Das Verkehrslexikon

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OLG Hamm Urteil vom 19.01.2018 - I-26 U 53/17 - Mitverschulden Fußgänger gegenüber Radfahrer

OLG Hamm v. 19.01.2018: Mitverschulden des Fußgängers am Unfall auf einem an einer Ampel vorbeigeführten Radweg


Das OLG Hamm (Urteil vom 19.01.2018 - I-26 U 53/17) hat entschieden:

   Führt ein farblich markierter Radweg um eine Lichtzeichenanlage herum, müssen Fußgänger beim Überqueren des Radwegs auf Radfahrer Rücksicht nehmen. Wird der Radweg in einer Rechtskurve an der Lichtzeichenanlage vorbeigeführt, liegt kein Abbiegen im Sinne von § 9 StVO vor.



Siehe auch

Radfahrer-Unfälle - Verkehrsunfall mit Fahrradbeteiligung

und

Stichwörter zum Thema Fahrrad und Radfahrer


Gründe:


I.

Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen verschiedenster Verletzungen auf Schadensersatz (5.652,94 EUR), Schmerzensgeld (mind. 15.000,00 EUR) und Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall in Anspruch.

Am 29.10.2014 gegen 13:00 Uhr ereignete sich zwischen der Klägerin und dem Beklagten im Kreuzungsbereich L-​Ring/C-​Straße in S ein Verkehrsunfall, bei dem der Beklagte als Radfahrer mit der Klägerin als Fußgängerin zusammenstieß und die Klägerin infolgedessen stürzte und sich Verletzungen zuzog. Der Fußgängerverkehr ist im Kreuzungsbereich durch Lichtzeichenanlagen geregelt. Sowohl neben der C-​Straße als auch neben dem L-​Ring verläuft ein teilweise durch Pflasterung farblich abgehobener Radweg. Auf die zur Akte gereichten Lichtbilder und Ausdrucke (Bl. 62-​64; 96-​98) sowie die in der Beiakte befindlichen Lichtbilder und Skizzen (Bl. 4 und 6 d. BA.) wird Bezug genommen.

Am Unfalltag war es regnerisch. Der genaue Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig.

Die Klägerin hat behauptet, sie habe von der Innenstadt kommend bei Grünlicht den Kreuzungsbereich überquert und sei sodann links auf den Bahnhofsvorplatz in Richtung des Parkplatzgeländes abgebogen, um zu ihrem dort geparkten Fahrzeug zu gelangen. Sie habe bereits einige Meter auf dem Bahnhofsvorplatz zurückgelegt, als sich plötzlich der Beklagte verbotswidrig nicht auf dem Radweg fahrend und aus Richtung der Bahnhofsunterführung kommend genähert habe. Dabei sei er mit nicht an die ungünstigen Witterungsverhältnisse und die starke Frequentierung des Bahnhofsvorplatzes angepasster und demnach zu hoher Geschwindigkeit gefahren. Anderenfalls wäre es ihm möglich gewesen, noch rechtzeitig anzuhalten oder auszuweichen.

Der Beklagte hat behauptet, die Klägerin sei vom Bahnhofsvorplatz kommend in Richtung Innenstadt auf die Ampelanlage im Kreuzungsbereich zugegangen. Dabei habe sie weder auf den Radweg noch auf die diesen befahrenden Radfahrer geachtet und sei ihm deshalb in das Fahrrad hineingelaufen. Obwohl er vorschriftsmäßig den Radweg benutzt habe und wegen dessen rechtskurvigen Verlaufes zudem relativ langsam gefahren sei, habe er den Zusammenstoß auf dem Radweg nicht mehr verhindern können. Selbst nach dem von der Klägerin behaupteten Geschehensablauf hätte diese aber den Radweg queren, mithin auf Radfahrer achten und damit auch den dann von rechts kommenden Beklagten wahrnehmen müssen.




