Das Verkehrslexikon

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OLG München Beschluss vom 30.05.2005 - 4St RR 73/05 - Bei Anklage nur wegen Fahrerflucht kann das Gericht dennoch wegen der Ordnungswidrigkeit verurteilen

OLG München v. 30.05.2005: Bei Anklage nur wegen Fahrerflucht kann das Gericht dennoch wegen der Ordnungswidrigkeit verurteilen


Das OLG München (Beschluss vom 30.05.2005 - 4St RR 73/05) hat entschieden:
  1. Wird das Verhalten des Angeklagten in der Anklage nur unter dem Gesichtspunkt des Fahrens ohne Fahrerlaubnis gewürdigt und nicht erwähnt, dass er bei dieser Fahrt einen Unfall verursacht hat, so hindert dies das Tatgericht nicht, den Angeklagten wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit der Schädigung Dritter zu verurteilen.

  2. Der Unterbrechung der Verjährung bezüglich der Verkehrsordnungswidrigkeit durch die Erhebung der öffentlichen Klage steht nicht entgegen, dass darin der Unfall dem Angeklagten nicht zum Vorwurf gemacht wurde. Eine Handlung, die auf die Verfolgung des Täters wegen einer Tat im Sinn des § 264 StPO abzielt, unterbricht die Verjährung insgesamt, und zwar unabhängig davon, unter welchem rechtlichen Gesichtspunkt sie die Tat würdigt.

Siehe auch Verjährung


Zum Sachverhalt: Durch Strafbefehlsantrag vom 24.9.2004, der am 29.9.2004 bei Gericht eingegangen ist, legte die Staatsanwaltschaft dem am 12.1.1986 geborenen Angeklagten zur Last, am 26.5.2004 ein Krad ohne die dazu erforderliche Fahrerlaubnis geführt zu haben.

Mit Verfügung vom 1.10.2004 beraumte das Amtsgericht Günzburg Termin zur Hauptverhandlung an. In der Sitzung wurde der Angeklagte darauf hingewiesen, dass eine fahrlässige Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 1 Abs. 2, § 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO, § 24 StVG vorliegen könne.

Durch Urteil vom 15.2.2005 hat der Jugendrichter bei dem Amtsgericht Günzburg gegen den Angeklagten wegen einer fahrlässigen Verkehrsordnungswidrigkeit der Schädigung Dritter eine Geldbuße von 50 EUR festgesetzt; vom Vorwurf des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis wurde er freigesprochen.

Mit der Revision rügte der Verteidiger die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Da der Verkehrsunfall nicht Gegenstand der Anklage sei und die Ordnungswidrigkeit nicht in Tateinheit zu dem angeklagten Schuldvorwurf stehe, hätte der Angeklagte nicht wegen der Ordnungswidrigkeit verurteilt werden dürfen. Einer nachträglichen Einbeziehung in das Verfahren stehe auch die Verjährung entgegen.

Die Revision erwies sich als zulässig, aber unbegründet.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Das Rechtsmittel des Angeklagten ist als Sprungrevision gemäß § 335 StPO statthaft; die Bestimmung über das Wahlrechtsmittel nach § 55 JGG ist nicht einschlägig, da kein Jugendstrafrecht angewandt wurde (vgl. §§ 105, 109 Abs. 2 JGG). Auch wenn lediglich auf eine Geldbuße erkannt wurde, sind die Rechtsmittel der Strafprozessordnung und nicht die des Ordnungswidrigkeitengesetzes (vgl. §§ 79, 80, 83 OWiG) gegeben, weil das Verfahren nur eine einzige Tat im prozessualen Sinn zum Gegenstand hat (BGHSt 23, 270/272; OLG München NJW 1970, 261; Göhler OWiG 13. Aufl. § 82 Rn. 25, § 83 Rn. 8), die sowohl das Tatgeschehen zum Vorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis als auch den Unfall umfasst. Die Fahrt, hinsichtlich derer dem Angeklagten ein Fahren ohne Fahrerlaubnis zur Last lag, ist denknotwendige Voraussetzung für das Unfallgeschehen. Das Fahren ohne Fahrerlaubnis würde mit dem auf dieser Fahrt begangenen Verkehrsverstoß Tateinheit gemäß § 52 StGB bilden; materiell-rechtlich in Tateinheit stehende Delikte stellen regelmäßig auch verfahrensrechtlich dieselbe Tat im Sinn des § 264 StPO dar (BayObLGSt 1962, 154; 1964, 95; OLG Hamm VRS 60, 50/51; vgl. auch unten Nr. III.1a).

