Das Verkehrslexikon

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OLG Hamm Beschluss vom 30.08.2007 - 3 Ss OWi 458/07 - Mehrere Geschwindigkeitsüberschreitungen im Verlaufe einer Fahrt sind mehrere Taten im materiellen und prozessualen Sinne

OLG Hamm v. 30.08.2007: Mehrere Geschwindigkeitsüberschreitungen im Verlaufe einer Fahrt sind mehrere Taten im materiellen und prozessualen Sinne


Das OLG Hamm (Beschluss vom 30.08.2007 - 3 Ss OWi 458/07) hat entschieden:
In Rechtsprechung und Lehre besteht Einigkeit darüber, dass es sich bei mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen auch im Verlaufe einer Fahrt regelmäßig um mehrere Taten im materiellen und prozessualen Sinne handelt. Eine einzige Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit ist dagegen lediglich dann anzunehmen, wenn strafrechtlich oder ordnungswidrigkeitenrechtlich erhebliche Verhaltensweisen durch einen derart unmittelbaren zeitlichräumlichen und inneren Zusammenhang gekennzeichnet sind, dass sich der gesamte Vorgang bei natürlicher Betrachtungsweise auch für einen unbeteiligten Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun darstellt. Ein derartiger Ausnahmefall nicht vor, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit bei beiden Messungen unterschiedlich war, auch wenn die Überschreitungen innerhalb von 2 Minuten erfolgten.


Siehe auch Tateinheit - Tatmehrheit - mehrere Verstöße auf einer Fahrt


Zum Sachverhalt: Das Amtsgericht Essen hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 140,00 € verurteilt und ihm unter Einräumung der 4-Monats-Frist gem. § 25 Abs. 2a StVG für die Dauer eines Monats verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art im öffentlichen Straßenverkehr zu führen.

Zur Sache hat das Amtsgericht folgende Feststellungen getroffen:
“Am 03.09.2006 befuhr der Betroffene gegen 23.33 Uhr die BAB … in Fahrtrichtung C. in Höhe T-Straße mit seinem PKW mit dem amtlichen Kennzeichen … - … mit einer Geschwindigkeit von 141 km/h, obgleich die zulässige Höchstgeschwindigkeit in dem Bereich gemäß der Beschilderung (Zeichen 274) lediglich 100 km/h betrug.

Als der Betroffene bemerkte, dass er geblitzt worden war, reduzierte er seine Geschwindigkeit auf die vorgegebenen 100 km/h. Nach Reduzierung der Geschwindigkeit passierte er um 23.34 Uhr den Bereich Anschlussstelle H. Hier fuhr der Betroffene weiterhin 97 km/h, obgleich die Geschwindigkeit in dem Bereich der Anschlussstelle H. auf 80 km/h begrenzt war.

Wegen des Geschwindigkeitsverstoßes im Bereich der Anschlussstelle H. ist der Betroffene durch das Ordnungsamt der Stadt F. am 29.09.2006 verwarnt worden. Das Verwarngeld ist durch den Betroffenen bezahlt worden.”
In der rechtlichen Würdigung hat das Amtsgericht u.a. ausgeführt, dass der Ahndung der Ordnungswidrigkeit nicht entgegenstehe, dass hinsichtlich des weiteren Verstoßes im Bereich der Anschlussstelle H. bereits ein Verwarnungsgeld verhängt worden sei. Die Verkehrsverstöße stünden in Tatmehrheit; der Betroffene habe seine Geschwindigkeit auf die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit reduziert, nachdem er durch die “Blitzanlage” auf sein Fehlverhalten aufmerksam geworden sei. Die weitere Geschwindigkeitsüberschreitung beruhe auf einer neuerlichen Fehlleistung des Betroffenen. Ein Verfahrenshindernis bestehe nicht. Der Grundsatz “ne bis in idem” finde auf die Verwarnung keine Anwendung. Ein Vertrauenstatbestand zugunsten des Betroffenen, dass durch ein Verwarnungsgeld hinsichtlich der Geschwindigkeitsüberschreitung von 17 km/h durch die Verwaltungsbehörde auch der wesentlich schwerwiegendere Geschwindigkeitsverstoß von 41 km/h erledigt werden sollte, sei nicht geschaffen worden.

Gegen dieses Urteil wendete sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, die er unter näheren Ausführungen mit der Verletzung materiellen Rechts begründet hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Rechtsbeschwerde gem. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

Die Rechtsbeschwerde blieb erfolglos.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Die Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gem. §§ 41 Abs. 2, 49 StVO (Zeichen 274) sowohl zur äußeren wie zur inneren Tatseite.

Zu Recht führt das Amtsgericht aus, dass ein Verfahrenshindernis aufgrund der anderweitigen Verfolgung des unmittelbar anschließenden weiteren Geschwindigkeitsverstoßes nicht besteht.

