Das Verkehrslexikon

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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 27.04.1990 - 2 U 217/89 - Zur Mithaftung des Vorfahrtberechtigten für das Schneiden der Kurve

OLG Frankfurt am Main v. 27.04.1990: Der Wartepflichtige muss sich darauf einstellen, dass Bevorrechtigte beim Abbiegen möglicherweise die Kurve schneiden. Den Vorfahrtberechtigten trifft jedoch eine erhebliche Mithaftung (hier: 60%)


Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 27.04.1990 - 2 U 217/89) hat bei einem Kurvenschneiden des in die Nebenstraße abbiegenden Vorfahrtberechtigten eine Mithaftung von 40 % angenommen:
Der Wartepflichtige muss sich darauf einstellen, dass Bevorrechtigte beim Abbiegen möglicherweise die Kurve schneiden. Den Vorfahrtberechtigten trifft jedoch eine erhebliche Mithaftung (hier: 60%).


Siehe auch Das Vorfahrtrecht und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Zum Sachverhalt: Der von der Zeugin Sch gesteuerte Pkw des Kl. kollidierte mit dem Pkw der Bekl., der - aus der Sicht der Zeugin Sch von rechts kommend - an einer nicht durch Vorfahrtzeichen geregelten, trichterförmigen Einmündung, die Kurve schneidend, nach links einbog. Der auf Ersatz des am kl. Fahrzeug entstandenen Schadens gerichteten Klage hat das LG zu 50%, das BerGer. zu 60% stattgegeben.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Wie das LG zutreffend festgestellt hat, hat sich der Zusammenstoß noch im Kreuzungsbereich ereignet. Die von der Bekl. befahrene Straße ist an ihrer Einmündung trichterförmig erweitert. Der Vorfahrtsbereich des aus einer solchen Einmündung nach links einbiegenden Vorfahrtsberechtigten umfasst die gesamte Fläche der Fahrbahn bis zu den Endpunkten dieser Erweiterung einschließlich der für den Wartepflichtigen rechten Fahrbahnhälfte (BGHSt 20, 238 [240]; Jagusch/Hentschel, StraßenverkehrsR, 30. Aufl., § 8 StVO Rdnr. 28). Wie der Sachverständige W in seinem Gutachten in nachvollziehbarer und überzeugender Weise ausgeführt hat, hatte die Zeugin Sch den danach maßgeblichen Beginn des Einmündungstrichters bereits um 3,4 m passiert, ehe es zur Kollision kam. ...

Die Bekl. hat ihr Vorfahrtsrecht nicht etwa dadurch verloren, dass sie zum Abbiegen nach links verkehrswidrig die linke Fahrbahnseite benutzt hat. Denn dieses Recht ist nicht davon abhängig, dass der Berechtigte sich selbst verkehrsrichtig verhält, entfällt also auch dann nicht, wenn er beim Einbiegen nach links die Kurve schneidet (BGH, VRS 10, 19 [20]; 22, 134 [135); VersR 1966, 294). Schneidet der Linksabbieger die Kurve in einem engen Linksbogen, ist er daher jedenfalls dann noch bevorrechtigt, wenn er - wie hier - noch auf der Kreuzungsfläche mit dem Wartepflichtigen zusammentrifft (KG, DAR 1978, 20).

Die Zeugin Sch hat die Vorfahrtsverletzung auch schuldhaft begangen. Das Verschulden entfällt nicht deshalb, weil die Bekl. die für sie linke Straßenseite befahren hat. Denn der Wartepflichtige darf die Möglichkeit nicht außer Betracht lassen, dass bevorrechtigte Straßenbenutzer - aus welchen Gründen auch immer - die für sie linke Fahrbahnseite benutzen und beim Einbiegen nach links die Kurve schneiden (BGHSt 20, 238 [241]; BGH, VRS 10, 19 [20]). Der Grundsatz, wonach der Wartepflichtige darauf vertrauen darf, dass sich der Vorfahrtsberechtigte verkehrsgemäß verhalte, erfährt insoweit zu Lasten des Wartepflichtigen, dem das Gesetz eine gesteigerte Sorgfaltspflicht gegenüber dem Vorfahrtsberechtigten auferlegt, eine Einschränkung, als er sich nicht darauf verlassen darf, dieser werde nur die rechte Fahrbahnseite befahren. Denn nur so kann die Vorfahrtsregelung als eine der wesentlichen Grundlagen des Straßenverkehrsrechts ihren Zweck erfüllen, der besonders an unübersichtlichen Kreuzungen und Straßeneinmündungen bestehenden Gefahr des Zusammenstoßes von Fahrzeugen zu begegnen (BGH, VRS 10, 21; 22, 134). Die Zeugin Sch durfte sich daher der von rechts einmündenden Straße nur so langsam und vorsichtig nähern, dass sie einen Zusammenstoß selbst dann noch vermeiden konnte, wenn ein von rechts kommendes Fahrzeug die linke Straßenseite benutzte und beim Einbiegen die Kurve schnitt. In dieser Weise hat sie sich indessen nicht verhalten.

