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OLG Rostock Urteil vom 23.02.2007 - 8 U 39/06 - Zum Überholen einer Fahrzeugkolonne und zur Mithaftung eines überholenden Kleintransporters
OLG Rostock . 23.02.2007: Zum Überholen einer Fahrzeugkolonne und zur Mithaftung eines überholenden Kleintransporters
Das OLG Rostock (Urteil vom 23.02.2007 - 8 U 39/06) hat entschieden:
- Das Überholen einer Kolonne durch einen Kleintransporter auf einer Bundesstraße unmittelbar hinter einer Ortschaft stellt noch kein Überholen bei unklarer Verkehrslage dar.
- Setzt ein Kleintransporter zum Überholen von drei vor ihm fahrenden Fahrzeugen an und schert das mittlere plötzlich aus, so haftet er mit 30 % der entstandenen Schäden.
Siehe auch Überholen allgemein und Stichwörter zum Thema Überholen
Zum Sachverhalt: Der Kläger begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld aus einem Verkehrsunfall, der sich am 21.10.2002 gegen 09.00 Uhr in der Nähe von Güstrow ereignet hat. Die Parteien befuhren die Bundesstraße 104 in Richtung Güstrow. An der Spitze der Kolonne befand sich ein Lastkraftwagen mit Sattelauflieger, gefolgt vom Beklagten zu 1) in einem PKW Renault. Hinter ihm war der Zeuge ... in einem Lastkraftwagen unterwegs. Am Ende der Kolonne fuhr der Kläger mit einem Kleintransporter der Marke Iveco.
Einige 100 Meter hinter der Ortschaft Witzin setzte der Kläger zum Überholen der Kolonne an. Nachdem er den Lastkraftwagen des Zeugen ... überholt hatte, scherte der Beklagte zu 1) mit seinem Pkw ebenfalls nach links auf die Gegenfahrbahn aus. Dabei kollidierte er im Bereich seines linken hinteren Hecks mit dem Fahrzeug des Klägers, welches daraufhin ins Schleudern geriet und an einen Straßenbaum prallte. Hierdurch wurde der Kläger schwer verletzt.
Das Landgericht Schwerin hat der Klage nach Vernehmung des Zeugen ... und der Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zum Teil stattgegeben.
Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, der Kläger habe die Unabwendbarkeit des Verkehrsunfalles nicht nachweisen können. Weder sei der konkrete Unfallverlauf aufgeklärt, noch habe der Kläger das Gericht davon überzeugen können, dass der Beklagte zu 1) seinen Fahrtrichtungsanzeiger nicht gesetzt habe. Vielmehr müsse er sich ein Mitverschulden in Höhe von 30% zurechnen lassen, weil er trotz einer unklaren Verkehrssituation überholt habe. Der Beklagte zu 1) sei nämlich bereits mehrfach nach links ausgeschert und habe damit seine Überholabsicht kundgetan.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers vom 26.04.2006. Er ist der Auffassung, an seinem Verschulden fehle es schon deshalb, weil keine unklare Verkehrslage bestanden habe. Auch sei der Unfall für ihn unvermeidbar gewesen, denn er habe nicht vorhersehen können, dass ihm der Beklagte zu 1) sein Überholvorrecht streitig mache.
Die Berufung des Klägers blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Zutreffend hat das Landgericht den Schadensersatzanspruch des Klägers aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 3 StVG, § 5 Abs. 4 StVO, § 3 PflVersG abgeleitet. Der Beklagte zu 1.) hat den Verkehrsunfall nämlich schuldhaft herbeigeführt, weil er entgegen § 5 Abs. 4 StVO zum Überholen angesetzt hat, ohne den bereits im Überholvorgang befindlichen Kläger zu beachten. Entgegen der Berufung beruht die erstinstanzlich vorgenommene Abwägung der unterschiedlichen Verursachungsbeiträge im Rahmen des § 17 Abs. 3 StVG nicht auf fehlerhaften Erwägungen. Zwar ist die Kammer tatsächlich unzutreffend von einem Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 3 Ziff. 1 StVO ausgegangen. Dieser Fehler hat sich aber auf die zu bildende Haftungsquote der Unfallbeteiligten nicht ausgewirkt.
