BGH Urteil vom 08.07.1992 - IV ZR 223/91 - Augenblicksversagen als subjektiver Schuldminderungsgrund nach Rotlichtverstoß
BGH v. 08.07.1992: Augenblicksversagen als subjektiver Schuldminderungsgrund nach Rotlichtverstoß
Der BGH (Urteil vom 08.07.1992 - IV ZR 223/91) hat entschieden:
Ein Augenblicksversagen ist allein noch kein Grund, den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit herabzustufen, wenn die objektiven Merkmale der groben Fahrlässigkeit gegeben sind.
Die Klägerin verlangt von der Beklagten, ihrem Kasko-Versicherer, Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall in Höhe von 9.154,86 DM nebst Zinsen.
Sie befuhr am 9. September 1988 gegen 15.35 Uhr die Landstraße in Richtung K. Auf der gut ausgebauten und übersichtlichen Kreuzung mit der Bundesstraße B 456 stieß sie mit dem Pkw des Verkehrsteilnehmers T. zusammen. Sie hatte übersehen, dass die Ampel an der Kreuzung für sie rotes Licht zeigte. Ihr Fahrzeug erlitt bei dem Unfall Totalschaden.
Die Beklagte hat behauptet, die Lichtzeichenanlage habe bereits längere Zeit Rot gezeigt, als die Klägerin in die Kreuzung eingefahren sei. Denn der andere unfallbeteiligte Fahrer sei beim Umschalten der Ampel auf Grün aus dem Stand angefahren und habe sich bereits mitten auf der Kreuzung befunden, als er mit dem Fahrzeug der Klägerin zusammenstieß. Die Klägerin sei mit unverminderter Geschwindigkeit von 60 km/h in die Kreuzung eingefahren.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Beklagte bis auf einen Teil des Zinsanspruchs antragsgemäß verurteilt. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision hat Erfolg.
Die Klägerin hat keinen Anspruch nach §§ 12 Abs. 1 II e, 13 Abs. 1 AKB, denn die Beklagte ist nach § 61 VVG von der Leistung befreit. Die Klägerin hat den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt. Das Berufungsgericht hat den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt.
1. Allerdings ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin objektiv grob fahrlässig gehandelt hat.
Es führt aus, die Klägerin habe die Ampelanlage an der Kreuzung bei Rotlicht überfahren. Die Ampel habe für die Klägerin schon längere Zeit auf Rot gestanden. Dieses Verhalten der Klägerin sei objektiv als grob fahrlässig zu bewerten, denn es stelle einen schweren Verstoß gegen die im konkreten Fall gebotene Sorgfalt dar, der über ein normales Maß deutlich hinausgehe. Dies sei beim Überfahren einer roten Ampel in aller Regel der Fall. Diese Ausführungen sind rechtsfehlerfrei.
2. Das Berufungsgericht meint aber, die subjektiven Voraussetzungen für die Wertung dieses Verhaltens als grob fahrlässig lägen nicht vor. Der Rotlichtverstoß der Klägerin beruhe auf einem Augenblicksversagen. Sie habe bei ihrer Anhörung angegeben, die Ampel während der Annäherung ständig beobachtet zu haben. Sie habe subjektiv den Eindruck gehabt, diese zeige fortwährend grünes Licht, so dass sie der Meinung gewesen sei, die Kreuzung überqueren zu dürfen. Dies sei - nach Auffassung des Berufungsgerichts - so zu erklären, dass die Klägerin kurzfristig geistesabwesend gewesen sei, denn sonst hätte sie das Umspringen des Ampellichts von Grün auf Gelb und Rot bemerken müssen. Die Klägerin sei nicht in Eile gewesen. Mit etwa 60 km/h sei sie auf der gut ausgebauten Landstraße nicht besonders schnell gefahren.
Das Berufungsgericht sieht darin einen Ausnahmefall, bei dem das Verhalten der Klägerin eine minderschwere Beurteilung verdiene.
3. Dagegen wendet sich die Revision mit Erfolg. Die Ausführungen des Berufungsgerichts zur subjektiven Seite der groben Fahrlässigkeit sind von Rechtsfehlern beeinflusst.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt für den Begriff der groben Fahrlässigkeit nicht ein ausschließlich objektiver, nur auf die Verhaltensanforderungen des Verkehrs abgestellter Maßstab. Vielmehr sind auch Umstände zu berücksichtigen, die die subjektive, personale Seite der Verantwortlichkeit betreffen (vgl. BGHZ 10, 14, 17; Urteil vom 11. Juli 1967 - VI ZR 14/66 - VersR 1967, 909, 910 und seither; kritisch vgl. Müller, VersR 1985, 1101). Subjektive Besonderheiten können im Einzelfall im Sinne einer Entlastung von dem schweren Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ins Gewicht fallen (BGH, Urteil vom 11. Juli 1967 aaO).
In jüngerer Zeit hat die Rechtsprechung vermehrt grobe Fahrlässigkeit deshalb verneint, weil der Handelnde nur für einen Augenblick versagte (vgl. OLG Hamm, VersR 1990, 1230, VersR 1991, 223, VersR 1991, 1368; OLG Frankfurt, VersR 1992, 230; OLG Köln, VersR 1991, 1266; grobe Fahrlässigkeit aber bejahend bei Ampelverstößen OLG Hamm, VersR 1988, 1260; OLG Köln, NJW-RR 1991, 480). Das ist dann rechtsfehlerhaft, wenn nicht noch weitere subjektive Umstände hinzukommen, die es rechtfertigen, im Einzelfall unter Abwägung aller Umstände den Schuldvorwurf geringer als grob fahrlässig zu werten.