Das Landgericht hat der Klage nach der Vernehmung von Zeugen vorerst in einem Grund- und Teilurteil stattgegeben und den Beklagten zur Zahlung eines der Höhe nach noch festzustellenden Schadensersatzes und eines angemessenen Schmerzensgeldes verurteilt sowie die Haftung des Beklagten für sämtliche zukünftigen materiellen und noch nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden aus Anlass des Unfallgeschehens vom 29.10.2014 festgestellt. Der Beklagte habe die Klägerin bei dem Zusammenstoß, infolge dessen die Klägerin stürzte, in rechtswidriger und schuldhafter Weise an ihrer Gesundheit geschädigt. Dabei könne dahinstehen, ob die Lichtzeichenanlage auch für den Radverkehr auf dem Radweg und damit für den Beklagten galt, da er jedenfalls gegen § 9 Abs. 3 S. 3 StVO verstoßen habe. Der Beklagte habe zunächst entgegen der Behauptung der Klägerin den Radweg neben der C-​Straße befahren und sei dann rechts auf den Radweg neben dem L-​Ring abgebogen. Dort sei es dann auf dem Radweg zu dem Zusammenstoß mit der aus der Innenstadt kommenden und die Kreuzung bei Grünlicht in Richtung des Bahnhofsvorplatzes überquerenden Klägerin gekommen. Der Beklagte habe der Klägerin wegen seines Abbiegevorganges auch nach deren Fahrbahnüberquerung wegen der Verkehrsregelung vor Ort und wegen des weiterhin geltenden Grünlichts den Vorrang einräumen müssen. Jedenfalls hätte er seine Geschwindigkeit den Witterungsbedingungen dergestalt anpassen müssen, dass er jederzeit hätte anhalten können. Ein Mitverschulden der Klägerin sei dagegen nicht festzustellen. Der insoweit beweisbelastete Beklagte habe nicht dargelegt, dass die Klägerin es trotz ihres Vorranges entsprechend des allgemeinen Gebots zur gegenseitigen Rücksichtnahme im Straßenverkehr unterlassen habe, zumindest einen beiläufigen Kontrollblick in beide Richtungen zu werfen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten, der angesichts des seinerseits behaupteten Mitverschuldens der Klägerin eine jeweils allenfalls hälftige Verpflichtung zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld sowie hinsichtlich der Feststellung einer zukünftigen Ersatzpflicht als gerechtfertigt ansieht. Zunächst sei er entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren. Vielmehr habe sich der Zusammenstoß gerade deshalb nicht mehr verhindern lassen, da die Klägerin den Radweg betreten habe, ohne auf Radfahrer zu achten. Das Landgericht habe zu Unrecht angenommen, dass der Beklagte abgebogen sei, woraus sich für ihn die Pflichten aus § 9 Abs. 3 S. 3 StVO ergäben. Stattdessen verlaufe der Radweg an dieser Stelle in einer an der Kreuzung und der Lichtzeichenanlage vorbeigeführten Kurve, so dass ein klassisches Abbiegen hier gar nicht stattfinde und die Rücksichtnahmepflicht aus dieser Norm nicht einschlägig sei. Auch die Lichtzeichenanlage habe deshalb für den Beklagten keine Geltung gehabt. Ein Mitverschulden der Klägerin ergebe sich aber bereits unabhängig davon wegen des Unfallgeschehens auf dem Radweg. Diesen für Radfahrer bevorrechtigten Bereich hätte sie nicht ohne vorherigen Kontrollblick betreten dürfen, was selbst dann gelte, wenn die bevorrechtigten Radfahrer ihrerseits auf Fußgänger hätten achten müssen.

Der Beklagte beantragt,

   das Urteil der Landgerichts Münster vom 09.03.2017 abzuändern und wie folgt neu zu fassen:

  
1. Der Klageantrag zu 1) gerichtet darauf, den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Rechtshängigkeitszinsen zu zahlen, ist dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverschuldens gerechtfertigt.

2. Der mit dem Klageantrag zu 2) geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz ist dem Grunde nach zu 50 % gerechtfertigt.