In Rechtsprechung und Lehre besteht Einigkeit darüber, dass es sich bei mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen auch im Verlaufe einer Fahrt regelmäßig um mehrere Taten im materiellen und prozessualen Sinne handelt (vgl. OLG Hamm VM 2007, 14; OLG Brandenburg NZV 2006, 109, BayObLG NZV 1995, 407; 1994, 448; OLG Köln NZV 1994, 292; OLG Düsseldorf NZV 2001, 273; 1994, 118). Der Umstand, dass die mehreren Verstöße während der selben Fahrt begangen wurden, ändert nichts daran, dass das Fahren als solches keine rechtliche Klammer zu den einzelnen Verhaltensweisen im Straßenverkehr bildet. Eine einzige Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit ist dagegen lediglich dann anzunehmen, wenn strafrechtlich oder ordnungswidrigkeitenrechtlich erhebliche Verhaltensweisen durch einen derart unmittelbaren zeitlichräumlichen und inneren Zusammenhang gekennzeichnet sind, dass sich der gesamte Vorgang bei natürlicher Betrachtungsweise auch für einen unbeteiligten Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun darstellt (vgl. OLG Brandenburg, a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.; OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Köln a.a.O.).

Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor, denn die zulässige Höchstgeschwindigkeit war bei beiden Messungen unterschiedlich: Nachdem diese zunächst durch Zeichen 274 auf 100 km/h beschränkt worden war, war sie im Folgenden weiter auf 80 km/h reduziert worden. Der Betroffene hat auf diese weitere Geschwindigkeitsbeschränkung auch reagiert, indem er nach der ersten mit 41 km/h erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung seine Geschwindigkeit auf die zulässigen 100 km/h reduziert hatte und sodann nach der weiteren Reduzierung auf 80 km/h die zulässige Höchstgeschwindigkeit erneut überschritt, und zwar mit 17 km/h. Das Gewicht der beiden Geschwindigkeitsüberschreitungen unterscheidet sich deutlich. Zudem sind die Örtlichkeiten an einer Autobahnanschlussstelle, die regelmäßig großflächig beschildert ist und gesonderte Fahrspuren der Auf- und Abfahrten aufweist, anders im Vergleich zu einem regulären Autobahnabschnitt ohne Anschlussstelle. Aufgrund dieser Umstände lassen sich die einzelnen Verkehrsverstöße unschwer von einander abgrenzen und ist die Annahme tatmehrheitlicher Begehungsweise gerechtfertigt.

Das Rügevorbringen des Betroffenen unter Hinweis auf die Entscheidung des OLG Köln vom 15.08.2004 (Ss 259/04 (B), NZV 2004, 536) und die dortige Beurteilung als natürliche Handlungseinheit bei mehreren fahrlässig im Messabstand von ebenfalls nur 1 Minute auf dem selben Autobahnabschnitt begangener Geschwindigkeitsüberschreitungen rechtfertigt eine andere Beurteilung nicht. Die dortige Fallgestaltung unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der hier vorliegenden, weil nach den dortigen Feststellungen zwischen beiden Messungen eine Änderung der durch Beschilderung ausgewiesenen zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht erfolgt war, sondern diese durchgehend 100 km/h betrug. Bei dieser Konstellation liegt - auch wenn der Betroffene in jenem Fall seine Geschwindigkeit zwischen beiden Messungen von 161 bzw. 169 km/h unter 100 km/h verringert hatte - eine andere Verkehrssituation vor, da der Betroffene im hier gegebenen Fall zwei Fehlleistungen erbrachte, indem er nach dem Passieren der ersten Beschilderung hinsichtlich der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h eine zweite passierte, die die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h weiter auf 80 km/h herabsetzte und beide überschritt (vgl. ebenso OLG Brandenburg a.a.O. in einer gleichgelagerten Fallkonstellation wie hier). Beide Verstöße sind im hier gegebenen Fall von deutlich unterschiedlichen Gewicht, während sie in der der Entscheidung des OLG Köln zugrundeliegenden Konstellation mit 161 bzw. 169 km/h - vor Abzug der Toleranz - von vergleichbarem Gewicht waren und die örtlichen Gegebenheiten auch nicht unterschiedlich waren.

Trotz des gegebenen örtlichen und zeitlichen Zusammenhangs stellen sich die Verstöße hier mithin bei natürlicher Betrachtungsweise objektiv auch für einen Dritten nicht als einheitliches zusammengehörendes Tun dar, sondern die Verstöße erfolgten in zwei verschiedenen Verkehrssituationen und beruhten auf verschiedenen sachgedanklichen Ursachen in der Person des Betroffenen (vgl. OLG Hamm a.a.O.).

Auch die Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs führt nicht zur Aufdeckung von Rechtsfehlern zum Nachteil des Betroffenen. Die Verhängung des einmonatigen Fahrverbots begegnet keinen Bedenken. Gesichtspunkte, die ein Absehen von dem indizierten Fahrverbot rechtfertigen könnten, sind weder ersichtlich noch von dem Betroffenen angeführt worden. Die Rechtsbeschwerde war demgemäß als unbegründet zu verwerfen. ..."