Demgegenüber kann sich der Kl. nicht darauf berufen, dass die Zeugin Sch angesichts des hohen Grasbewuchses am Straßenrand den Einmündungstrichter nicht rechtzeitig habe erkennen können. Denn wenn die Zeugin hierdurch in ihrer Sicht behindert war, mußte sie ihre Fahrweise auf die Möglichkeit einstellen, dass von rechts bevorrechtigte Straßen einmünden, die sie erst unmittelbar vor Erreichen des Vorfahrtsbereichs erkennen konnte. Dies gilt um so mehr, als sie trotz ihrer durch den Grasbewuchs am Straßenrand eingeschränkten Sicht rechts von ihr im Gelände stehende Häuser erkennen konnte und daher mit dem Einmünden von Straßen rechnen musste, die deren Erschließung dienen. Sie durfte daher nur so langsam und vorsichtig fahren, dass sie bei Erkennen der Einmündung und Auftauchen eines Vorfahrtsberechtigten schon am Anfang des Trichters sofort hätte anhalten können (BGHSt 20, 238 [241]). War sie tatsächlich in der vom Kl. behaupteten Weise in ihrer Sicht behindert, wäre auch die von ihr gefahrene Geschwindigkeit von 40 km/h zu hoch gewesen.

Ein Verschulden der Zeugin Sch lässt sich auch nicht im Hinblick darauf verneinen, dass der zugunsten des Vorfahrtsberechtigten bestehende Vertrauensgrundsatz insoweit eine Einschränkung erfährt, als der Wartepflichtige sich auch an einer trichterförmigen Einmündung darauf verlassen darf. dass sich ein für ihn noch nicht sichtbarer Vorfahrtsberechtigter (nicht; Einfügung der Red.) mit einer in Anbetracht der Sichtverhältnisse unverhältnismäßig hohen Geschwindigkeit der Einmündung nähert, so dass er ihn durch sein Auftauchen überrascht und außerstande setzt, noch rechtzeitig anzuhalten (BGHSt, 20, 238 [241]). Denn ein derart grob verkehrswidriges Verhalten lässt sich auf Seiten der Bekl. nicht feststellen. Dass sie mit überhöhter Geschwindigkeit abgebogen sei, wird von dem Kl. nicht einmal behauptet. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie, was einen erheblichen Schuldvorwurf begründen würde, äußerst links gefahren ist (BGHSt 20, 238 [241]), da es an Feststellungen dazu fehlt, in welchem Abstand vom linken Fahrbahnrand sie eingebogen ist. ...

Bei der nach § 17 12 StVG vorzunehmenden Haftungsverteilung ist somit neben der in etwa gleich großen allgemeinen Betriebsgefahr der unfallbeteiligten Kfz auf Klägerseite ein schuldhafter Verkehrsverstoß der Zeugin Sch in Ansatz zu bringen, den der Kl. sich als betriebsgefahrerhöhenden Umstand zurechnen lassen muss.

Demgegenüber ist aber auch auf Seiten der Bekl. zu berücksichtigen, dass diese den Unfall in schuldhafter Weise mitverursacht hat. Wer aus einer trichterförmig erweiterten Einmündung nach links in eine andere Straße einbiegen will, muss den Mittelpunkt der Trichterbreite rechts umfahren (BGH, VRS 27, 254 [255]; Mühlhaus/Janiszewski, StVO, 11. Aufl., § 9 Rdnr. 16). Dies folgt bereits aus dem Rechtsfahrgebot des § 2 II StVO, das auch für Linksabbieger im Einmündungstrichter gilt (Jagusch/Hentschel, § 9 StVO Rdnr. 30), und im übrigen aus dem Verbot des § 1 II StVO, andere zu schädigen oder zu gefährden oder mehr als unvermeidbar zu behindern oder zu belästigen (BayObLG, VRS 51, 369 [370]). Gegen diese Verhaltensnorm hat die Bekl. verstoßen, da sie beim Linksabbiegen die Kurve geschnitten hat.

Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile ergibt sich, dass die Zeugin Sch aufgrund der ihr zur Last zu legenden Vorfahrtsverletzung wesentlich zu dem Unfallgeschehen beigetragen hat, wenngleich der ihr anzulastende Verschuldensvorwurf angesichts der Unübersichtlichkeit der Einmündung und dem unfallursächlichen Schneiden der Kurve durch die Bekl., wodurch ihr Anhalteweg maßgeblich verkürzt worden ist, nicht allzu schwer wiegt. Demgegenüber trifft die Bekl. das größere Verschulden an dem Unfall, da sie durch das Kurvenschneiden die ihr obliegende Verkehrspflicht in erheblichem Maße verletzt und hierdurch den Unfall überwiegend verursacht hat. Angesichts der Unübersichtlichkeit der Einmündung musste sich ihr aufdrängen, dass sie durch Benutzung der linken Fahrbahn einem von links kommenden Wartepflichtigen die rechtzeitige Wahrnehmung ihres Fahrzeugs beträchtlich erschweren und hierdurch dessen Anhalteweg entscheidend verkürzen konnte. Unter diesen Umständen erscheint es angemessen, die Bekl. zu 60% für den Unfallschaden des Kl. haften zu lassen und diesen selbst nur zu 40% an der Schadenstragung zu beteiligen. ..."