3. Es wird festgestellt dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche zukünftigen Schäden zu 50 % zu ersetzen und zukünftigen immateriellen Schäden zu 50 % zu ersetzen, sowie die immateriellen Schäden zum Zeitpunkt des Erlasses des Urteils nicht absehbar waren und diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen werden oder bereits übergegangen sind.

4. Der Klageantrag zu 4) gerichtet darauf, den Beklagten zu verurteilen, die Klägerin von der Verpflichtung, an ihre Prozessbevollmächtigten die vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten zu zahlen, freizustellen, ist dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverschuldens gerechtfertigt.


Die Klägerin beantragt,

   die Berufung zurückzuweisen.


Die Klägerin begehrt die Zurückweisung der Berufung. Ein Mitverschulden ihrerseits sei zu Recht seitens des Landgerichtes nicht angenommen worden. Sie habe den Radweg nicht "blind" überquert, sondern dem Beklagten noch zugerufen, als sie ihn erblickte. Dass es dennoch zu einem Zusammenstoß gekommen sei, unterstreiche nur die Unaufmerksamkeit des Beklagten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insbesondere auch des Wortlautes der erstinstanzlich gestellten Anträge, wird auf die angefochtene Entscheidung sowie die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die Berufung des Beklagten ist zulässig und begründet.

Der Klägerin steht wegen des Verkehrsunfalls vom 29.10.2014 gegen den Beklagten dem Grunde nach lediglich ein hälftiger Anspruch auf Schadensersatz- und Schmerzensgeldzahlung sowie Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht gemäß §§ 823 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2 BGB zu.

Nicht zutreffend hat das Landgericht den Beklagten unter Annahme einer vollen Haftung dem Grunde nach zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und Schadensersatzes verurteilt sowie die Haftung auch hinsichtlich zukünftiger Schäden festgestellt. Die Ansprüche der Klägerin sind wegen deren eigenen Mitverschuldens zu kürzen, welches der Senat mit zumindest 50 % bemisst.

1. Die vom Landgericht durchgeführte Beweisaufnahme hat zunächst ergeben, dass die Klägerin aus der Innenstadt kommend bei für sie grün zeigender Lichtzeichenanlage die Fußgängerfurt überquert hat und in Richtung Bahnhofsvorplatz gegangen ist, während der Beklagte den Radweg befuhr und sich der Unfall sodann auf dem Radweg ereignet hat. Die entsprechenden Feststellungen werden im Berufungsverfahren von keiner Partei mehr angegriffen.

2. Ausgehend von diesem Unfallhergang hat der Beklagte die Kollision mit der Klägerin schuldhaft herbeigeführt und diese damit in rechtswidriger Weise an der Gesundheit geschädigt.

a) Dabei hat das Landgericht zunächst zutreffend Bedenken hinsichtlich der Geltung der links des Radwegs befindlichen Lichtzeichenanlage für den nicht die Fahrbahn der C-​Straße benutzenden Radverkehr geäußert.

Einerseits gehören zu dem durch die Lichtzeichenanlage geschützten Bereich der gesamte Kreuzungsbereich, also nicht nur die eigentliche Fahrbahn, sondern auch parallel verlaufende Rand- und Parkstreifen sowie Geh- und Radwege. Andererseits verletzt ein Umfahren außerhalb des durch die Lichtzeichenanlage geschützten Bereichs § 37 StVO nicht. Möglicherweise sind hierdurch andere Normen der StVO, insbesondere § 2 StVO betroffen. Ein Verstoß gegen den Benutzungszwang der Fahrbahn gem. § 2 StVO ist aber ausgeschlossen, wenn zum Umfahren nur Fahrflächen benutzt werden (vgl. Hentschel, in: Hentschel/König/Dauer; Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 37 StVO, Rn. 8 f.).

