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OLG Hamm Urteil vom 02.02.2000 - 13 U 155/99 - Der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug bereits sichtbar ist
OLG Hamm v. 02.02.2000: Der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug bereits sichtbar ist
Das OLG Hamm (Urteil vom 02.02.2000 - 13 U 155/99) hat entschieden:
Der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht des herannahenden Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem er sich zum Einfahren in die Vorfahrtstraße entschließt, bereits sichtbar ist. Ist dies nicht der Fall und begeht der Einbiegende sodann keinen weiteren Fahr- oder Reaktionsfehler, haftet der mit überhöhter Geschwindigkeit fahrende Vorfahrtberechtigte für den Schaden allein.
Siehe auch Das Vorfahrtrecht und Stichwörter zum Thema Vorfahrt
Zum Sachverhalt: Am Unfalltag gegen 14.10 Uhr befuhr der Kläger mit dem Krad Suzuki (500 cm3) die Straße "I K" aus Richtung R-D kommend in Fahrtrichtung R-A. Hier gilt eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 Km/h. Im Bereich der aus seiner Sicht von rechts einmündenden, untergeordneten Straße "J" kollidierte er mit dem von dem Beklagten zu 1) geführten, bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten, Lkw (Viehtransporter) der Firma W aus H, der im Begriff war, aus dem "J" kommend nach links in die Straße "I K" in Fahrtrichtung R-D einzubiegen.
Der Kläger stürzte im Zuge des Unfallgeschehens auf die Fahrbahn und prallte gegen das linke Hinterrad des Lkw. Er erlitt erhebliche Verletzungen.
Der Kläger hat behauptet, der Beklagte zu 1) habe seine Vorfahrt mißachtet. Der Beklagte zu 1) habe ihn, den Kläger, bereits zum Zeitpunkt des Einbiegeentschlusses wahrgenommen bzw. wahrnehmen müssen. Jedenfalls habe der Beklagte zu 1) den Abbiegevorgang abbrechen und die Kollision vermeiden können. Hingegen habe er, der Kläger, die an der Unfallörtlichkeit zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nicht überschritten. Allenfalls sei er mit 60 km/h gefahren.
Die Beklagten haben behauptet, daß der Kläger die zulässige Höchstgeschwindigkeit in erheblichem Umfange überschritten habe. Der Beklagte zu 1) habe den Kläger zum Zeitpunkt des Einbiegeentschlusses nicht erkennen können. Eine Vorfahrtsituation habe daher nicht bestanden. Als der Beklagte zu 1) den Kläger wahrgenommen habe, sei die Kollision nicht mehr zu vermeiden gewesen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen: Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. B habe der Kläger die zulässige Geschwindigkeit um 90 % überschritten, da die Ausgangsgeschwindigkeit etwa 95 km/h betragen habe.
Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht des herannahenden Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem er sich zum Einfahren in die Vorfahrtstraße entschließt, bereits sichtbar ist. Die bloße Möglichkeit, daß auf der Vorfahrtstraße ein anderes Fahrzeug herannahen könnte, löst noch keine Wartepflicht aus (BGH VersR 1994, 492; OLGR Hamm 1994, 147, jeweils m.w.N.).
bb) Dementsprechend kommt es vorliegend darauf an, ob der Beklagte zu 1) den Kläger zum Zeitpunkt des Einbiegeentschlusses wahrnehmen konnte. Dies hängt entscheidend von der vom Kläger gefahrenen Annäherungsgeschwindigkeit ab.
(1) Nach dem Ergebnis der ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme steht gemäß § 286 ZPO zur Überzeugung des Senats fest, daß der Beklagte zu 1) den Kläger aufgrund der von diesem gefahrenen (überhöhten) Ausgangsgeschwindigkeit von mehr als 80 km/h nicht wahrnehmen konnte, als er - der Beklagte zu 1) - sich entschloß, vom J nach links in die K einzubiegen.
Der Beklagten zu 1) hat sowohl im Ermittlungsverfahren als auch Im Rahmen seiner Anhörung gem. § 141 ZPO vor dem Landgericht und vor dem Senat nachvollziehbar angegeben, den Kläger erst wahrgenommen zu haben, als er sich nach dem Überfahren der Haltelinie bereits auf der Mitte der Straße befand. Der Kläger habe sich mit einer sehr hohen Geschwindigkeit genähert; er habe die Füße auf der Erde gehabt.
