Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 15.06.1982 - VI ZR 119/81 - Zum Vertrauensgrundsatz des rechts in eine Vorfahrtstraße Einbiegenden

BGH v. 15.06.1982: Zum Vertrauensgrundsatz des rechts in eine Vorfahrtstraße Einbiegenden


Der BGH (Urteil vom 15.06.1982 - VI ZR 119/81) hat zur Haftungsverteilung bei der Kollision eines gegen das Rechtsfahrgebot verstoßenden Vorfahrtberechtigtem mit einem wartepflichtigen Einbieger und zur Anwendung des Anscheinsbeweises bei einer Vorfahrtverletzung entschieden:
  1. Ein Wartepflichtiger, der nach rechts in eine Vorfahrtstraße einbiegen will, kann grundsätzlich davon ausgehen, er werde keinen Vorfahrtberechtigten an der Weiterfahrt behindern, wenn sich bei Beginn seines Einbiegens nicht nur von links keine Fahrzeuge nähern, sondern auf der Vorfahrtstraße auch die für ihn rechte Straßenseite frei ist und keine Anzeichen dafür sprechen, dass eines der sich auf der bevorrechtigten Straße von rechts nähernden Fahrzeuge die Fahrbahnseite wechseln werde.

  2. Zum Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtverletzung.

Siehe auch Das Vorfahrtrecht und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Zum Sachverhalt:

Der Kläger bog am 21. Juli 1978 mit seinem Personenkraftwagen nach rechts auf eine ihm gegenüber bevorrechtigte, 6,30 m breite Bundesstraße ein. Hierbei stieß er mit dem ihm auf der Bundesstraße entgegenkommenden Pkw des Erstbeklagten zusammen, der bei der Zweitbeklagten gegen Haftpflicht versichert war und gerade einen mit etwa 80 km/st fahrenden LKW überholen wollte. An beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden.

Der Kläger hat behauptet, er sei mit eingeschaltetem Blinker an die Kreuzung herangefahren; dort habe er angehalten und auch gesehen, dass sich - für ihn von rechts - eine Fahrzeugkolonne näherte. Er habe sich dennoch für befugt gehalten, in die Bundesstraße einzubiegen, da die für ihn rechte Fahrbahn frei gewesen sei. Als sich sein Fahrzeug bereits wieder in Geradeausrichtung befunden habe, sei der Erstbeklagte plötzlich aus der Kolonne ausgeschert und habe zum Überholen angesetzt.

Das Landgericht hat der Schadensersatzklage, mit welcher der Kläger die Hälfte seines Sachschadens geltend gemacht hat, stattgegeben. Die Berufung sowie die zugelassene Revision der Beklagten blieben erfolglos.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Das Berufungsgericht vermochte - ebenso wie das Landgericht - weder festzustellen, dass der Erstbeklagte bereits zum Überholen angesetzt oder geblinkt hat, als der Kläger einzubiegen begann, noch dass er erst zu überholen begann, nachdem der Kläger schon teilweise eingebogen war. Deshalb konnte nach seiner Auffassung sowohl dem Kläger als auch dem Erstbeklagten eine verkehrswidrige Fahrweise nicht vorgeworfen werden. Andererseits sieht das Berufungsgericht bei der gegebenen Sachlage den Unfall für keinen der beiden Fahrer als unabwendbar im Sinne des § 7 StVG an. Bei gleich hoher Bewertung der beiderseitigen Betriebsgefahren erachtet es das Berufungsgericht daher für angemessen, dass beide Parteien in gleichem Maße für die Unfallfolgen einzustehen haben.

II.

Die nur gegen die rechtliche Würdigung gerichteten Rügen der Revision können im Ergebnis keinen Erfolg haben.

1. Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht aufgrund des festgestellten Sachverhalts zu dem Ergebnis gelangt, dem Kläger sei eine Vorfahrtverletzung nicht nachzuweisen.

a) Zutreffend macht die Revision allerdings geltend, dass der Erstbeklagte gegenüber dem Kläger vorfahrtberechtigt war. Davon geht aber auch das Berufungsgericht aus. Es weist ausdrücklich darauf hin, dass sich das Recht des Erstbeklagten zur Vorfahrt auf die volle Breite der bevorrechtigten Bundesstraße erstreckte.

b) Dem Kläger wäre eine Vorfahrtverletzung nur vorzuwerfen, wenn er entgegen § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO in die Bundesstraße eingebogen wäre. Davon, dass der Kläger seine Wartepflicht verletzt hat, konnte sich das Berufungsgericht jedoch aufgrund der getroffenen Feststellungen ohne Rechtsverstoß nicht überzeugen.

Nach dieser Vorschrift darf der Wartepflichtige allerdings nur dann weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert, wenn er also keine Zweifel in dieser Hinsicht haben kann. Das Berufungsgericht geht dennoch rechtsfehlerfrei davon aus, dass dem Kläger danach das Einbiegen in die bevorrechtigte Bundesstraße im Hinblick auf den auf ihr von rechts nahenden Fahrzeugverkehr nicht schlechthin verboten war, er also nicht - wie die Revision meint - erst dann hätte einbiegen dürfen, wenn die Bundesstraße in ihrer gesamten Breite frei gewesen wäre. Der erkennende Senat pflichtet dem Berufungsgericht bei, dass ein Wartepflichtiger, der nach rechts in eine Vorfahrtstraße einbiegen will, grundsätzlich davon ausgehen darf, er werde keinen der vorfahrtberechtigten Fahrer in der Weiterfahrt behindern, wenn beim Beginn des Einbiegens sich nicht nur von links keine Fahrzeuge nähern, sondern auch die für ihn rechte Straßenseite frei ist und keine Anzeichen dafür sprechen, dass eines der sich auf der bevorrechtigten Straße von rechts nähernden Fahrzeuge die Fahrbahnseite wechseln werde. Anzeichen dieser Art können z.B. sein: Anzeige der Richtungsänderung, Einordnen zur Fahrbahnmitte, besonders geringe, zum Überholen herausfordernde Geschwindigkeit vorausfahrender Fahrzeuge, parkendes Kfz oder Fußgänger, welche die sich nähernden Fahrzeuge zum Ausbiegen veranlassen können usw. (vgl. OLG Hamm, VRS 30, 130; OLG Karlsruhe, VRS 43, 306, 308; OLG Köln, VRS 39, 140; OLG Schleswig, VerkMitt 1972, 79, 80; siehe auch Booß, StVG, 3. Aufl., § 8 Anm. 7; Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 26. Aufl., § 8 StVO, Rdn. 64; Full/Möhl/Rüth, Straßenverkehrsrecht, § 8 StVO, Rdn. 17). Eine solche Auslegung der Vorfahrtregelung fügt sich in deren Gesamtkonzeption ohne weiteres ein. Die noch weitergehende Auffassung des BayObLG (VRS 34, 471, 472; 40, 76; 50, 309, 310 = DAR 1976, 108), wonach ein Einbiegen schon zulässig sein soll, wenn keines der bevorrechtigten Fahrzeuge im Überholen begriffen ist oder seine Überholabsicht deutlich angezeigt hat, wäre allerdings nach Auffassung des Senats mit § 8 Abs. 2 StVO nicht zu vereinbaren.

