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BGH Urteil vom 16.11.1999 - VI ZR 37/99 - Die Verjährung nicht voraussehbarer Unfallfolgen beginnt mit der positiven Kenntnis des Geschädigten

BGH v. 16.11.1999: Die Verjährung nicht voraussehbarer Unfallfolgen beginnt mit der positiven Kenntnis des Geschädigten


Der BGH (Urteil vom 16.11.1999 - VI ZR 37/99) hat entschieden:
  1. Die Verjährung des deliktischen Anspruchs auf Ausgleich von Spätfolgen eines Körperschadens, die zum Zeitpunkt der allgemeinen Kenntnis vom Schaden auch für Fachkreise nicht voraussehbar waren und daher außerhalb der "Schadenseinheit" liegen, beginnt erst, wenn der Geschädigte selbst von der Möglichkeit des konkreten Schadenseintritts und des Ursachenzusammenhangs mit der Ausgangsschädigung positive Kenntnis erlangt.

  2. Das gilt bei mehreren, zeitlich auseinanderfallenden Spätfolgen (hier: Arthrose im Kniegelenk und Arthrose im Sprunggelenk) auch hinsichtlich der zuletzt eingetretenen selbst dann, wenn diese für Fachkreise aufgrund der vorausgegangenen Spätschäden voraussehbar gewesen wären.

Siehe auch Verjährung


Zum Sachverhalt: Die Klägerin begehrte Ersatz für Spätfolgen eines Verkehrsunfalles, für den die Beklagte uneingeschränkt einzustehen hat. Bei dem Unfall am 22. September 1984 erlitt die Klägerin u.a. am rechten Bein einen Unterschenkeltrümmerbruch und einen Oberschenkelschaftbruch.

Seit dem 20. April 1990 suchte die Klägerin wiederholt verschiedene Ärzte wegen Beschwerden im rechten Kniegelenk auf. Nach einer Arthroskopie am 31. Januar 1994 erschien dem behandelnden Arzt Prof. Dr. Z. ein Zusammenhang zwischen der damals festgestellten Gonarthrose im rechten Kniegelenk und der Unfallverletzung des Beines vor zehn Jahren "möglich". Eine am 22. Januar 1997 durchgeführte Arthroskopie des rechten oberen Sprunggelenkes ergab nach Ansicht von Prof. Dr. Z. eine "sekundäre Arthrose rechtes oberes Sprunggelenk Stadium I", die in Zusammenhang mit der Unfallverletzung vom September 1984 stehe.

Die Klägerin hat am 30. Oktober 1997 Klage auf Ersatz ihres Erwerbsschadens für die Zeit vom 1. Februar 1995 bis 30. September 1997 sowie auf Feststellung der Pflicht zum Ersatz materieller Zukunftsschäden wegen der Knieverletzung erhoben. Sie habe aufgrund der nicht vorhersehbaren Schäden am rechten Knie ihre Tätigkeit als Krankenschwester aufgeben müssen, weshalb ihr in der genannten Zeit ein Verdienst in Höhe von 27.752,30 DM entgangen sei.

Das Landgericht hat die Klage wegen Verjährung abgewiesen. Mit ihrer Berufung hat die Klägerin vorgetragen, die Folgeschäden am rechten Knie und am rechten oberen Sprunggelenk seien im Zeitpunkt des Unfalles auch für Ärzte nicht vorhersehbar gewesen. Das Berufungsgericht hat durchsetzbare Schadensersatzansprüche der Klägerin verneint. Dagegen wendete sie sich mit der zugelassenen Revision, mit der sie ihr Begehren allein noch auf die Schäden aus der Arthrose im rechten oberen Sprunggelenk stützt.

Das Rechtsmittel blieb erfolglos.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... I.