Vorliegend hat der Beklagte den rechts neben dem Gehweg verlaufenden Radweg genutzt, der in einer Kurve von der C-​Straße in den L-​Ring übergeht. Dabei wird der Radweg gerade an dem Kreuzungsbereich und der Lichtzeichenanlage vorbeigeführt, um einen flüssigen Radverkehr für rechtsabbiegende Radfahrer zu ermöglichen, ohne dass für diese das Grünlicht der die Kreuzung überquerenden Fußgänger gilt. Ein Fußgänger, der die Fahrbahn überquert hat und sich dann auf dem direkt daran angrenzenden Gehweg befindet, kann diesem entlang der Fahrbahn gefahrlos folgen oder auf diesem sicher stehen bleiben, sodass der Zweck der Lichtzeichenanlage, die zunächst eine sichere Überquerung der Fahrbahn und aller dazugehörigen Bereiche (s. o.) ermöglichen soll, erreicht ist. Beabsichtigt der Fußgänger im Anschluss daran aber die Überquerung eines weiteren bevorrechtigten Fahrbereichs - hier des Radweges -, so hat er wieder die für diese neue Verkehrssituation geltenden Regeln einzuhalten. Mangels Fortgeltung des Grünlichts der Lichtzeichenanlage im Bereich des Radweges kommt für den Beklagten deshalb kein Verschulden wegen eines Verstoßes gegen §§ 2, 37 StVO in Betracht.

b) Der Beklagte wendet sich sodann mit seiner Berufung zu Recht gegen die Auffassung des Landgerichts, dass er unter den Anwendungsbereich des § 9 Abs. 3 S. 3 StVO falle und ihn als Abbiegenden somit die Pflicht treffe, auf Fußgänger besondere Rücksicht zu nehmen und gegebenenfalls zu warten. Aufgrund der von der Kreuzung losgelösten Rechtskurve des Radweges handelt es sich nicht um ein "Abbiegen" im Sinne der Norm.

"Abbiegen" im Sinne der StVO erfasst alle Richtungsänderungen im fahrenden Längsverkehr, also jede Fahrtrichtungsänderung, die aus dem gleichgerichteten Verkehr herausführt. Das bedeutet, dass die Fahrbahn seitlich verlassen oder in einem Bogen die Gegenrichtung oder die andere Straßenseite angesteuert wird. [ ... ] Das Fahren bei abknickender Vorfahrt ist dagegen kein Abbiegen im Sinne von § 9 StVO (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer; Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 9 StVO, Rn. 16).

Vorliegend verläuft der neben der Fahrbahn der C-​Straße verlaufende Radweg nicht in gerader Linie weiter (vgl. Luftbild, Bl. 98). Der Radweg macht stattdessen eine Rechtskurve an der Lichtzeichenanlage und der Kreuzung vorbei und verläuft sodann neben dem Gehweg und der Fahrbahn des L-​Rings geradeaus weiter. Zur Überquerung der Kreuzung in Richtung Innenstadt muss man dagegen von dem Radweg am Ende von dessen Kurve nach links abfahren, um dann erst zu der streitgegenständlichen Lichtzeichenanlage und der Fußgängerfurt zu gelangen. Diese Wegführung ist ausweislich der in der Akte befindlichen Lichtbilder (Bl. 96-​98) auch anhand der farblich unterschiedlichen Pflasterung deutlich zu erkennen.

Insgesamt wird der Radweg damit in seinem natürlichen Verlauf in einer Rechtskurve von der C-​Straße auf den L-​Ring geleitet, was eher mit dem Straßenverlauf bei einer abknickenden Vorfahrt vergleichbar ist. Die Folge davon ist, dass eine dem Radweg in der Rechtskurve folgende Fahrt, so wie sie der Beklagte hier vorgenommen hat, kein Abbiegen im Sinne von § 9 StVO darstellt und für ihn somit auch die besondere Rücksichtnahmepflicht aus § 9 Abs. 3 S. 3 StVO nicht gilt. Die vorliegende Art der Verkehrsführung, bei der Radfahrer extra in einer Rechtskurve an der Lichtzeichenanlage und der Kreuzung vorbeigeführt werden, macht letztlich nur dann Sinn, wenn weder die Ampelanlage für den Radfahrer gilt, noch ein Abbiegen mit den Sorgfaltsanforderungen des § 9 StVO anzunehmen ist.