c) Da das Berufungsgericht nicht feststellen konnte, dass der Erstbeklagte Blinkzeichen gegeben hatte, die seine Überholabsicht hätten anzeigen können, könnte dem Kläger eine Vorfahrtverletzung nur angelastet werden, wenn sonstige Anzeichen für einen bevorstehenden Überholvorgang bestanden hätten. Die Ausführungen des Berufungsgerichts, dem Kläger könne nicht nachgewiesen werden, dass derartige Anzeichen vorhanden waren, lassen einen Rechtsfehler nicht erkennen. Dabei kann dahinstehen, ob dem Berufungsgericht in seiner etwaigen Ansicht gefolgt werden kann, es bestünden dann keine Anzeichen dafür, dass aus einer entgegenkommenden Fahrzeugkolonne ein Fahrer zum Überholen ansetzt, wenn sich in dieser außer Personenkraftwagen auch "langsam fahrende LKW" befinden. Das Berufungsgericht hat festgestellt (BU S. 10), dass der LKW, den der Erstbeklagte überholte, eine Geschwindigkeit von 80 km/st einhielt. Bei einer solchen Geschwindigkeit braucht jedenfalls ein grundsätzlich Wartepflichtiger, der auf eine Vorfahrtstraße einbiegen will, dabei - wie zugunsten des Klägers anzunehmen ist - seine Richtungsänderung angezeigt hat und von dem entgegenkommenden Fahrzeugführer als Einbiegungswilliger erkannt werden kann, nicht damit zu rechnen, dass ein hinter dem LKW fahrender Pkw-Fahrer plötzlich zum Überholen ansetzt, ohne dies vorher durch Blinkzeichen oder wenigstens durch Einordnen zur Fahrbahnmitte hin angezeigt zu haben. Dies gilt zumindest dann, wenn - wie im Streitfall - die Vorfahrtstraße verhältnismäßig schmal (hier 6,30 m breit) ist. Dem steht nicht entgegen, dass das Gebot, vor dem Überholen ein Blinkzeichen zu setzen, erst durch die Neufassung der StVO aus dem Jahre 1970 eingeführt wurde. Im Unfallzeitpunkt waren immerhin mehr als sieben Jahre seit Inkrafttreten dieses Gebotes vergangen.

2. Rechtlich einwandfrei kommt das Berufungsgericht ferner zu dem Ergebnis, gegen den Kläger spreche nicht der Beweis des ersten Anscheins.

a) Das Berufungsgericht hat nicht übersehen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung einen Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen regelmäßig dann annimmt, wenn auf einer Kreuzung oder Straßeneinmündung zwei Kraftfahrzeuge zusammenstoßen (BGH, Urteile vom 19. März 1964 - III ZR 177/62 - VersR 1964, 639, 640 und vom 18. November 1975 - VI ZR 172/74 - VersR 1976, 365, 367, jeweils m.w.Nachw.).

b) Voraussetzung für die Annahme eines Anscheinsbeweises ist aber stets, dass es sich bei der Beweisfrage um einen typischen Geschehensablauf handelt, der unter Verwertung allgemeiner Erfahrungssätze die Bejahung der Beweisfrage nahelegt und damit dem Richter die Überzeugung in vollem Umfang begründet (BGHZ 2, 1, 5; 24, 308, 312; Senatsurteile vom 1. April 1953 - VI ZR 77/52 - VersR 1953, 242 und vom 22. Mai 1979 - VI ZR 97/78 - VersR 1979, 822, 823). Ein solcher Erfahrungssatz für eine Vorfahrtverletzung besteht, wenn ein Wartepflichtiger beim Überqueren einer Vorfahrtstraße oder beim Einbiegen nach links mit einem Vorfahrtberechtigten zusammenstößt bzw. wenn es beim Einbiegen nach rechts zu einer Kollision mit einem sich von links nähernden Vorfahrtberechtigten kommt. Anders ist es, worauf die Revision mit Recht hinweist, jedoch dann, wenn ein Wartepflichtiger nach rechts in eine Vorfahrtstraße einbiegt und dabei auf der rechten Fahrbahnseite gegen einen von rechts kommenden und im Überholen begriffenen Verkehrsteilnehmer stößt. Im Hinblick darauf, dass der Wartepflichtige - wie ausgeführt - bei einer solchen Fallgestaltung keine Vorfahrtverletzung begeht, wenn keine Anzeichen dafür sprechen, dass eines der sich auf der Vorfahrtstraße nähernden Fahrzeuge die Fahrbahnseite wechselt, und auch das Vorhandensein solcher Anzeichen nicht sachverhaltstypisch ist, spricht hier kein erster Anschein für eine Vorfahrtverletzung des Klägers als Ursache des Zusammenstoßes.

3. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung ist ebenfalls rechtsfehlerfrei. Die Revision hat diese nur für den Fall angegriffen, dass der Kläger schuldhaft die Vorfahrt des Erstbeklagten verletzt hätte. Das aber kann - wie ausgeführt - nicht angenommen werden. ..."