Der Kläger hat nicht gegen § 5 Abs. 3 Ziff. 1 StVO verstoßen, weil zu Beginn seines Überholvorganges eine unklare Verkehrslage nicht vorgelegen hat. Unklar ist eine Verkehrslage erst dann, wenn der Überholende nicht zuverlässig beurteilen kann, was der Vorausfahrende sogleich tun werde. Allein der Umstand, dass der Kläger eine Kolonne von mehreren Fahrzeugen überholt hat, begründet noch keinen solchen Verstoß. Denn das Überholen einer Fahrzeugkolonne ist auch nach § 5 Abs. 3 Ziff. 1 StVO nicht generell verboten. Ohne Hinzutreten von besonderen Umständen, die für ein unmittelbar folgendes Ausscheren sprechen, muss der eine Fahrzeugkolonne Überholende nicht damit rechnen, dass ein in der Kolonne befindliches Fahrzeug unvermittelt nach links ausschert (BGH, Urteil vom 23.09.1986, Az.: VI ZR 46/85, NJW 1987, 322 - 323; KG Berlin, Urteil vom 30.01.1995, Az.: 12 U 2820/93, NZV 1995, 359 - 360; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Auflage, § 2 StVO, Rz. 34, 35). Die Beklagten vermochten aber das Vorliegen solcher Umstände nicht zu beweisen. Die Kammer hat nach Einvernahme des Zeugen ... hierzu lediglich festgestellt, dass der Beklagte zu 1) nach Verlassen der Ortschaft Witzin mehrfach nach links ausgeschert war. Diese entscheidungserheblichen Feststellungen hat der Senat gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen, weil konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an deren Richtigkeit und Vollständigkeit nicht bestehen (vgl. BGH, Urteil vom 09.03.2005, Az.: VIII ZR 266/03, MDR 2005, 945 - 946; OLG Rostock, Urteil vom 27.10.2003, Az.: 3 U 205/02). Insbesondere konnte sich der Zeuge weder an den konkreten Unfallhergang erinnern, noch hat er Aussagen zur Benutzung der Fahrtrichtungsanzeiger treffen können. Allein das kurzzeitige Ausscheren des Beklagten zu 1) vor dem klägerischen Überholvorgang vermochten nach Überzeugung des Senats keine Umstände zu begründen, die für ein unmittelbar folgendes Ausscheren sprachen. Es ist zunächst nicht ungewöhnlich, dass sich Verkehrsteilnehmer - vor allem nach einer längeren Fahrt hinter einem Lastkraftwagen - auf diese Weise orientieren, ohne hierdurch andere Fahrzeuge zu gefährden. Auch der Kläger war von diesem Ausscheren zunächst nicht betroffen. Er befand sich nämlich zu diesem Zeitpunkt mit seinem Kleintransporter an vierter, der Kläger aber mit seinem - deutlich schnelleren - Personenkraftwagen an zweiter Stelle der Kolonne. Zu Beginn des Überholvorganges aber - und nur darauf kommt es an - hat der Beklagte zu 1) seinen Fahrstreifen nicht verlassen (vgl. hierzu OLG Köln, Urteil vom 10.06.1980, Az.: 1 Ss 339/80, VRS 60, 222-224; KG Berlin, Urteil vom 04.06.1987, Az.: 12 U 4540/86, NJW-RR 1987, 1251-1252 - für einen sich zur Fahrbahnmitte hin orientierenden, aber nicht blinkenden Linksabbieger).
Entgegen der Berufung war der Verkehrsunfall für den Kläger aber nicht unabwendbar im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG. Unabwendbar ist ein Ereignis, das auch durch eine äußerst mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hinaus. Der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalls geltend machen will, muss sich unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrsumstände wie ein Idealfahrer verhalten haben. Dabei darf sich die Prüfung nicht nur auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein Idealfahrer reagiert hat. Vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein Idealfahrer überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre. Denn der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelte Unfall wird nicht dadurch unabwendbar, dass sich der Fahrer später ideal verhält (ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. zuletzt: Urteil vom 17.03.1992, Az.: VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337-345). Der sorgfältige Fahrer eines Kleintransporters hätte in der konkreten Verkehrssituation schon nicht zum Überholen der Kolonne angesetzt, sondern angesichts der besonderen Umstände zunächst abgewartet. Der Kläger fuhr mit seinem LKW nämlich am Ende der Kolonne, während sich der Beklagte zu 1) mit einem deutlich schneller beschleunigenden PKW an zweiter Stelle befand. Es war naheliegend, dass jener ebenfalls die Spitze der Kolonne überholen will, zumal nach Durchfahren der Ortschaft Witzin erstmals die Möglichkeit dazu bestand. Ein Idealfahrer hätte den vor ihm fahrenden Kraftfahrzeugen deshalb zumindest eine kurze Überlegungsfrist, unter Umständen sogar die Gelegenheit zum Überholen eingeräumt, um eine Gefährdung von vornherein auszuschließen. Die Straßenverkehrsordnung verlangt nämlich eine defensive und vorausschauende Fahrweise (§ 1 StVO). Entgegen der Berufung muss es ein Autofahrer unter Umständen sogar hinnehmen, hinter langsamen Fahrzeugen herzufahren, bevor sich eine geeignete Überholmöglichkeit bietet. Auch der Zeuge .... hat in seiner Vernehmung überzeugend dargelegt, angesichts der Verkehrssituation auf ein Überholen verzichtet zu haben.
Bei der Bildung der Haftungsquote hatte der Senat die jeweiligen Verursachungsbeiträge gegeneinander abzuwägen. Dabei war einerseits zu berücksichtigen, dass der Beklagte zu 1.) beim Überholen gegen § 5 Abs. 4 StVO verstoßen hat. Andererseits war der Verkehrsunfall für den Kläger nicht unabwendbar im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG. Bei der Bemessung der Höhe der klägerischen Betriebsgefahr war neben der Art und Beschaffenheit des Kleintransporters vor allem zu berücksichtigen, dass sich der Verkehrsunfall beim Überholen einer Fahrzeugkolonne ereignet hat. Das rechtfertigt zur Überzeugung des Senats den Ansatz einer erhöhten Betriebsgefahr, denn den Überholenden einer Kolonne trifft eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Bereits das Überholen eines Fahrzeuges, erst recht aber das Überholen einer Fahrzeugkolonne mit einem LKW birgt stets ein besonderes Gefahrenpotential (vgl. BGH, Urteil vom 18.05.1971, Az.: VI ZR 267/69, VersR 1971, 843; OLG Hamm, Urteil vom 15.03.1995, Az.: 3 U 159/94, NZV 1995, 399; OLG Karlsruhe, Urteil vom 26.07.2001, Az.: 9 U 195/00, NZV 2001, 473). Die vorgenannte Abwägung führt zu der bereits erstinstanzlich festgestellten Haftungsquote von 30 % : 70 % zu Lasten der Beklagten. ..."