c) Bei dieser Bewertung der streitgegenständlichen Verkehrssituation stellen entgegen der Annahme des Landgerichts die Fußgänger, die sich aus der Innenstadt kommend Richtung Bahnhofsvorplatz bewegen, gerade keinen schutzbedürftigen querenden Verkehr mehr für die Radfahrer auf dem Radweg dar. Vielmehr haben die Fußgänger die Fahrbahn mit dem Erreichen des breiten Gehweges vollständig überquert und müssen nun gem. § 25 Abs. 3 S. 1 StVO beim Überqueren des Radweges ihrerseits auf die Radfahrer Rücksicht nehmen. Der Beklagte musste also entgegen der Ansicht des Landgerichts der Klägerin beim Überqueren des Radweges nicht den Vorrang einräumen.

Daran vermag auch der Vortrag der Klägerin hinsichtlich der weißlich-​hellen Pflasterung, die von der Lichtzeichenanlage über den Geh- und Radweg hinweg auf den Bahnhofsvorplatz verläuft, nichts zu ändern. Diese Pflasterung hat - wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat - keine verkehrsregelnde Funktion, sondern ist Teil eines Blindenleitsystems. Die Tatsache, dass blinde Fußgänger herannahende Radfahrer nicht sehen und in der Regel erst zu spät akustisch wahrnehmen können, schließt dagegen ein grundsätzliches Vorrecht der Radfahrer nicht aus. Sollte sich ein nach außen deutlich anhand seiner Blindenarmbinde oder seines Blindenstockes erkennbarer Fußgänger in der Nähe des Geh- oder Radweges befinden, so gebieten es in diesem Fall bereits die §§ 1 und 3 Abs. 2 a) StVO, dass alle andere Verkehrsteilnehmer Rücksicht nehmen und nicht auf ein eventuelles Vorrecht beharren. Dies wirkt sich aber nicht darauf aus, dass gegenüber nicht hilfsbedürftigen Verkehrsteilnehmern grundsätzlich die Vorrangregelungen des Fahrverkehrs gegenüber Fußgängern einzuhalten sind.

d) Ein Verschulden des Beklagten ergibt sich im Streitfall dennoch wegen eines Verstoßes gegen § 3 Abs. 1 S. 1 u. 2 StVO. Nach dieser Norm darf ein Fahrzeug nur so schnell geführt werden, dass es ständig beherrscht wird. Dabei ist die Geschwindigkeit insbesondere an die Straßen-​, Verkehrs-​, Sicht- und Wetterverhältnisse anzupassen.

Grundsätzlich muss ein Bevorrechtigter ohne das Hinzutreten weiterer Besonderheiten seine Geschwindigkeit nicht so wählen, dass er jederzeit bei plötzlichen Hindernissen zum Stehen kommen kann. Vielmehr gilt in der Regel das Sichtfahrgebot gem. § 3 Abs. 1 S. 3 u. 4 StVO. Der Fahrverkehr muss seine Geschwindigkeit grundsätzlich auch nicht auf die Möglichkeit einrichten, dass ein Fußgänger vor ihm auf die Fahrbahn treten wird - dies gilt selbst dann, wenn von der Seite ein Fußweg einmündet (vgl. dazu Greger, Haftungsfragen beim Fußgängerunfall, NZV 1990, 409, 411 f., beck-​online m. w. N.).

Wenn Fußgänger also eine Fahrbahn überqueren wollen, kommt dem Fahrverkehr damit grundsätzlich der Vorrang zu, § 25 Abs. 3 S. 1 StVO. Demnach darf auch ein Radfahrer grundsätzlich darauf vertrauen, dass Fußgänger beim Überqueren von Radwegen darauf Rücksicht nehmen (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 25 StVO, Rn. 33).

