Das Verkehrslexikon

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VerfGH Berlin Beschluss vom 19.02.2014 - 123/13 - Kostenbescheid für Halter eines Carsharing-Fahrzeugs

VerfGH Berlin v. 19.02.2014: Zum Kostenbescheid nach Parkverstoß mit einem Carsharing-Fahrzeug




Der VerfGH Berlin (Beschluss vom 19.02.2014 - 123/13) hat entschieden:

   Die Verwendung vom Richter vorformulierter und durch Ankreuzen übernommener Entscheidungsgründe kann und darf die stets zwingend gebotene einzelfallbezogene richterliche Prüfung nicht ersetzen - Kostenbescheid für Halter eines Carsharing-Fahrzeugs.

Siehe auch
Kostenbescheid gem. § 25 a StVG nach Parkverstoß
und
Carsharing

Gründe:


I.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Kostenbescheid nach § 25a des Straßenverkehrsgesetzes - StVG - und die Zurückweisung seines Antrags auf gerichtliche Entscheidung durch das Amtsgericht Tiergarten.

Der Beschwerdeführer parkte am 2. Januar 2013 mit dem Pkw eines Carsharinganbieters an einer nicht funktionsfähigen Parkuhr, ohne eine Parkscheibe von außen sichtbar im oder am Fahrzeug angebracht zu haben. Auf Anfrage übermittelte der Carsharinganbieter und Halter des Fahrzeugs dem Polizeipräsidenten in Berlin (Beteiligter zu 2) mit Schreiben vom 20. Februar 2013 Name, Anschrift und Geburtsdatum des Beschwerdeführers und teilte mit, dass kein anderer Mieter zu dem Zeitpunkt der vorgeworfenen Verkehrsordnungswidrigkeit eingetragen gewesen sei. Am selben Tag verfügte das Referat Verkehrsordnungswidrigkeiten des Beteiligten zu 2 eine Verwarnung des Beschwerdeführers mit einem Verwarnungsgeld in Höhe von fünf Euro, am 22. April 2013 den Abschluss der Ermittlungen und den Erlass eines Bußgeldbescheids, welcher als Entwurf ohne Absendevermerk Eingang in die Akte fand. Am Folgetag stellte der Beteiligte zu 2 das Verfahren ein, weil der verantwortliche Fahrzeugführer nicht habe ermittelt werden können. Am 13. Mai 2013 wurde der im Ausgangsverfahren angegriffene Kostenbescheid nach § 25a StVG gegen den Beschwerdeführer erlassen.




Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung wandte der Beschwerdeführer ein, es habe schon kein Parkverstoß vorgelegen. Fahrzeuge seines Carsharinganbieters dürfe er unbefristet an Parkuhren in Berlin abstellen und müsse keinen Parkschein lösen. Die Parkgebühren verrechne das Unternehmen direkt mit dem Land Berlin. Zum Beweis beantrage er die Vorlage des nicht öffentlich bekannten Vertrages des Carsharinganbieters D. GmbH & Co. KG sowie die Vernehmung von dessen Geschäftsführern als Zeugen. Bei einer defekten Parkuhr könne er daher nicht verpflichtet sein, eine Parkscheibe auszulegen, die nur den Sinn habe, das Ende der erlaubten Parkzeit feststellen zu können.

Mit dem angegriffenen Beschluss, den der Amtsrichter nach dem Inhalt der beigezogenen Akten auf einem Formular durch Eintrag der Verfahrensdaten und Ankreuzen von Tenor und Begründung verfügte, verwarf das Amtsgericht den Antrag „aus den weiterhin zutreffenden Gründen des angefochtenen Bescheides als unbegründet“. Als weitere Begründung war wie angekreuzt hinzugefügt:

„Der Betroffene hätte die entlastenden Angaben in dem von der Verwaltungsbehörde übersandten Anhörungsbogen vom 20.02.2013 geltend machen können und müssen, um den Erlass des Kostenbescheids gem. § 25a StVG zu vermeiden. Dies ist nach Aktenlage jedoch nicht erfolgt. Im Verfahren des Antrags auf schriftliche Entscheidung darf der Sachverhalt vom Gericht nicht mehr aufgeklärt oder überprüft werden, so dass Einwände in der Sache nicht mehr mit Erfolg nachgeholt werden können.“

