Das Verkehrslexikon

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OLG Düsseldorf Beschluss vom 03.11.1993 - 2 Ss (OWi) 247/93 - Zum Tatbegriff im Sinne des OWi-Verfahrens und zu Tateinheit bzw. -mehrheit bei mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen

OLG Düsseldorf v. 03.11.1993: Zum Tatbegriff im Sinne des OWi-Verfahrens und zu Tateinheit bzw. -mehrheit bei mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen


Das OLG Düsseldorf (Beschluss vom 03.11.1993 - 2 Ss (OWi) 247/93) hat entschieden:
  1. Zum Tatbegriff bei Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr.

  2. Bei anhand von Diagrammscheiben festzustellenden Überschreitungen der Höchstgeschwindigkeit ist eine neue Tat im verfahrensrechtlichen Sinn dann gegeben, wenn das Fahrzeug zwischendurch zum Stillstand gekommen ist, denn unter Berücksichtigung normaler Verhältnisse im Straßenverkehr ist ein Verkehrsvorgang, der für sich allein betrachtet noch als einheitlicher historischer Geschehensablauf anzusehen ist, mit dem Abstellen des Fahrzeugs beendet. Lediglich zeitlich eng aufeinanderfolgende Abschnitte mit wechselnden Geschwindigkeiten, die ohne weitere Anhaltspunkte auf unterschiedliche konkrete Verkehrsverhältnisse zurückzuführen sind, lassen sich bei lebensnaher Betrachtung zu einer einheitlichen Tat zusammenfassen.

  3. Die Frage der Verfolgungsverjährung ist vom Rechtsbeschwerdegericht im Zulassungsverfahren nur dann zu untersuchen, wenn es gerade wegen dieser Frage geboten ist, unter Berücksichtigung der Zweckkriterien des § 80 I und II OWiG die Rechtsbeschwerde zuzulassen.

  4. Im Rahmen des § 33 1 Nr. 3 OWiG unterbricht nicht nur die erste, sondern jede weitere Beauftragung eines Sachverständigen die Verjährung.

Siehe auch Tateinheit - Tatmehrheit - mehrere Verstöße auf einer Fahrt


Zum Sachverhalt: Das AG hat den Betr. wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung in 31 Fällen zu insgesamt 31 Geldbußen in unterschiedlichen Höhen zwischen 30 und 80 DM verurteilt. Anlässlich einer Verkehrskontrolle am 26. 4. 1991 wurden bei dem Betr. Diagrammscheiben für den 19., 22., 23., 24., 25. und 26. 4. 1993 sichergestellt. Aus diesen Diagrammscheiben ergaben sich insgesamt 31 Überschreitungen der für das Fahrzeug zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h.

Die Rechtsbeschwerde wurde als nicht zulässig zurückgewiesen, da es bei mehreren Verurteilungen nicht auf die Summe der Einzelgeldbußen ankomme, sondern darauf, dass für jede einzelne Tat eine Geldbuße von höchstens 80 DM ausgeworfen worden war.

Jedoch hat das Rechtsbeschwerdegericht zum Tatbegriff Ausführungen gemacht.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... II. Die Rechtsbeschwerde ist nicht nach § 79 I Nr. 1 OWiG zulässig, weil es sich nicht insgesamt um eine Tat im verfahrensrechtlichen Sinne handelt und die gem. § 79 II OWiG für die einzelnen Taten anzustellende Einzelprüfung nicht ergibt, dass die Wertgrenze des § 79 I Nr. 1 OWiG überschritten wäre.

Nach einhelliger Auffassung liegt § 79 II OWiG nicht der materiell-rechtliche Tatbegriff zugrunde, sondern der weite Tatbegriff des Verfahrensrechts i.S. des § 264 StPO, so dass es keine Rolle spielt, ob das AG die einzelnen Verstöße rechtlich als Tatmehrheit oder Tateinheit bewertet und behandelt hat.

