Das Verkehrslexikon

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EuGH Urteil vom 19.05.2011 - C-184/10 - Zur Nichtanerkennung eines ausländischen EU-Führerscheins mit innerdeutschem Wohnsitz

EuGH v. 19.05.2011: Zur Nichtanerkennung eines ausländischen EU-Führerscheins mit innerdeutschem Wohnsitz (Grasser)




Der EuGH (Urteil vom 19.05.2011 - C-184/10) hat entschieden:

Die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 Buchst. b sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein in der durch die Richtlinie 2008/65/EG der Kommission vom 27. Juni 2008 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie es einem Aufnahmemitgliedstaat nicht verwehren, es abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet den von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein anzuerkennen, wenn aufgrund von Angaben in diesem Führerschein feststeht, dass die den ordentlichen Wohnsitz betreffende Voraussetzung nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie nicht beachtet wurde. Der Umstand, dass der Aufnahmemitgliedstaat auf den Inhaber des Führerscheins zuvor keine Maßnahme im Sinne des Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie angewandt hat, ist insoweit unbeachtlich.

Siehe auch
- Wohnsitzprinzip
und
- Stichwörter zum Thema EU-Führerschein

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

19. Mai 2011(*)

„Richtlinie 91/439/EWG – Gegenseitige Anerkennung der Führerscheine – Von einem Mitgliedstaat unter Missachtung der Wohnsitzvoraussetzung erteilte Fahrerlaubnis – Verweigerung der Anerkennung durch den Aufnahmemitgliedstaat, die allein auf die Missachtung der Wohnsitzvoraussetzung gestützt wird“

In der Rechtssache C-184/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 16. März 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 14. April 2010, in dem Verfahren

Mathilde Grasser

gegen

Freistaat Bayern

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), U. Lõhmus und A. Ó Caoimh sowie der Richterin P. Lindh,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Februar 2011, unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von Frau Grasser, vertreten durch Rechtsanwalt M. Wandt,

– des Freistaats Bayern, vertreten durch M. Niese als Bevollmächtigten,

– der deutschen Regierung, vertreten durch N. Graf Vitzthum und T. Henze als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 31. März 2011




folgendes Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 Buchst. b sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (ABl. L 237, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/65/EG der Kommission vom 27. Juni 2008 (ABl. L 168, S. 36) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 91/439).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Grasser, einer in Viereth-Trunstadt (Deutschland) wohnhaften deutschen Staatsangehörigen, die Inhaberin eines in der Tschechischen Republik ausgestellten Führerscheins ist, und dem Freistaat Bayern wegen einer Entscheidung, mit der Frau Grasser das Recht aberkannt wurde, von diesem Führerschein im deutschen Hoheitsgebiet Gebrauch zu machen.


Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Gemäß dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 91/439 sind aus Gründen der Sicherheit im Straßenverkehr Mindestvoraussetzungen für die Ausstellung eines Führerscheins festzulegen.

4 In Art. 1 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie heißt es:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen den einzelstaatlichen Führerschein gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie nach dem EG-Muster in Anhang I oder Ia aus. …

(2) Die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine werden gegenseitig anerkannt.“

5 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Die Ausstellung des Führerscheins hängt außerdem ab




b) vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes oder vom Nachweis der Eigenschaft als Student – während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten – im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats.“

6 Nach Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie 91/439 kann jede Person nur Inhaber eines einzigen von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins sein.

7 Art. 8 Abs. 2 und 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 91/439 bestimmt:

„(2) Vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen Territorialitätsprinzips kann der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf den Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein erforderlichenfalls umtauschen.