Die Revision ist jedoch unbegründet:

1. Der Verurteilung des Angeklagten wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit steht kein Verfahrenshindernis entgegen; eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO kommt daher nicht in Betracht. Verfahrenshindernisse sind in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (BGHSt 29, 94; KK/Pfeiffer StPO 5. Aufl. Einl. Rn. 133; Göhler § 31 Rn. 17).

a) Zwar ist das Verfahren nicht durch eine Anklage mit Eröffnungsbeschluss eingeleitet worden. Diesem Verfahrensbeginn steht hier jedoch der Strafbefehlsantrag gleich, im Anschluss an den das Amtsgericht gemäß § 408 Abs. 3 Sätze 2 und 3 StPO Termin zur Hauptverhandlung anberaumt hat; eines Eröffnungsbeschlusses bedurfte es nicht (Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 408 Rn. 14).

Allerdings ist im Strafbefehlsantrag das Verhalten des Angeklagten nur unter dem Gesichtspunkt des Fahrens ohne Fahrerlaubnis gewürdigt und nicht erwähnt, dass er bei dieser Fahrt einen Unfall verursacht hat. Dies führt aber nicht dazu, dass das Amtsgericht wegen der Nichterwähnung der einschlägigen Ordnungswidrigkeitenbestimmung und der ihr zugrunde liegenden Tatsachen gehindert gewesen wäre, diese Zuwiderhandlung abzuurteilen. Gegenstand der Urteilsfindung ist nach § 264 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Die Tat im Sinn dieser Vorschrift ist der einheitliche geschichtliche Vorgang einschließlich aller damit zusammenhängender und darauf bezüglicher Vorkommnisse, die geeignet sind, das in diesen Bereich fallende Tun des Angeklagten unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar bzw. bußgeldbewehrt erscheinen zu lassen, also das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet (BayObLG VRS 99, 467/468; BGH VRS 60, 294/295). In diesem Rahmen ist das Gericht zur Aburteilung verpflichtet, ohne Rücksicht darauf, ob aus der Anklage der Wille der Staatsanwaltschaft auf Verfolgung dieses Vorgangs unter allen rechtlichen Gesichtspunkten ersichtlich ist (LR/Gollwitzer StPO 25. Aufl. § 264 Rn. 20).

Dem Angeklagten wurde im Strafbefehlsantrag eine Straftat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, die nach Zeit und Ort konkretisiert war, zur Last gelegt. Diese Fahrt ist, wie bereits unter Nr. II ausgeführt, denknotwendige Voraussetzung für das Unfallgeschehen und trägt damit nicht nur zur Erfüllung des Tatbestands der Ordnungswidrigkeit bei, sondern stellt auch einen unverzichtbaren Handlungsteil der dem Angeklagten zunächst zur Last liegenden Straftat dar (BGH VRS 60, 294/295). Aufgrund der materiell-rechtlichen Tateinheit (§ 52 StGB, § 21 Abs. 1 Satz 1 OWiG) ist auch verfahrensrechtlich von derselben Tat im Sinn des § 264 StPO auszugehen. Das Amtsgericht war deshalb nicht nur berechtigt, sondern, um einen Strafklageverbrauch (Art. 103 Abs. 3 GG) zu verhindern, auch verpflichtet, den Unrechtsgehalt der einheitlichen Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellte, nach allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten auszuschöpfen (BayObLGSt 1964, 95). Dabei ist im Übrigen unerheblich, ob die Umstände, die zur anderen Beurteilung des Prozessstoffes führen, in der Hauptverhandlung neu zutage getreten sind, oder ob sie schon aus den Akten ersichtlich waren (LR/Gollwitzer § 264 Rn. 21).

