich ausgewirkt hat. Das wäre indes notwendig, um eine etwaige Gefahrerhöhung durch dieses Verhalten in die Abwägung einstellen zu können.

Der Kl. musste aber außerdem die Bekl. durch ein Schallzeichen warnen. Wer sich oder andere konkret gefährdet sieht, darf nicht nur, sondern muss ein Warnzeichen geben, wenn sich die Gefahr anders nicht zuverlässig beseitigen lässt (Hentschel, aaO, § 16 StVO Rdnr. 8). Auf Grund der Verkehrssituation, in der die Bekl. bereits bis an die gedachte Fahrlinie des Kl. herangefahren war, konnte eine bloße vorsichtige Weiterfahrt durch den Kl. einen Zusammenstoß nicht ausschließen, weil jedes Anfahren der Bekl. sogleich zu einem Unfall führen konnte und - je nach dem Zeitpunkt des Anfahrens - für den KI. keine ausreichende Reaktionsmöglichkeit mehr verblieb. Die Gefahr drohte auch konkret, weil die Bekl. den Kl. offensichtlich nicht beachtete und darauf vertraute, dass niemand die Sperrfläche befuhr. Dieses Unterlassen einer Warnung hat den Unfall mitverursacht. Denn auf Grund der Lebenserfahrung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass ein Schallzeichen dazu geführt hätte, dass die Bekl. ihre Aufmerksamkeit nach links gerichtet hätte, bevor sie angefahren wäre, und dass sie angesichts des dann von ihr wahrgenommenen Kl. stehen geblieben wäre.

III. Die Abwägung zwischen den beiden oben näher erläuterten Verursachungsbeiträgen lässt beide gleichgewichtig erscheinen. Das unvorsichtige Ausfahren aus dem Grundstück, ohne die Gefährdung anderer auszuschließen, war grundsätzlich die Ursache, der die größte Wahrscheinlichkeit für den Zusammenstoß innewohnte. In nur geringerem Maße schadenswahrscheinlich war das Überfahren der Sperrfläche (s. o. II. 1.), weil eine gehörige Aufmerksamkeit des Gegners den Unfall gleichwohl ohne weiteres vermeiden konnte. Zusammen mit der fehlenden Warnung angesichts der bereits konkret drohenden Gefahr (s.o. Il. 2.) erreicht es allerdings den Beitrag der Bekl., ohne dass festgestellt werden könnte, dass in der Summe das Verhalten des Kl. gefährlicher als das der Bekl. war.

Diese Abwägung gilt für Ansprüche aus Verschuldenshaftung nach § 254 BGB in gleicher Weise. ..."