Das Verkehrslexikon

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Neurotische Entwicklungen nach einem Verkehrsunfall - Unfallneurose - Fehlverarbeitung

Neurotische Entwicklungen nach einem Verkehrsunfall - Unfallneurose - Fehlverarbeitung


Siehe auch

Schmerzensgeld

und

Stichwörter zum Thema Personenschaden




Ist es in Fällen, in denen es auf eine Abgrenzung der Schadensfolgen auf Grund des reinen Unfallgeschehens von solchen, die auch durch eine konstitutionelle oder degenerative Vorschädigung verursacht worden sein können, zivilrechtlich noch relativ leicht, durch die Grundsätze der haftungsausfüllenden Kausalität jedenfalls bei sorgfältiger Beweiswürdigung zu angemessenen Ergebnissen zu kommen, wird dies in den Fällen der sog. posttraumatischen Psychosyndrome bedeutend komplizierter.


Insbesondere auch HWS-Schleudertraumen können zu psychischen Ausfällen und einer mangelhaften Verarbeitung der Unfallfolgen führen. Für solche psychischen Beeinträchtigungen haftet der Schädiger auch dann, wenn sie nicht auf einer unfallbedingten organischen Veränderung beruhen, also hirnorganisch nicht erklärt werden können (vgl. ausführlich Ziegert, Die medizinische Begutachtung von Verkehrsunfallopfern in Fällen eines HWS-Schleudertraumas und bei Unfallneurosen, DAR 1994, 257 ff. mit vielen Rechtsprechungsnachweisen).

Ziegert aaO. führt hierzu aus:

   "HWS-Geschädigte sind ferner anfällig für die Entwicklung neurotischer Symptome. Sie empfinden den "heimtückischen Angriff von hinten" als persönliche Kränkung. Unter einer Neurose versteht man ganz allgemein im Gegensatz zu einer Simulation als einem bewussten Täuschunsmanöver eine Störung der Erlebnisverarbeitung. Die Frage, ob solche Störungen dem Unfallgeschehen haftungsrechtlich zuzurechnen sind, darf nicht pauschalierend, sondern kann nur differenzierend beantwortet werden.

Es sind in diesem Zusammenhang drei Fallgruppen zu unterscheiden, nämlich

- die Erlebnis- oder "zweckfreie" Aktualneurose,
- die sog. Rentenneurose und
- die sog. Konversionsneurose.


Bei der Aktualneurose wird die psychische Deformation primär und unmittelbar durch das Unfallgeschehen selbst ausgelöst, die daraus resultierende Fehlhaltung erscheint als erlebnisadäquat. Für die Folgen einer Aktualneurose hat der Schädiger einzustehen nach denselben Kriterien, die auch sonst bei der Bewertung von konstitutionellen beim Unfall bereits vorhandenen Schwächen des Verletzten anzuwenden sind. Der Schädiger trägt eben das Risiko dafür, dass sein Unfallgegner "nicht zu den Starken dieser Welt gehört" (vgl. Dahlmann DAR 1992, 329).

In den Fällen der sog. Rentenneurose hingegen wird das Unfallgeschehen zum Anlass genommen, in körperliche Beschwerden zu flüchten. Das Resultat ist eine durch Begehrensvorstellungen geprägte Verweigerungshaltung gegenüber dem Erwerbsleben. Schon immer hat auch die zivilrechtliche Rechtsprechung versucht, hier Dämme gegen unbegründete Schadensersatzforderungen zu errichten, wobei sie in der Begründung die verschiedensten Wege gegangen ist (vgl. die Schilderung bei Ziegert, DAR 1994, 259). Davon ausgehend, dass in diesen Fällen das Unfallereignis nur einen rein zufälligen, seinem Wesen nach auswechselbaren Kristallisationspunkt für die Kompensation innerer Konflikte darstelle (BGHZ 20, 137 ff.; BGH NJW 1965, 2293; BGH NJW 1979, 1936), versucht die Rechtsprechung die Eingrenzung aus dem Normschutzzweck abzuleiten (BGH NJW 1986, 777; BGH NJW 1993, 1523); es handele sich insoweit um eine außerhalb des Schutzzwecks liegende Verwirklichung eines allgemeinen Lebensrisikos. Zum allgemeinen Lebensrisiko gehören Gefahren, die von jedem unabhängig davon, ob ein anderer normalerweise dafür haftet oder nicht, selbst zu tragen sind (Deusch VersR 1993, 1041 ff.). Psychische Beeinträchtigungen, die in keinem inneren Zusammenhang mit einem Unfallgeschehen stehen, gehören zu den Grundbedingungen menschlicher Existenz.