(4) Ein Mitgliedstaat kann es ablehnen, die Gültigkeit eines Führerscheins anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, auf die in seinem Hoheitsgebiet eine der in Absatz 2 genannten Maßnahmen angewendet wurde.“

8 Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie gilt als ordentlicher Wohnsitz der Ort, an dem ein Führerscheininhaber wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder – im Falle eines Führerscheininhabers ohne berufliche Bindungen – wegen persönlicher Bindungen, die enge Beziehungen zwischen dem Führerscheininhaber und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, d. h. während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr, wohnt.“

9 Art. 12 Abs. 3 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten unterstützen einander bei der Durchführung dieser Richtlinie und tauschen im Bedarfsfall Informationen über die von ihnen registrierten Führerscheine aus.“



Nationales Recht

10 § 28 Abs. 1 und 4 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung) vom 18. August 1998 (BGBl. 1998 I S. 2214) in der Fassung der Dritten Verordnung zur Änderung der Fahrerlaubnisverordnung vom 7. Januar 2009 (BGBl. 2009 I S. 29) bestimmt:

„(1) Inhaber einer gültigen [Fahrerlaubnis der Europäischen Union] oder [des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)], die ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 in der Bundesrepublik Deutschland haben, dürfen – vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 – im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen.



(4) Die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber einer [Unions-] oder EWR-Fahrerlaubnis,

2. die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten, es sei denn, dass sie als Studierende oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 die Fahrerlaubnis während eines mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben haben,

3. denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist, denen die Fahrerlaubnis bestandskräftig versagt worden ist oder denen die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil sie zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet haben,



In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 kann die Behörde einen feststellenden Verwaltungsakt über die fehlende Berechtigung erlassen.“





Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

11 Frau Grasser, eine 1955 geborene deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in Viereth-Trunstadt, Deutschland, war nie im Besitz eines deutschen Führerscheins.

12 Am 31. Mai 2006 erhielt sie einen vom Magistrat Plzeň (Tschechische Republik) ausgestellten Führerschein, der zum Wohnort der Inhaberin den Eintrag „Viereth-Trunstadt, Spolková Republika Nemecko“ („Viereth-Trunstadt, Bundesrepublik Deutschland“) enthält.

13 Mit Schreiben vom 3. April 2009 forderte die deutsche Fahrerlaubnisbehörde (im Folgenden: Behörde) Frau Grasser auf, ihren Führerschein zur Eintragung der fehlenden Fahrberechtigung in Deutschland vorzulegen, weil bei Erteilung dieser Fahrerlaubnis die Wohnsitzvoraussetzung nicht beachtet worden sei. Die Behörde hörte die Betroffene auch zum Erlass eines Bescheids über die Aberkennung der Fahrberechtigung an.

14 Frau Grasser beantragte bei der Behörde, ihr die Berechtigung zur Nutzung ihres tschechischen Führerscheins in Deutschland zuzuerkennen, da sie nie einen Verkehrsverstoß begangen habe. Hilfsweise beantragte sie, ihr einen deutschen Führerschein auszustellen. Diese Anträge wurden von der Behörde abgelehnt.

15 Mit Bescheid vom 3. Juni 2009 untersagte die Behörde Frau Grasser, von ihrem tschechischen Führerschein in Deutschland Gebrauch zu machen, und verpflichtete sie, den Führerschein zum Zweck der Eintragung dieses Verbots vorzulegen. Widrigenfalls werde der Führerschein eingezogen.

16 Gegen diesen Bescheid vom 3. Juni 2009 erhob Frau Grasser am 1. Juli 2009 Anfechtungsklage zum Verwaltungsgericht Bayreuth. Mit Urteil vom 22. September 2009 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid auf. Es vertrat die Ansicht, dass die Nichtanerkennung einer Fahrberechtigung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht allein auf eine Missachtung der Wohnsitzvoraussetzung gestützt werden könne. Zur Rechtfertigung einer solchen Ablehnung der Anerkennung wäre seiner Auffassung nach zusätzlich erforderlich gewesen, dass gegen Frau Grasser eine Maßnahme des Entzugs, der Aussetzung, der Aufhebung oder der Einschränkung einer früheren Fahrerlaubnis angewandt worden wäre.

17 Der Freistaat Bayern legte gegen dieses Urteil beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof Berufung ein, der unter diesen Voraussetzungen beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 1 Abs. 2 sowie Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439 dahin gehend auszulegen, dass ein Aufnahmemitgliedstaat berechtigt ist, die von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellte Fahrerlaubnis nicht anzuerkennen, wenn aufgrund von Angaben in diesem Führerschein ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie feststeht, ohne dass zuvor der Aufnahmemitgliedstaat eine Maßnahme im Sinne des Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 auf den Inhaber des Führerscheins angewendet hat?