Schadensersatzansprüche der Klägerin sind nach Ansicht des Berufungsgerichts verjährt. Es hat dazu im wesentlichen ausgeführt, die Verjährungsfrist von drei Jahren gemäß §§ 14 StVG, 852 BGB sei abgelaufen. Die Verjährungsfrist beginne mit der Kenntnis des Schadens im allgemeinen und umfasse alle Schadensfolgen, die als möglich vorauszusehen seien. Für Spätschäden gelte dabei in der Regel die Sicht medizinischer Fachkreise. Die schweren degenerativen Erscheinungen, die im Rahmen der Arthroskopie im Knieinnenraum rechts aufgedeckt worden seien, rechtfertigten zwar zugunsten der Klägerin die Annahme, dass diese Schadensfolgen nach gesicherter medizinischer Erkenntnis im Zeitpunkt der allgemeinen Kenntnis vom Schaden auch für Fachkreise nicht zu erwarten und nicht vorhersehbar gewesen seien. Für diese Schäden komme es daher auf den Kenntnisstand der Geschädigten an. Die Klägerin habe jedoch von der Möglichkeit eines Zusammenhangs mit dem Unfall bereits bei der arthroskopischen Untersuchung am 31. Januar 1994, spätestens aber am 3. Februar 1994, als sie einen Verschlimmerungsantrag an die Berufsgenossenschaft gestellt habe, erfahren und Kenntnis davon gehabt, dass die Kniebeschwerden eine mögliche Unfallfolge seien. Die hierdurch in Lauf gesetzte Verjährungsfrist sei spätestens am 3. Februar 1997, also vor Einreichung der Klage abgelaufen gewesen.

Soweit die Klägerin sich auf die am 22. Januar 1997 festgestellte sekundäre Arthrose im rechten oberen Sprunggelenk berufe, seien ihre Ansprüche gleichfalls verjährt. Die zentralen Primärverletzungen - Unterschenkeltrümmerbruch und Oberschenkelschaftbruch - hätten das rechte Bein betroffen. Nach Feststellung der Gonarthrose im Knie sei die Möglichkeit von weiteren Spätfolgen an einem benachbarten Gelenk auch bei laienhafter Betrachtung nicht fernliegend gewesen. Der gesamte aus einer unerlaubten Handlung entstehende Schaden stelle eine Einheit dar. Es komme deshalb für den Beginn der Verjährung grundsätzlich nicht darauf an, wann der Verletzte von den einzelnen Schadensfolgen Kenntnis erlange. Mit Kenntnis der Arthrose im Kniegelenk sei deshalb hinsichtlich des Beginns der Verjährung auch die sekundäre Arthrose im rechten oberen Sprunggelenk als der Klägerin bekannt zu werten.

II.

Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung im entscheidenden Punkt nicht stand. Die Einrede der Verjährung von Ansprüchen der Klägerin aus der Arthrose des rechten oberen Sprunggelenks kann auf der Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen keinen Erfolg haben.

1. Allerdings sind die Erwägungen des Berufungsgerichts zur Verjährung im Ansatzpunkt aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Nach § 852 Abs. 1 BGB, § 14 StVG beginnt - sofern die weiteren Verjährungsvoraussetzungen vorliegen - die dreijährige Verjährung eines deliktischen Schadensersatzanspruchs in dem Zeitpunkt, in dem der Verletzte von dem Schaden Kenntnis erlangt. Bereits die allgemeine Kenntnis vom Schaden genügt, um die Verjährungsfrist in Lauf zu setzen; wer sie erlangt, dem gelten auch solche Folgezustände als bekannt, die im Zeitpunkt der Erlangung jener Kenntnis überhaupt nur als möglich voraussehbar waren. Dabei kommt es für die Beantwortung der Frage nach der möglichen Voraussehbarkeit nicht stets auf die Sicht des Geschädigten an. Für Körperschäden, wie sie hier in Rede stehen, gilt vielmehr, dass die Sicht der medizinischen Fachkreise entscheidend ist. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nur in eng begrenzten Fallkonstellationen hinnehmbar. Dazu gehören Sachverhalte, in denen sich Folgezustände erst später unerwartet einstellen. In solchen Fällen ist der Beginn der Verjährung in der Regel von dem Zeitpunkt an zu rechnen, in dem der Verletzte von den nachträglich eingetretenen Schäden Kenntnis erhält (vgl. Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - VI ZR 71/96 - VersR 1997, 1111 f.).