Bei der sog. Konversionsneurose besteht die Kompensation hingegen nicht in direkter Gesundungs-, bzw. Arbeitsverweigerung. Der Geschädigte konvertiert statt dessen den ihm zugefügten Schmerz in (andere) somatische Beschwerden, die dann ihrerseits seine Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen, bzw. seine Gesundung behindern ((Ritter DAR 1992, 47 ff.). Die Ähnlichkeit mit der Rentenneurose liegt darin, dass der Unfall zwar unbewusst zum Anlass für die Kompensation latenter innerer Konflikte genommen wird, aber andererseits das Unfallereignis nicht nur irgendein beliebiger austauschbarer Kristallisationspunkt ist. Vielmehr sind die weiteren, nicht unmittelbar als Verletzungsfolgen auf den Unfall zurückführbaren Beschwerden durch den Unfall selbst als dem entscheidenden, die Neurose auslösenden Moment verursacht; konversionsneurotische Störungen sind deshalb grundsätzlich entschädigungswürdig (vgl. BGH NJW 1986, 777; BGH NJW 1993, 1523). Freilich muss auch hier uferlosen Ansprüchen ein Riegel vorgeschoben werden: Das auslösende Unfallereignis darf nicht zu geringfügig gewesen sein und muss dem Geschädigten ein Negativerlebnis von einer gewissen Intensität vermittelt haben. Der Gedanke an eine durch Begehrensvorstellungen geprägte Flucht in die Krankheit soll von vornherein nicht naheliegen dürfen (im Streitfall hat indes immer der Schädiger zu beweisen, dass es sich um eine derartige Flucht in die Krankheit handelt)."





Bei einer sog. Rentenneurose spricht man auch von einer Begehrensneurose.

Wenn Unfallfolgen und psychische Fehlverarbeitung zusammentreffen, ist die Feststellung des Ursachenzusammenhangs oft nicht einfach. In derartigen Fällen muss ggf. nach Beweislast entschieden werden. Der BGH (Urteil vom 10.07.2012 - VI ZR 127/11) führt in diesem Zusammenhang aus:

   "Entgegen der Ansicht der Revision kann der Zurechnungszusammenhang für später eingetretene Folgeschäden auch dann verneint werden, wenn sie sich aus Beschwerden entwickelt haben, die zunächst überwiegend dem Unfallgeschehen zuzurechnen sind, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt - einem nicht ungewöhnlichen Verlauf entsprechend - wesentlich durch eine Begehrenshaltung geprägt sind.

Sind Schadensfolgen wesentlich durch eine Begehrenshaltung geprägt, entfällt - wie ausgeführt - der Schutzzweckzusammenhang. Das Erfordernis des Schutzzweckzusammenhangs besteht nicht nur für die Primärverletzung, sondern auch für den haftungsausfüllenden Tatbestand (Palandt/Grüneberg, aaO Rn. 29; Lange/Schiemann, Schadensersatz, aaO, S. 125 f.). Daraus ergibt sich die Möglichkeit, dass der Schutzzweckzusammenhang für von einem bestimmten Zeitpunkt an eingetretene Schadensfolgen zu verneinen ist, selbst wenn sie auf einem gewöhnlichen Verlauf einer psychischen Störung - hier der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung - beruhen. Nahezu jeder Unfall beinhaltet ein Unfallerlebnis, das verarbeitet werden muss. Diese Verarbeitung kann unterschiedlich gut gelingen; misslingt sie, können beim Unfallgeschädigten psychische Beschwerden unterschiedlicher Intensität und Dauer auftreten (vgl. Foerster, MED SACH 1997, 44). Die Schadensfolgen können entscheidend durch eine Begehrenshaltung geprägt sein. Sie müssen nicht von Anfang an wesentlich durch eine Begehrenshaltung geprägt sein; die Begehrenshaltung kann sich - wie auch hier - im weiteren Verlauf verstärken, bis sie schließlich prägend im Vordergrund steht. ... Für die Verneinung des Zurechnungszusammenhangs ist es erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Beschwerden entscheidend durch eine neurotische Begehrenshaltung geprägt sind."


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