Eingeschränkt wird dieser Grundsatz zunächst gegenüber den in § 3 Abs. 2 a) StVO genannten Personen. Den Beklagten trifft vorliegend allerdings kein Verschulden wegen § 3 Abs. 2 a) StVO. Das Landgericht hat zutreffend keine Ausführungen zu einer gesteigerten Rücksichtnahmepflicht gegenüber der 1946 geborenen Klägerin gemacht. Es wurde weder von den Parteien vorgetragen noch gibt es anhand der Akte irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass gegenüber der Klägerin wegen ihres Alters eine gesteigerte Rücksichtnahme erforderlich war.

Einzuschränken ist der Grundsatz aber auch über den bereits genannten § 3 Abs. 1 S. 2 StVO und das allgemeine Gebot zur gegenseitigen Rücksichtnahme aus § 1 StVO. Danach muss die Geschwindigkeit bei besonderen Verhältnissen entsprechend an diese angepasst und es darf wegen des Rücksichtnahmegebotes auch nicht uneingeschränkt darauf vertraut werden, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer die eigene grundsätzliche Bevorrechtigung beachten. Vorliegend begab sich der Beklagte in eine Kurve, nach der sich auf der linken Seite eine Lichtzeichenanlage für Fußgänger befand, über die man vom Bahnhofsvorplatz in die Innenstadt gelangt. Aufgrund des häufig regen Fußgängerverkehrs in Bahnhofsnähe und der Tatsache, dass viele Fußgänger gerade dort in Eile und unaufmerksam sind, hätte der Beklagte seine Geschwindigkeit ausnahmsweise wegen der besonderen Verkehrssituation anpassen und entsprechend reduzieren müssen (vgl. dazu den ähnlich gelagerten Fall des LG Heidelberg, Urteil vom 15. Mai 2002 - 7 O 19/02 -, juris; ZfSch 2004, 257-​258).

Zutreffend hat das Landgericht dazu herausgearbeitet, dass der Beklagte für diese besondere Verkehrssituation eine zu hohe Geschwindigkeit gewählt hat, da er den eigenen Angaben zufolge (Bl. 80 d.A.) direkt nach der Ausfahrt aus der Kurve des Radweges die Klägerin wahrgenommen und sofort gebremst haben will, einen Zusammenstoß aber nicht mehr verhindern konnte. Wenn ihm die Kurve des Radweges aber eine freie Sicht auf den dahinter liegenden Bereich der Lichtzeichenanlage und des Fußgängerweges versperrt hat, dann hätte der Beklagte trotz seiner grundsätzlichen Bevorrechtigung auf dem Radweg in dieser speziellen Situation langsamer fahren müssen. Dies gilt insbesondere, wenn der Bremsweg bei einer eventuell auftretenden Bremssituation wegen der regnerischen Witterungsbedingungen wohl länger als üblich ausgefallen wäre. Damit steht ein Verschulden des Beklagten gem. § 276 BGB zur Überzeugung des Senats fest.

3. Neben der Haftung des Beklagten ist vorliegend aber ein Mitverschulden der Klägerin im Sinne des § 254 BGB anspruchsmindernd zu berücksichtigen.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts kommt dem Umstand, dass sich der Unfall auf dem Radweg ereignet hat, sehr wohl eine gesteigerte Bedeutung zu. Auch die Radwege sind Bestandteile von öffentlichen Straßen, die für den durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer erkennbar für den Radverkehr bestimmt sind und auf denen die Regeln der Vorfahrt gelten (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 16, September 1998 - 13 U 76/98 -, juris Rn. 15 m. w. N.). Dementsprechend gelten auch die Sorgfaltspflichten beim Überschreiten von Fahrbahnen für das Überschreiten von Radwegen. Die Beachtung des Fahrverkehrs durch Fußgänger ist sowohl vor als auch während des Überquerens der Fahrbahn bzw. des Radweges in beide Richtungen gem. § 25 Abs. 3 StVO geboten. Fußgänger, die eine Fahrbahn oder einen Radweg nicht mit besonderer Vorsicht überqueren, trifft eine entsprechende Mitschuld. Dabei spricht der Anscheinsbeweis gegen den Fußgänger, der unter Verstoß gegen die Rücksichtnahmepflicht gegenüber dem Fahrverkehr die Fahrbahn betritt (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 25 StVO, Rn. 33, 54).