Zur Vorlagefrage

18 Das vorlegende Gericht möchte mit seiner Frage wissen, ob die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 Buchst. b sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Aufnahmemitgliedstaat verwehren, es abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet den von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein anzuerkennen, wenn aufgrund von Angaben in diesem Führerschein feststeht, dass die den ordentlichen Wohnsitz betreffende Voraussetzung nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie nicht beachtet wurde, ohne dass zuvor der Aufnahmemitgliedstaat eine Maßnahme im Sinne des Art. 8 Abs. 2 der genannten Richtlinie auf den Inhaber des Führerscheins angewandt hat.

19 Nach gefestigter Rechtsprechung sieht Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 die gegenseitige Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine ohne jede Formalität vor. Diese Bestimmung erlegt den Mitgliedstaaten eine klare und unbedingte Verpflichtung auf, die keinen Ermessensspielraum in Bezug auf die Maßnahmen einräumt, die zu erlassen sind, um dieser Verpflichtung nachzukommen (Urteil vom 19. Februar 2009, Schwarz, C-321/07, Slg. 2009, I-1113, Randnr. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20 Es ist Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats, zu prüfen, ob die im Unionsrecht aufgestellten Mindestvoraussetzungen, insbesondere diejenigen des Art. 7 Abs. 1 der genannten Richtlinie hinsichtlich des Wohnsitzes und der Fahreignung, erfüllt sind und ob somit die Erteilung einer Fahrerlaubnis gerechtfertigt ist (Urteil Schwarz, Randnr. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21 Wenn die Behörden eines Mitgliedstaats einen Führerschein gemäß Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 91/439 ausgestellt haben, sind die anderen Mitgliedstaaten nicht befugt, die Beachtung der in dieser Richtlinie aufgestellten Ausstellungsvoraussetzungen nachzuprüfen. Der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist nämlich als Nachweis dafür anzusehen, dass der Inhaber dieses Führerscheins am Tag der Erteilung des Führerscheins diese Voraussetzungen erfüllte (Urteil Schwarz, Randnr. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22 Gleichwohl geht aus den Urteilen vom 26. Juni 2008, Wiedemann und Funk (C-329/06 und C-343/06, Slg. 2008, I-4635) sowie Zerche u. a. (C-334/06 bis C-336/06, Slg. 2008, I-4691), hervor, dass die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht in jedem Fall verwehren, es abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet die Fahrberechtigung anzuerkennen, die sich aus einem nach einer Maßnahme des Entzugs von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergibt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 9. Juli 2009, Wierer, C-445/08, Randnr. 50).

23 Ein Mitgliedstaat kann es nämlich ablehnen, in seinem Hoheitsgebiet die Fahrberechtigung anzuerkennen, die sich aus einem nach einer Maßnahme des Entzugs von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergibt, wenn auf der Grundlage von Angaben in dem Führerschein oder anderen vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen feststeht, dass zum Zeitpunkt der Ausstellung dieses Führerscheins sein Inhaber, auf den im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats eine Maßnahme des Entzugs einer früheren Fahrerlaubnis angewandt worden ist, seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet des Ausstellermitgliedstaats hatte (vgl. in diesem Sinne Urteile Wiedemann und Funk, Randnr. 73, sowie Zerche u. a., Randnr. 70).

24 Da die Wohnsitzvoraussetzung vom Ausstellermitgliedstaat offensichtlich nicht beachtet wurde, wird der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine nicht in Frage gestellt.


25 Frau Grasser macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass sie, anders als die Führerscheininhaber, die in den den oben angeführten Urteilen Wiedemann und Funk sowie Zerche u. a. zugrunde liegenden Rechtssachen betroffen gewesen seien und auf die eine Maßnahme des Entzugs einer früheren Fahrerlaubnis angewandt worden sei, vorher nie einen Führerschein besessen habe und auf sie folglich keine derartige Maßnahme angewandt worden sei. Daher sei die in den angeführten Urteilen vorgenommene Prüfung nicht auf ihren Fall übertragbar, und die Missachtung der Wohnsitzvoraussetzung rechtfertige nicht die Nichtanerkennung ihres tschechischen Führerscheins.