Es handelt sich somit um einen Fall der zulässigen Umgestaltung des Tatvorwurfs; einer Nachtragsanklage bedurfte es nicht (BayObLGSt 1971, 66/67). Dass das Amtsgericht den Angeklagten vom Vorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis ausdrücklich freigesprochen hat, war zwar überflüssig (KK/Schoreit StPO 5. Aufl. § 260 Rn. 20), ändert aber an dieser Beurteilung nichts. Lediglich ergänzend sei angemerkt, dass der gemäß § 265 StPO erforderliche rechtliche Hinweis erteilt wurde.

b) Auch ein Verfahrenshindernis der Verjährung ist nicht gegeben.

Die Frist für die Unterbrechung der Verjährung bei der Verkehrsordnungswidrigkeit richtet sich nach § 26 Abs. 3 StVG. § 33 Abs. 3 Satz 3 OWiG, der an die gesetzliche Verjährungsfrist der Straftat anknüpft, ist hier nicht einschlägig, da er nur die absolute Verjährung betrifft, die hier ersichtlich nicht eingetreten ist (BayObLG NZV 2004, 269).

Die Frist für die Verfolgungsverjährung nach § 26 Abs. 3 StVG betrug bis zur Erhebung der öffentlichen Klage drei Monate und danach - der Strafbefehlsantrag vom 24.9.2004 wurde dem Angeklagten am 5.10.2004 zugestellt - sechs Monate. Die zunächst geltende dreimonatige Verjährungsfrist wurde gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG durch die (erste) Beschuldigtenvernehmung am 13.7.2004 unterbrochen. Eine erste Beschuldigtenvernehmung hat nicht etwa bereits am Tattag stattgefunden. Nach dem Erwachen des Angeklagten aus der Narkose am 26.5.2004 wurde lediglich eine informatorische Befragung durchgeführt, die der Feststellung und Klärung der Unfallursachen diente (vgl. Göhler § 33 Rn. 6a, 8). Die Erhebung der öffentlichen Klage, hier der Eingang des Strafbefehlsantrags bei Gericht am 29.9.2004 (vgl. Göhler § 33 Rn. 41), bewirkte gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 13 OWiG eine weitere Verjährungsunterbrechung. Danach bedurfte es keiner nochmaligen Unterbrechung, da zwischen der Erhebung der öffentlichen Klage und der Entscheidung des Amtsgerichts am 15.2.2005 weniger als sechs Monate verstrichen sind.

Der Unterbrechung der Verjährung bezüglich der Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 1 Abs. 2 StVO durch den Strafbefehlsantrag steht nicht entgegen, dass darin der Unfall dem Angeklagten nicht zum Vorwurf gemacht wurde. Nach § 33 Abs. 4 Satz 2 OWiG tritt die Unterbrechung u.a. in dem hier einschlägigen Fall des § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 13 OWiG auch dann ein, wenn die Handlung auf die Verfolgung der Tat als Straftat gerichtet ist. Unter Tat in diesem Sinn ist ebenso wie in § 264 StPO das bestimmte geschichtliche Ereignis zu verstehen. Eine Handlung, die auf die Verfolgung des Täters wegen dieser Tat abzielt, unterbricht die Verjährung insgesamt, und zwar unabhängig davon, unter welchem rechtlichen Gesichtspunkt sie die Tat würdigt und ob ein rechtlicher Aspekt und das zugrunde liegende tatsächliche Geschehen unerwähnt bleibt (Göhler § 33 Rn. 57 f.; vgl. auch BayObLGSt 1964, 95 f.). ..."