Der Senat ist von der Richtigkeit der Erklärungen des Beklagten zu 1), welchen im Rahmen der nach § 286 ZPO vorzunehmenden freien Beweiswürdigung neben den eigentlichen Beweismitteln Bedeutung zukommt (vgl. Zöller-Greger, ZPO, 21. Aufl., zu § 141 Rdnr. 1, zu § 286 Rdnr. 2 und 14), überzeugt. Dem steht die Darstellung des Klägers nicht entgegen. Denn der Kläger hat - nach eigenen Angaben aufgrund der beim Unfall erlittenen Verletzungen - an den Unfall keinerlei Erinnerung.
(2) Die Darstellung des Beklagten zu 1) wird entscheidend durch die Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. B, der dem Senat aus zahlreichen anderen verkehrsanalytischen Gutachten als besonders kompetent und erfahren bekannt ist, in seinen überzeugenden und nachvollziehbaren Gutachten vom 27. Oktober 1997 und 21. Mai 1999 sowie der im Senatstermin vorgenommenen Ergänzungen dieser beiden Gutachten bestätigt.
(a) Der Sachverständige hat den Unfall unter Berücksichtigung der vorgefundenen Unfallspuren, der an den beteiligten Fahrzeugen entstandenen Beschädigungen sowie der an der Unfallörtlichkeit zur Verfügung stehenden Sichtverhältnisse rekonstruiert. Er gelangt zu dem Ergebnis, daß für einen aus dem J kommenden und an der Haltelinie zur K haltenden Verkehrsteilnehmer ein von links herannahender - vorfahrtsberechtigter - Verkehrsteilnehmer sicher erst auf eine Entfernung von 120 m wahrzunehmen ist. Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Beklagte zu 1) mit dem Lkw bis zur Kollisionsstelle 13 m zurücklegte und der Lkw ausweislich der sichergestellten Diagrammscheibe bis zu einer Geschwindigkeit von 16 km/h beschleunigt wurde, standen dem Beklagten zu 1) zum Erreichen des Kollisionsortes 6 Sekunden zur Verfügung (5 Sekunden für die Fahrt und 1 Sekunde für den Entschluß). Demnach hätte sich Kläger außerhalb des Wahrnehmungsbereiches des Beklagten zu 1) zum Entschlußzeitpunkt befunden, wenn sich der Kläger mit einer Geschwindigkeit jenseits der 80 km/h der Unfallstelle genähert hätte.
(b) Hinsichtlich der vom Kläger gefahrenen vorkollisionären Ausgangsgeschwindigkeit hat der Sachverständige ausgeführt, daß eine Rückrechnung im klassischen Sinne nicht möglich sei. An dem Lkw seien Schäden nahezu nicht festzustellen. Die Schäden an dem Motorrad seien nicht aussagekräftig. Das Vorderrad sei von dem Lkw nach der Kollision noch überrollt worden. Unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen, u. a. auch einer Rutschweite des Klägers nach der Kollision von 7 - 8 m, ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, daß sich zwar im Wege einer Rückrechnung im klassischen Sinne keine Annäherungsgeschwindigkeit darstellen lasse, die über 50 km/h liege, eine solche Geschwindigkeit sich jedoch in ein Weg-Zeit-Diagramm nicht nachvollziehbar einbinden lasse und nicht plausibel erscheine. Bei einer Geschwindigkeit um 50 km/h hätte der Kläger erst 1,6 Sekunden vor der Kollision reagiert. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Lkw jedoch mit der Vorderfront bereits vollständig auf der Richtungsfahrbahn D und blockierte nahezu die gesamte Straßenbreite. Dies würde weiter bedeuten, daß der Kläger erst 2 Sekunden nach der Reaktionsaufforderung (Einfahren des Lkw auf 1 m) mit einer Blockierbremsung reagiert hätte. Zwischen Reaktion und Möglichkeit zur Reaktion verbliebe demnach eine Lücke von 2 Sekunden. Aus technischer Sicht sei diese "Lücke" mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu erklären, daß das Krad vor der Spurzeichnung (Länge 6,8 m) verzögert worden sei. Bei - angenommenen - Verzögerungen mit 3, 4, 5 und 6 m/s2 vor der eigentlichen Blockierbremsung (mit einer Verzögerung von 8 m/s2) ließen sich Annäherungsgeschwindigkeiten von 71, 78, 86 und 95 km/h darstellen. Dafür, daß das Motorrad vor der eigentlichen Spurzeichnung stark (5 bzw. 6 m/s2) verzögert worden ist, spreche der Umstand, daß sich das Motorrad dem Kollisionsort über die Gegenfahrbahn angenähert hat. Wie aus der Anlage B 2 BA ersichtlich verschwenkt die Fahrbahn in Fahrtrichtung des Klägers im Bereich der Kuppe s-förmig nach rechts. Bei einer starken Abbremsung des Motorrades über eine längere Wegstrecke hat das Motorrad das Bestreben, sich aufzurichten und somit geradeaus zu fahren. Die objektiv vorgefundenen Unfallspuren (Spurzeichnung und Kollision auf der Gegenfahrbahn) sprechen - so der Sachverständige - mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine hohe Ausgangsgeschwindigkeit des Klägers jenseits der 80 km/h.