Hier waren die Folgeschäden, auf die die Klägerin ihre Schadensersatzansprüche stützt, nach ihrer - bestrittenen - Behauptung, die mangels gegenteiliger Feststellung des Berufungsgerichts zugunsten der Klägerin der revisionsrechtlichen Prüfung zugrunde zu legen ist, im Zeitpunkt der allgemeinen Schadenskenntnis auch für Ärzte nicht vorhersehbar. Die Besonderheit des Falles besteht darin, dass in der Folgezeit nach dem Vortrag der Klägerin neben den "primären" Unfallverletzungen - Unterschenkeltrümmerbruch und Oberschenkelschaftbruch rechts - unvorhersehbar nicht nur eine Arthrose im rechten Knie, sondern auch eine sekundäre Arthrose im rechten oberen Sprunggelenk aufgetreten ist. Streitig ist in der Revisionsinstanz nur der letztere Schaden. Damit stellt sich die Frage, ob für die Beurteilung der Kenntnis dieses Schadens im Sinne von §§ 14 StVG, 852 Abs. 1 BGB auf den Zeitpunkt, in dem die Kniegelenksarthrose als Unfallfolge erkannt worden ist, oder auf die Untersuchungsergebnisse vom 22. Januar 1997 in Verbindung mit dem Schreiben Prof. Dr. Z. vom 5. Februar 1997 abzustellen ist, durch die die Klägerin von einem Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Arthrose des rechten oberen Sprunggelenks Kenntnis erhalten hat.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist auf den letzten Zeitpunkt abzustellen. Wenn die Schädigungsfolge, auf die die Klägerin ihre Schadensersatzansprüche stützt, entsprechend ihrer (bestrittenen) Behauptung im Zeitpunkt der allgemeinen Schadenskenntnis auch für Fachärzte nicht als möglich vorhersehbar war, wird sie nicht von der Schadenseinheit umfasst. Diese beruht auf dem Gedanken, dass der Geschädigte nach dem Schadensbild, das sich ihm zeigt, keinen naheliegenden Grund hat, sich über später möglicherweise noch eintretende Schäden von einem Fachkundigen beraten zu lassen oder zur Abwehr der Verjährung eine Feststellungsklage zu erheben. Bei Schäden, die außerhalb der Schadenseinheit liegen, verbleibt es vielmehr für den Beginn der Verjährungsfrist bei dem Regelfall des § 852 Abs. 1 BGB. Das bedeutet, dass für den Beginn der Verjährung des Anspruchs auf Ersatz solcher Schäden entsprechend der gesetzlichen Regelung die positive Kenntnis des Geschädigten selbst maßgeblich ist (vgl. Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - VI ZR 71/96 - aaO). Das gilt bei mehreren, zeitlich auseinanderfallenden Spätfolgen auch hinsichtlich der zuletzt eingetretenen selbst dann, wenn diese für Fachkreise aufgrund der vorausgegangenen Spätschäden voraussehbar gewesen wären. Eine "sekundäre Schadenseinheit" - wie sie dem Berufungsgericht offensichtlich vorschwebt - gibt es nicht.

2. Hinsichtlich der nachträglich aufgetretenen Arthrose im oberen Sprunggelenk konnte nach diesen Grundsätzen die Verjährungsfrist erst beginnen, wenn die Klägerin positive Kenntnis von der Möglichkeit dieser Arthrose als Unfallfolge hatte. Eine solche Kenntnis der Klägerin hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. dass es die Möglichkeit dieser Spätfolge für medizinische Laien als nicht fernliegend angesehen hat, genügt nicht zur Annahme positiver Kenntnis der Klägerin. Weder Vermutungen noch fahrlässige Unkenntnis reichen aus, um die Verjährungsfrist in Lauf zu setzen (§ 852 Abs. 1 BGB). Sollten die Erwägungen in dem angefochtenen Urteil dagegen dahin zu verstehen sein, die Klägerin habe positive Kenntnis von der Möglichkeit einer Arthrose im Sprunggelenk als Unfallfolge besessen, fehlten hierzu ausreichende tatsächliche Feststellungen des Berufungsgerichts.

3. Das angefochtene Urteil ist nach allem aufzuheben (§ 564 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 565 Abs. 1 ZPO), das - gegebenenfalls nach ergänzendem Vorbringen der Parteien - die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben wird. Dabei wird es auch Gelegenheit haben, seinen von der Revisionserwiderung angegriffenen Ausgangspunkt, die Möglichkeit einer Arthrose im oberen Sprunggelenk sei aus fachmedizinischer Sicht nicht bereits zum Unfallzeitpunkt vorhersehbar gewesen, zu überprüfen. ..."