Gegenstand eines jeden Bußgeldverfahrens ist ein konkreter Lebensvorgang, innerhalb dessen der Betr. einen bußgeldbewehrten Tatbestand - u. U. mehrfach - verwirklicht. Ein solcher einheitlicher geschichtlicher Vorgang kann mehrere Handlungen – im natürlichen aber auch im materiell-rechtlichen Sinn umfassen, die durch die Einheitlichkeit des historischen Vorgangs zu einer einzigen Tat im verfahrensrechtlichen Sinn verknüpft werden. Maßgebend für die Beurteilung, ob ein einheitlicher Vorgang vorliegt, ist nicht eine abstrahierende Wertung, sondern die natürliche Auffassung des täglichen Lebens. Dabei genügen der persönliche Zusammenhang, die Verletzung gleicher Rechtsgüter oder die Zugehörigkeit zu einem Gesamtplan allein nicht, um mehrere selbständige Handlungen i.S. der §§ 53 StGB, 20 OWiG zu einer einzigen Tat zu verbinden. Die Handlungen müssen vielmehr nach dem Ereignisablauf zeitlich, räumlich und innerlich so miteinander verknüpft sein, dass sich ihre getrennte Würdigung und Ahndung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs darstellen würde. Insoweit sind der zeitliche Ablauf der einzelnen Handlungen und der zeitliche Abstand zwischen ihnen wesentliche Kriterien für die Beurteilung, ob ein einheitliches Tatgeschehen vorliegt. Im Rahmen von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr ist demgemäß davon auszugehen, dass mit dem Ende eines bestimmten Verkehrsgeschehens, das durch ein anderes abgelöst wird, in der Regel das die Tat bildende geschichtliche Ereignis abgeschlossen ist (vgl. auch OLG Düsseldorf, 1. Senat für Bußgeldsachen, VRS 71, 375 [376] m.w.Nachw.; 67, 129 [130]; OLG Hamm, DAR 1979, 22 [23]).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze stellen die an sechs verschiedenen Tagen festgestellten mehrfachen Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit keinen einheitlichen Vorgang dar, da sie insgesamt nicht als untrennbares historisches Ereignis zu betrachten sind. Zumindest die Beendigung der mit dem Fahrzeug durchgeführten Transporte an einem Arbeitstag stellt eine Zäsur dar, die eine Verknüpfung zwischen den einzelnen Tagen verbietet. Der Umstand, dass der Betr. an fünf aufeinanderfolgenden Tagen die zulässige Höchstgeschwindigkeit mehrfach überschritten hat, ändert demgemäß nichts an der zutreffenden Wertung des Amtsrichters, dass es sich bezüglich aller Tage um verschiedene Lebensabschnitte handelt, die nicht miteinander verbunden sind.

Aber auch an den einzelnen Tagen ist ein einheitlicher historischer Vorgang bei einer die normalen Verkehrsabläufe berücksichtigenden natürlichen und lebensnahen Betrachtung nur dann anzunehmen, wenn wegen einer engen räumlichen und zeitlichen Nähe der Verstöße zueinander auf einen einheitlichen Geschehenszusammenhang geschlossen werden kann. Demgemäß kommen unter Heranziehung von gefahrener Geschwindigkeit und zurückgelegter Entfernung nur solche Abschnitte in Betracht, die zeitlich so eng zusammenliegen, dass eine weitere Aufspaltung als unnatürlich und die realen Geschehnisse des täglichen Ablaufs im Straßenverkehr außer acht lassend anzusehen wäre.

Bei anhand von Diagrammscheiben festzustellenden Überschreitungen der Höchstgeschwindigkeit i.S. des § 3 III Nr. 2a StVO ist jedenfalls ein neuer Verkehrsvorgang und damit eine neue Tat im verfahrensrechtlichen Sinn dann gegeben, wenn das Fahrzeug zwischendurch zum Stillstand gekommen ist, denn unter Berücksichtigung normaler Verhältnisse im Straßenverkehr ist ein Verkehrsvorgang, der für sich allein betrachtet noch als einheitlicher historischer Geschehensablauf anzusehen ist, mit dem Abstellen des Fahrzeugs beendet. Lediglich zeitlich eng aufeinander folgende Abschnitte mit wechselnden Geschwindigkeiten, die ohne weitere Anhaltspunkte auf die unterschiedlichen konkreten Verkehrsverhältnisse zurückzuführen sind, lassen sich bei lebensnaher Betrachtung zu einer einheitlichen Tat zusammenfassen.

Unter Heranziehung der vom AG festgestellten Tatzeiten, der zeitlichen Zwischenräume und der ausweislich der Diagrammscheiben gegebenen Standzeiten bilden die Verstöße Nr. 1 und 2, Nr. 5 und 6, Nr. 11 und 12, Nr. 13 und 14, Nr. 17 und 18, Nr. 19, 20 und 21, Nr. 23, 24 und 25 sowie Nr. 30 und 31 einheitliche Taten im verfahrensrechtlichen Sinn, bei denen die ausgeurteilten Geldbußen jeweils zusammengerechnet werden müssen. Indessen wird von keiner der insgesamt acht einzeln zu betrachtenden Taten die Wertgrenze des § 79 I Nr. 1 OWiG überschritten.

Die erhobene Rechtsbeschwerde ist demgemäß unzulässig. ..."