Darüber hinaus gilt auch für die zu Fuß gehende Klägerin der allgemeine Sorgfaltspflichts- und Rücksichtnahmegrundsatz aus § 1 Abs. 1 StVO. Konnte die Klägerin demnach von ihrem Standpunkt auf dem Gehweg aus nicht genau überblicken, ob aus der Kurve Radfahrer auf dem Radweg herangefahren kamen, die sie wegen deren Vorranges hätte vorbeifahren lassen müssen, so hätte sie sich vorsichtig in den Bereich des Radweges hineintasten müssen (vgl. zu dieser Argumentation den ähnlich gelagerten Fall des LG Heidelberg, Urteil vom 15. Mai 2002 - 7 O 19/02 -, juris; ZfSch 2004, 257-​258). Die Klägerin hat weder hinreichend dargelegt, noch nachgewiesen, dass sie bei dem Überqueren des Radweges ausreichend auf Radfahrer geachtet hat. Insgesamt ist damit festzuhalten, dass auf Seiten der Klägerin entgegen des landgerichtlichen Urteils ein Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB besteht.




4. Der Senat bemisst die Höhe des Mitverschuldensanteils der Klägerin am Unfallgeschehen mit 50 %.

Bei unaufmerksam auf einen Radweg tretenden Fußgängern kann es unter Umständen sogar zu einer Alleinhaftung des Fußgängers kommen (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 16. September 1998 - 13 U 76/98 -, juris). Hier liegt der Fall wie dargestellt allerdings anders. Entgegen der Auffassung des Landgerichtes fällt allerdings ins Gewicht, dass sich der Unfall auf dem Radweg und damit auf einer gegenüber der zu Fuß gehenden Klägerin bevorrechtigten Fahrfläche ereignete und die Klägerin daher bei der Überquerung des Radweges eine (noch) größere Vorsicht hätte walten lassen und sich notfalls ganz langsam in diesen hätte "hineintasten" müssen (s. o.). Auf der anderen Seite konnte der Beklagte die Klägerin vor dem Zusammenstoß noch wahrnehmen und seine Bremsen betätigen, ohne dass er jedoch dadurch sein Fahrrad vor ihr zum Stehen bringen konnte. Damit hat er seine Geschwindigkeit zumindest nicht an die an dieser Stelle besonderen Verkehrsverhältnisse, also den kurvigen Verlauf des Radweges und die in Bahnhofsnähe gelegene Lichtzeichenanlage für Fußgänger direkt nach dem Kurvenausgang angepasst. Angesichts dieser kritischen Verkehrslage und des inkorrekten Verhaltens beider Seiten erscheint daher eine Haftungsquote von 50 Prozent für beide Parteien gerechtfertigt (vgl. dazu die Quote in dem ähnlich gelagerten Fall des LG Heidelberg, Urteil vom 15. Mai 2002 - 7 O 19/02 -, juris; ZfSch 2004, 257-​258).

5. Soweit das Landgericht die Ersatzpflicht des Beklagten für zukünftige Schäden der Klägerin abschließend festgestellt hat, ist auch dieses Feststellungsbegehren nur unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverschuldens der Klägerin gerechtfertigt.

Darüber hinaus war die Feststellung der Ersatzpflicht bzgl. zukünftiger immaterieller Schäden dahingehend einzuschränken, dass insoweit nur zum Zeitpunkt de Erlasses des Schlussurteils nicht vorhersehbare Schäden zu ersetzen sind.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.10, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch keine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert.

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