(3) Der Senat schließt sich den Ausführungen des Sachverständigen an.
Eine Annäherungsgeschwindigkeit des Klägers - unterhalb von 80 km/h -, die eine Wahrnehmung durch den Beklagten zu 1) zum Zeitpunkt des Einbiegeentschlusses erlaubt hätte, ist auszuschließen.
(a) Zwar wäre es nach den Ausführungen des Sachverständigen theoretisch möglich, daß der Kläger auf den Einbiegevorgang des Beklagten zu 1) zunächst mit einem Spurwechsel nach links reagiert hat, ohne sein Motorrad abzubremsen. Da die gezeichnete Spur jedoch parallel zur Fahrbahn verläuft und dem Kläger 2 Sekunden Zeit zur Verfügung gestanden haben, hätte der Kläger den Spurwechsel aus einer großen Entfernung durchführen müssen. Dieses Vorgehen würde jedoch ein gänzlich ungewöhnliches Fahrverhalten bedingen. Der Kläger hätte dann rund 50 m und 3,6 Sekunden vor der späteren Kollision auf den Einbiegevorgang des Beklagten zu 1) mit einem Spurwechsel nach links, ohne abzubremsen, reagiert. Er wäre dann trotz Wahrnehmung des von dem Beklagten zu 1) geführten Lkw und der sich daraus ergebenden logischen Konsequenz, daß der Lkw in Kürze nahezu die gesamte Breite der Fahrbahn blockieren würde, rund 30 m ungebremst weitergefahren. Erst rund 20 m vor der späteren Kollision hätte er dann die Blockierbremsung eingeleitet, die zu der Spurzeichnung führte. Der Senat schließt aus, daß sich der - nach eigenen Angaben besonders besonnene und im Straßenverkehr erfahrene - Kläger so verhalten hat. Hiergegen spricht auch der Umstand, daß es nach den Feststellungen des Sachverständigen dem Kläger - selbst wenn er bis zu 70 km/h schnell gefahren wäre - ohne weiteres möglich gewesen wäre, hinter dem Heck des einfahrenden Lkw mit ausreichendem Sicherheitsabstand vorbeizufahren. Hierbei wäre der Kläger von dem Lkw des Beklagten zu 2) weder gefährdet noch wesentlich behindert worden. Es hätte ausgereicht, wenn der Kläger geradeaus auf seiner Fahrspur weitergefahren wäre. Der Sachverständige hat insoweit von einer für den Kläger "absolut unkritischer Situation" gesprochen.
(b) Demgegenüber spricht nach den nachvollziehbaren Feststellungen des Sachverständigen gerade der Umstand, daß der Kläger im Bereich der Einmündung des J, wo die K eine leichte S-Kurve vollzieht, unter Benutzung der Gegenfahrbahn geradeaus gefahren ist, für eine Annäherungsgeschwindigkeit jenseits von 80 Km/h. Wird nämlich ein Motorrad über eine längere Strecke mit 5 oder 6 m/s2 verzögert, so hat es das Bestreben, sich aufzurichten und geradeaus zu fahren. Mit diesem Verhalten ist zu erklären, daß es dem Kläger nicht möglich war, der Verschwenkung zu folgen und er deshalb auf die Gegenfahrbahn geraten ist.