Dagegen erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge mit dem Antrag, ihm nachträglich rechtliches Gehör zu gewähren, weil das Gericht sein Vorbringen nach Erlass des Kostenbescheids nicht gehört habe. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin verletze es den Anspruch auf rechtliches Gehör und auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Gericht den Antrag unter Verweis auf die zutreffenden Gründe des Kostenbescheids zurückweise, obwohl ein erst danach erhobener Einwand darin noch keine Berücksichtigung gefunden habe. So liege es hier. Das Amtsgericht habe sich mit seinem substantiiert und unter Beweisantritt dargelegten Einwand, keinen Parkverstoß begangen zu haben, nicht befasst. Das Amtsgericht hätte ihm auch nicht entgegenhalten dürfen, dass Einwendungen nur im Bußgeldverfahren zulässig gewesen seien. Eine Präklusion mit Verteidigungsvorbringen sei nur dann mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör und auf effektiven Rechtsschutz vereinbar, wenn der Betroffene nachweislich Gelegenheit zur Äußerung im Bußgeldverfahren erhalten und diese schuldhaft nicht genutzt habe. Daran fehle es in seinem Fall, weil er einen Anhörungsbogen zu keinem Zeitpunkt erhalten habe.

Auf diesen Antrag wies das Amtsgericht den Beschwerdeführer mit Schreiben vom 26. Juli 2013 darauf hin, dass der Beschluss nicht anfechtbar sei. Unabhängig davon sei zu bedenken, dass rechtliches Gehör gewährt worden sei. Die vorgetragenen Erwägungen im Schriftsatz des Verteidigers hätten dem Gericht beim Beschluss vorgelegen, es jedoch nicht überzeugt.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und auf effektiven Rechtsschutz aus den im Anhörungsrügeverfahren geltend gemachten Gründen. Er habe nach Erhalt des Schreibens auf seine Anhörungsrüge mit dem zuständigen Richter am Amtsgericht telefoniert. Dieser habe deutlich gemacht, dass er die Anhörungsrüge nicht zu bescheiden und auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs keine andere Entscheidung zu treffen gedenke.

Die weiteren Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.





II.

Die Verfassungsbeschwerde ist - soweit zulässig - begründet.

1. a) Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen den Bescheid des Beteiligten zu 2 richtet, ist sie unzulässig, weil insofern keine Grundrechtsverletzung geltend gemacht wird, die im gerichtlichen Verfahren nach § 62 OWiG nicht korrigierbar gewesen wäre (Beschluss vom 5. Mai 2013 - VerfGH 131/11 - wie alle nachfolgend zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs unter www.gerichtsentscheidungen.berlin-​brandenburg.de, Rn. 15 m. w. N.; st. Rspr.).

b) Im Übrigen steht der Zulässigkeit nicht entgegen, dass das Amtsgericht über den Antrag des Beschwerdeführers auf Nachholung rechtlichen Gehörs gem. § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 33a StPO nicht förmlich entschieden hat. Das Gebot der Rechtswegerschöpfung gem. § 49 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - gebietet zwar, bei Rügen der Verletzung rechtlichen Gehörs vor der Anrufung des Verfassungsgerichtshofs das gesetzlich eröffnete Anhörungsrügeverfahren durchzuführen (Beschluss vom 27. Mai 2008


2. Der Beschluss des Amtsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten auf Gewährung rechtlichen Gehörs und auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 15 Abs. 1 und Abs. 4 Verfassung von Berlin - VvB - (a) und verstößt außerdem auch gegen das Willkürverbot nach Art. 10 Abs. 1 VvB (b).

a) Die Anforderungen aus den - mit Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG inhaltsgleichen - Art. 15 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 4 VvB an die Überprüfung von Bescheiden nach § 25a StVG im gerichtlichen Verfahren nach § 62 OWiG sind in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichthofs, auf die der Beschwerdeführer im Verfahren vor dem Amtsgericht zutreffend Bezug genommen hat, geklärt (Beschlüsse vom 15. April 2011 - VerfGH 97/09 - Rn. 17, vom 20. Juni 2012 - VerfGH 181/10 - Rn. 16, und 20. November 2013 - VerfGH 16/13, 34/13 - Rn. 14 ff.).

Ohne Nachweis der Zustellung eines Anhörungsbogens kann nicht davon ausgegangen werden, der Betroffene sei vor Erlass eines Kostenbescheids tatsächlich angehört worden (Beschluss vom 20. November 2013, a. a. O., Rn. 14). Die nach § 25a Abs. 2 StVG vorgesehene Anhörung im Verwaltungsverfahren kann zwar im nachfolgenden gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden (Beschluss vom 15. April 2011 - VerfGH 134/09 - Rn. 16). Dabei darf das Gericht dem Betroffenen aber weder die Versäumung einer nicht nachweisbar möglichen Wahrnehmung seiner Rechte im Bußgeldverfahren unterstellen noch ihm aus anderen Gründen generell entgegenhalten, er hätte seine Einwendungen gegenüber der Bußgeldbehörde geltend machen müssen (Beschluss vom 15. April 2011 - VerfGH 97/09 - Rn. 17). Das Gericht ist vielmehr verpflichtet, substantiierten Einwendungen bezüglich der Eingriffsvoraussetzungen des § 25a Abs. 1 StVG nachzugehen und sich mit ihnen in seiner Entscheidung auseinanderzusetzen. Die Unmöglichkeit der Behörde, den Fahrzeugführer mit angemessenem Aufwand zu ermitteln, darf das Gericht dabei ggf. anhand der Aktenlage nachprüfen und feststellen (Beschluss vom 20. November 2013, a. a. O., Rn. 15 f.).