26 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 91/439 zufolge davon ausging, dass aus Gründen der Sicherheit im Straßenverkehr Mindestvoraussetzungen für die Ausstellung eines Führerscheins festzulegen sind. Zu diesen Mindestvoraussetzungen gehört nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie diejenige des Wohnsitzes, wonach die Ausstellung des Führerscheins vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes oder vom Nachweis der Eigenschaft als Student – während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten – im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats abhängt.

27 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Wohnsitzvoraussetzung mangels einer vollständigen Harmonisierung der Regelungen der Mitgliedstaaten über die Erteilung der Fahrerlaubnis u. a. dazu beiträgt, den „Führerschein-Tourismus“ zu bekämpfen. Im Übrigen ist diese Voraussetzung unerlässlich, um die Einhaltung der Voraussetzung der Fahreignung zu überprüfen (Urteile Wiedemann und Funk, Randnr. 69, sowie Zerche u. a., Randnr. 66).

28 Außerdem hat die Voraussetzung des Wohnsitzes, wonach sich der Ausstellermitgliedstaat richtet, als Vorbedingung, die die Prüfung der Einhaltung der übrigen in der Richtlinie 91/439 aufgestellten Voraussetzungen bei einem Führerscheinbewerber ermöglicht, eine besondere Bedeutung im Verhältnis zu den übrigen in dieser Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen (Urteile Wiedemann und Funk, Randnr. 70, sowie Zerche u. a., Randnr. 67).

29 Wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, unterscheidet die genannte Richtlinie hinsichtlich der Voraussetzung des Wohnsitzes eines Führerscheinbewerbers in keiner Weise zwischen der erstmaligen Erteilung einer Fahrerlaubnis und der Erteilung nach Entzug einer früheren Fahrerlaubnis. In beiden Fällen hängt die Erteilung ab vom Bestehen eines ordentlichen Wohnsitzes oder vom Nachweis der Eigenschaft als Student – während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten – im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats.

30 Auch im Fall der erstmaligen Erteilung einer Fahrerlaubnis kommt der Wohnsitzvoraussetzung eine besondere Bedeutung zu.

31 Wird diese Voraussetzung nämlich in einem solchen Fall nicht beachtet, ist es für die zuständigen Behörden des Ausstellermitgliedstaats schwierig, wenn nicht gar unmöglich, zu prüfen, ob die anderen von der Richtlinie 91/439 aufgestellten Voraussetzungen beachtet wurden. Unterbleibt eine solche Prüfung, ist es möglich, dass der Inhaber der so erteilten Fahrerlaubnis u. a. nicht über die zum Führen eines Kraftfahrzeugs erforderlichen Kenntnisse und die dazu erforderliche Eignung verfügt und damit eine Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs darstellt. Zudem würde der in Art 7 Abs. 5 dieser Richtlinie aufgestellte Grundsatz in Frage gestellt, dass jede Person nur Inhaber eines einzigen von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins sein kann.

32 Der Umstand, dass der Aufnahmemitgliedstaat auf den Inhaber des Führerscheins zuvor keine Maßnahme im Sinne des Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie angewandt hat, ist insoweit unbeachtlich.

33 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 Buchst. b sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Aufnahmemitgliedstaat nicht verwehren, es abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet den von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein anzuerkennen, wenn aufgrund von Angaben in diesem Führerschein feststeht, dass die den ordentlichen Wohnsitz betreffende Voraussetzung nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie nicht beachtet wurde. Der Umstand, dass der Aufnahmemitgliedstaat auf den Inhaber des Führerscheins zuvor keine Maßnahme im Sinne des Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie angewandt hat, ist insoweit unbeachtlich.




Kosten

34 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 Buchst. b sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein in der durch die Richtlinie 2008/65/EG der Kommission vom 27. Juni 2008 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie es einem Aufnahmemitgliedstaat nicht verwehren, es abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet den von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein anzuerkennen, wenn aufgrund von Angaben in diesem Führerschein feststeht, dass die den ordentlichen Wohnsitz betreffende Voraussetzung nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie nicht beachtet wurde. Der Umstand, dass der Aufnahmemitgliedstaat auf den Inhaber des Führerscheins zuvor keine Maßnahme im Sinne des Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie angewandt hat, ist insoweit unbeachtlich.

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