(c) Schließlich spricht nach den Ausführungen des Sachverständigen auch das optische Erscheinungsbild der von dem Krad gezeichneten Spur gegen einen Spurwechsel des Klägers aus einer Annäherungsgeschwindigkeit von ca. 50 Km/h. Die auf der Gegenfahrbahn gezeichnete Blockierspur des Motorrades verläuft von Anfang an parallel zur Fahrbahn. Demgemäß befand sich der Kläger bereits zum Zeitpunkt des Spurbeginns parallel zur Fahrbahn. Hätte der Kläger aber auf den Einbiegevorgang des Beklagten zu 1) zunächst durch Ausweichen nach links (Spurwechsel) und kurz danach mit einer Vollbremsung reagiert, so hätte das Krad - so der Sachverständige - eine schräg verlaufende Bremsspur zeichnen müssen.
(d) Der Kläger kann nicht erfolgreich einwenden, zum Kollisionszeitpunkt sei er im dritten Gang und daher nicht mit mehr als 65 Km/h gefahren. Zum einen steht nicht fest, daß er im dritten Gang gefahren ist. Aus dem Umstand, daß beim Krad rund vier Wochen nach dem Unfall der dritte Gang eingelegt gewesen sein soll - wie der Zeuge H bekundet hat -, läßt sich nicht herleiten, daß dieser Gang auch zum Kollisionszeitpunkt geschaltet war. Zum anderen folgt aus den Ausführungen des Sachverständigen, daß das Krad aufgrund der technischen Eigenschaften im dritten Gang eine Geschwindigkeit von 101 Km/h erzielen kann.
cc) Näherte sich der Kläger aber mit einer Geschwindigkeit jenseits der 80 Km/h, war er für den Beklagten zum Zeitpunkt, als dieser den Einbiegeentschluß faßte, mehr als 120 m entfernt und somit nicht wahrnehmbar. Eine Vorfahrtsverletzung kommt danach nicht in Betracht.
b) Dem Beklagten zu 1) kann auch kein schuldhafter Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vorgeworfen werden. Er hat weder einen schneidenden Einbiegevorgang vorgenommen noch verspätet und/oder fehlerhaft reagiert.
aa) Nach den Ausführungen des Sachverständigen in seinem Gutachten vom 21.05.1999 ist ein diagonaler bzw. schneidender Einbiegevorgang des Lkw mit der Lage des Kollisionsortes, welcher durch die Spurzeichnung auf der Fahrbahn belegt ist, nicht zu vereinbaren. Der vorliegende Anstoß des Krades gegen das linke Hinterrad ist nur bei einem stark, den Vorschriften entsprechenden, winkligen Einbiegevorgang möglich, wie er im Gutachten des Sachverständigen vom 27.10.1997 dargelegt worden ist. Der Kläger greift in der Berufungsinstanz die entsprechenden Feststellungen des Sachverständigen auch nicht mehr substantiiert an.
bb) Nach den Ausführungen des Sachverständigen läßt sich eine verspätete oder fehlerhafte Reaktion weder im Fall einer geringen (50 - 70 km/h) noch einer deutlich überhöhten Annäherungsgeschwindigkeit des Krades (ab 80 km/h) darstellen.
(1) Bei einer geringen Annäherungsgeschwindigkeit hätte das Abbrechen des Abbiegevorgangs durch den Beklagten zu 1) dazu geführt, daß der Lkw die gesamte Straßenbreite versperrt hätte. Dann wäre aber der Kläger nicht in der Lage gewesen wäre, das Krad rechtzeitig abzubremsen. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß der Kläger nicht auf den Einfahrvorgang, sondern auf den (späteren) Abbruch dieses Vorganges durch den Beklagten zu 1) reagiert hätte.
(2) Bei einer deutlich höheren Annäherungsgeschwindigkeit hätte der Beklagte zu 1) erst rund 2,7 Sekunden vor der späteren Kollision bemerken können, daß sich der Kläger mit überhöhter Geschwindigkeit näherte. Der Lkw wäre dann 1 Sekunde bzw. 5,8 m vor der Kollision zum Stillstand gekommen. In diesem Fall blockiert der Lkw aber ebenfalls die gesamte Fahrbahnbreite. Eine Vermeidbarkeit der Kollision wäre dann ebenfalls nicht gegeben gewesen.
2. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist der Senat davon überzeugt, daß das Unfallgeschehen einzig auf ein schuldhaftes Verhalten des Klägers zurückzuführen ist. Der Kläger hat unter Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 Km/h um mindestens 60 % überschritten. ..."