Diesen und den allgemeinen Anforderungen der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht nach Art. 15 Abs. 1 VvB wird der angegriffene Beschluss, wie der Beschwerdeführer zu Recht rügt, nicht gerecht. Dies folgt bereits daraus, dass er im Tenor auf die „weiterhin zutreffenden Gründe des Kostenbescheids“ verweist und in den nachfolgenden Entscheidungsgründen pauschal und ohne Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers darauf abstellt, dieser hätte „die entlastenden Angaben in dem von der Verwaltungsbehörde übersandten Anhörungsbogen“ geltend machen können und müssen, um den Erlass des Kostenbescheids zu vermeiden. Damit übergeht das Amtsgericht ohne sachlichen Grund den anhand der Akten ohne Weiteres überprüfbaren und im Übrigen offenkundig zutreffenden Vortrag des Beschwerdeführers, dass ihm nie ein Anhörungsbogen übersandt worden ist. Ebenso ignoriert es seinen Einwand, dass das Abstellen des von ihm gefahrenen Autos eines Carsharinganbieters an allen Parkuhren in Berlin jederzeit und unbeschränkt gestattet gewesen sei. Auch die weitere Begründung des Amtsgerichts, entlastende Angaben könnten im gerichtlichen Verfahren nicht mehr mit Erfolg „nachgeholt“ werden, verkennt den Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht sowie auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes und ist mit der zitierten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs unvereinbar. Die Behauptung in dem Schreiben des Amtsgerichts zur Anhörungsrüge, die vorgetragenen Einwände hätten dem Gericht vorgelegen, es aber nicht „überzeugt“, findet in den schriftlichen Entscheidungsgründen keinen Anhalt.

b) Der Beschluss des Amtsgerichts ist außerdem unter keinem denkbaren Gesichtspunkt nachvollziehbar und objektiv willkürlich. Er verletzt den Beschwerdeführer daher zugleich in seinem Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 VvB. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt allerdings nicht schon immer dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält. Erforderlich ist vielmehr, dass die Entscheidung eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder den Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet, so dass ein gesetzgeberisches Anliegen grundlegend verfehlt wird (vgl. Beschlüsse vom 19. März 2013 - VerfGH 113/11 - und - VerfGH 114/11 - Rn. 18; st. Rspr.).




Dies ist hier der Fall. Die Verwerfung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung aus den „weiterhin zutreffenden Gründen des angefochtenen Bescheids“ verkennt in krasser Weise die Voraussetzungen des § 25a StVG. Der Kostenbescheid war im vorliegenden Fall nach dem Inhalt der beigezogenen, vom Amtsgericht jedoch, wie der Verweis auf die Gründe des Kostenbescheids erkennen lässt, nicht zur Kenntnis genommenen und verwerteten Verwaltungsakten offensichtlich rechtswidrig. Bei seinem Erlass lag das Tatbestandsmerkmal der Unmöglichkeit, den Fahrzeugführer vor Eintritt der Verfolgungsverjährung mit angemessenem Aufwand zu ermitteln, ersichtlich nicht vor. Vielmehr war der Beschwerdeführer von seinem Autovermieter der Bußgeldstelle als allein in Betracht kommender Fahrer benannt worden, und der Sachbearbeiter hatte sogar bereits dessen gebührenpflichtige Verwarnung verfügt. Anhaltspunkte dafür, dass der Kostenbescheid gegen den Beschwerdeführer als „Halter/Beauftragter des Halters“ gleichwohl rechtmäßig gewesen sein könnte, lassen sich im Übrigen weder den Entscheidungsgründen des Amtsgerichts noch den Akten entnehmen. Der sich danach aufdrängende Eindruck, dass sich das Amtsgericht weder mit dem entscheidungserheblichen Sachverhalt noch mit der Rechtslage selbst befasst hat, wird durch das Ankreuzen vorformulierter Entscheidungsgründe noch bestärkt. Ein solches Vorgehen ist zwar nicht schon an sich unzulässig, kann und darf aber die stets zwingend gebotene einzelfallbezogene richterliche Prüfung nicht ersetzen (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschluss vom 6. März 2002 - 2 BvR 1619/00 -, juris Rn. 19).


III.

Der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 11. Juni 2013 ist nach § 54 Abs. 3 VerfGHG aufzuheben und die Sache in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.

Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof abgeschlossen.

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