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OLG Köln Urteil vom 30.11.2006 - 14 U 10/06 - Auf „Verteilerfahrbahnen” besteht nach der gegenwärtigen Rechtslage keine Vorfahrtsregelung
OLG Köln v. 30.11.2006: Auf „Verteilerfahrbahnen” besteht nach der gegenwärtigen Rechtslage keine Vorfahrtsregelung
Das OLG Köln (Urteil vom 30.11.2006 - 14 U 10/06) hat entschieden:
Auf „Verteilerfahrbahnen” besteht nach der, gegenwärtigen Rechtslage keine Vorfahrtsregelung, sondern es gilt nur die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme und Verständigung nach § 1 II StVO. Die Zunahme der „Verteilerfahrbahnen” legt aber eine klare gesetzliche Regelung nahe.
Siehe auch Autobahn-"Verteilerfahrbahnen" und Stichwörter zum Thema Autobahn
Zum Sachverhalt: Der Kl. fuhr im Bereich des Autobahnkreuzes Köln-Süd auf der A 555 (Bonn-Köln) und wollte auf die A 4 (Richtung Aachen) abbiegen. Der Bekl. fuhr auf der A 4 und wollte auf die A 555 (Richtung Köln Stadtmitte) abbiegen. Beide Fahrzeuge befanden sich auf den „Verteilerfahrbahnen”, der Kl. zunächst auf der linken Fahrbahn, um sich auf die rechte Fahrbahn einzuordnen und dann auf die A 4 zu fahren, der Bekl. zunächst auf der rechten Fahrbahn, um sich auf die linke Fahrbahn einzuordnen, um anschließend auf der A 555 nach Köln zu fahren. Bei dem wechselseitigen Spurwechsel - oder nach der Darstellung des Kl., nachdem er sich auf der rechten Verteilerspur eingeordnet hatte - kam es zum Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge.
Der Kl. behauptet, der Bekl. sei aufgefahren, als er schon ganz auf der rechten Spur gewesen sei und hinter dem Fahrzeug des Zeugen P (wegen Staus) gehalten habe. Der Bekl. behauptet, der Kl. habe sich vor ihn „reingequetscht” und er habe nicht mehr ausweichen können.
Durch Urteil vom 24. 4. 2006 hat das LG (Einzelrichter) den mit Klage und Widerklage geltend gemachten unterschiedlich hohen - vom LG festgestellten - Schaden halbiert. Auf der „Verteilerfahrbahn” gelte keine Vorfahrtsregelung, sondern nur die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme und Verständigung. Ein schuldhafter Verstoß gegen diese Pflicht könne beiderseits nicht festgestellt werden.
Mit ihren - selbstständigen - Berufungen wendeten sich beide Parteien gegen das Urteil.
Die Bekl. machten geltend, das „Hineinquetschen” des Kl. zu 1) sei als beweisen anzusehen.
Der Kl. machte geltend, schon auf Grund des unstreitigen Sachverhalts, mindestens aber auf Grund der Beweisaufnahme stehe die 100%-ige Haftung der Bekl. fest, denn der Bekl. zu 1) sei aufgefahren, dafür spreche auch der Beweis des ersten Anscheins.
Die beiden - selbstständigen - Berufungen hatten insoweit keinen Erfolg.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Das LG hat Recht, wenn es § 18 III StVO - auf Autobahnen hat der Verkehr auf der durchgehen-den Fahrbahn die Vorfahrt - nicht für anwendbar hält, denn auf den „Verteilerfahrbahnen” gibt es keine „durchgehende Fahrbahn”, da die eine wie die andere Fahrbahn dem Wechsel auf die andere Autobahn dient - der typische Autofahrer fährt nicht geradeaus, um zu seiner ursprünglichen Autobahn zurückzugelangen, weil er dann viel einfacher auf der Fahrbahn seiner Autobahn hätte bleiben können (ebenso OLG Düsseldorf, NZV 1989, 404).
2. Es gilt auf den Verteilerfahrbahnen auch nicht die Regelung des § 8 StVO (rechts vor links), denn es handelt sich bei den „Verteilerfahrbahnen” nicht um Kreuzungen oder Einmündungen. Im übrigen: Wenn die Regelung des § 8 StVO gelten würde, hätte der von rechts Kommende (also der Bekl.) stets Vorfahrt, das ist bei Einordnungsvorgängen, die beide Fahrzeuge betreffen, aber nicht sachgerecht.
3. Gegen § 7 V StVO - Fahrstreifenwechsel nur, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist - ist auch nicht verstoßen worden, denn das Gebot des Fahrstreifenwechsels nur ohne Gefährdung gilt nicht dort, wo der Fahrstreifenwechsel „typisch” ist. Typisch ist er bei Verteilerfahrbahnen (so auch OLG Düsseldorf, NZV 1989, 404 und Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 7 Rdnr. 17), weil jeder auf dem Weg zur Auffahrt auf die andere Autobahn ist.
4. Es gilt ferner auf Verteilerfahrbahnen nicht das „Reißverschlussverfahren” (§ 7 IV StVO), denn es handelt sich nicht um mehrere Fahrstreifen für eine Richtung.
5. Gegen § 4 I StVO (Abstandsgebot) hat der Bekl. auch nicht verstoßen, denn es ist die ernsthafte Möglichkeit offen geblieben, dass der Kl. sich in die Lücke vor dem Fahrzeug des Bekl. „hineingequetscht” hat.
Was der Kl. hiergegen vorbringt, überzeugt nicht. Zwar spricht ein Beweis des ersten Anscheins für das Verschulden des Auffahrenden, allerdings wird dieser Beweis erschüttert, wenn die ernsthafte Möglichkeit in Betracht kommt, dass das vorausfahrende Fahrzeug unmittelbar in die Fahrbahn des Auffahrenden gewechselt ist und dadurch den Bremsweg der Nachfahrenden unzulässig verkürzt hat. Davon ist hier auszugehen.
Der KI. stützt seine Berufung in erster Linie darauf, dass er auf Veranlassung der Bekl. als Partei vernommen worden ist der Bekl. hingegen nur angehört worden ist. Diese formale Stellung kann für die Beweiswürdigung nicht entscheidend sein, sondern das LG war ungehindert, beide Darstellungen als nicht bewiesen anzusehen. Das sieht auch der Senat so. Die nach § 17 I 2 StVG vorzunehmende Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile ergibt daher kein überwiegendes Verschulden eines der Unfallbeteiligten, so dass der ihnen jeweils entstandene Schaden hälftig zu teilen ist. Die vom Kl. angebotene Einholung eines Sachverständigengutachtens ist ungeeignet, weil es keine neuen Erkenntnisse bringen kann.
6. Auf „Verteilerfahrbahnen” besteht daher keine Vorfahrtsregelung, sondern es gilt nur 1 II StVO, die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme und Verständigung (so auch OLG Düsseldorf, NZV 1989, 404; zustim. Boß, VM 1989, 95; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl. (2005), § 7 StVO Rdnr. 17). Dies ist nach der gegenwärtigen Rechtslage unverändert so, wenn auch die Zunahme solcher Verteilerfahrbahnen infolge der Zunahme der Autobahnkreuze eine klare gesetzliche Regelung nahe legt. ..."