Der Ausdruck "Augenblicksversagen" beschreibt nur den Umstand, dass der Handelnde für eine kurze Zeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht ließ. Dieser Umstand allein ist kein ausreichender Grund, den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit herabzustufen, wenn die objektiven Merkmale der groben Fahrlässigkeit gegeben sind. Eine Vielzahl der Fälle unbewusster Fahrlässigkeit (nicht alle, wie Müller aaO, S. 1103 unter 3. zu meinen scheint), insbesondere bei Regelverstößen im Straßenverkehr, beruht gerade darauf, dass der Handelnde für eine kurze Zeit unaufmerksam ist und das an ihn gerichtete Gebot oder Verbot übersieht. Dass der Versicherungsnehmer an die erhöhte Gefahr oder an die gebotene Verhaltensalternative nicht gedacht hat, ist typisch für Fälle der unbewussten Fahrlässigkeit und schließt für sich allein die Möglichkeit einer groben Fahrlässigkeit noch nicht aus (vgl. Martin, Sachversicherungsrecht 3. Aufl. Anm. O I Rdn. 28). Vielmehr müssen weitere, in der Person des Handelnden liegende besondere Umstände hinzukommen, die den Grund des momentanen Versagens erkennen und in einem milderen Licht erscheinen lassen.
Das hat das Berufungsgericht verkannt. Soweit es sich für seine Auffassung auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 5. April 1989 (IVa ZR 39/88, VersR 1989, 840) beruft, übersieht es, dass in jenem Fall besondere Umstände in der Person der Klägerin vorgetragen waren, die den Vorwurf eines auch subjektiv unentschuldbaren Verhaltens entfallen lassen konnten. Die Klägerin litt nach ihrem Vortrag an Hirnleistungsschwäche und Gefäßsklerose, die ihr Gedächtnis- und Konzentrationsvermögen beeinträchtigten. Schuldmindernd kann auch zu berücksichtigen sein, wenn das Augenblicksversagen seine Ursache in einer Konzentrationsschwäche hat, die darauf beruht, dass der Handelnde mit einer bestimmten Tätigkeit dauernd beschäftigt ist, die ständig Konzentration erfordert (vgl. Bruck/Möller, VVG 8. Aufl. § 61 Anm. 46, S. 552). Auf diese Begründung einer Schuldminderung geht die Entscheidung des Senats vom 8. Februar 1989 (IVa ZR 57/88, VersR 1989, 582) zurück, bei der eine zur Routine gewordene Handhabung eines Ladekrans zu beurteilen war. Sollte aus dieser Entscheidung zu entnehmen sein, dass ein Augenblicksversagen schon für sich genommen, ohne Hinzutreten besonderer individueller Umstände ein Grund der Schuldminderung sein kann, hält der Senat daran nicht mehr fest.
Von den Fällen, die den beiden genannten Entscheidungen zugrunde lagen, unterscheidet sich die Teilnahme eines Kraftfahrers im Straßenverkehr. Es kann offenbleiben, ob eine Konzentrationsschwäche, die sich bei langer Autofahrt auf freier Landstraße einstellt, ein ausreichender subjektiver Grund sein kann, das augenblickliche Versagen eines Verkehrsteilnehmers zu entschuldigen. Jedenfalls ist das Heranfahren an eine Kreuzung keine Dauertätigkeit; sie erfordert jedesmal erneut besondere Aufmerksamkeit. Eine "kurzfristige Geistesabwesenheit" ist - wie das Berufungsgericht meint - keine ausreichende, entschuldigende Begründung für ein Außerachtlassen der notwendigen Sorgfalt.
Welche hinzutretenden Gründe geeignet sein können, den Schuldvorwurf zu mindern, ist eine Frage des Einzelfalls. Dabei wird auch die Gefährlichkeit der Handlung eine Rolle spielen, denn mit der Größe der möglichen Gefahr wächst auch das Maß der zu erwartenden Sorgfalt (vgl. BGH, Urteil vom 21. April 1977 - III ZR 200/74 - VersR 1977, 817 unter II 2). Das Überfahren einer Kreuzung birgt hohe Gefahren, insbesondere wenn sie für den Verkehrsteilnehmer durch rotes Ampellicht gesperrt ist. Deshalb sind auch besonders hohe Anforderungen an den Verkehrsteilnehmer zu stellen. Von einem durchschnittlich sorgfältigen Kraftfahrer kann und muss verlangt werden, dass er an die Kreuzung jedenfalls mit einem Mindestmaß an Konzentration heranfährt, das es ihm ermöglicht, die Verkehrssignalanlage wahrzunehmen und zu beachten. Er darf sich nicht von weniger wichtigen Vorgängen und Eindrücken ablenken lassen (vgl. OLG Hamm, VersR 1988, 1260).
b) Dieses Maß an Konzentration hat die Klägerin subjektiv unentschuldbar nicht aufgebracht. Das kann der Senat entscheiden, denn weitere Tatsachen, die es rechtfertigen könnten, das Verhalten der Klägerin geringer als grob fahrlässig zu bewerten, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt und sind von den Parteien auch nicht vorgetragen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann vom äußeren Geschehensablauf und vom Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge und deren gesteigerte Vorwerfbarkeit geschlossen werden (vgl. Urteil vom 8. Februar 1989 - IVa ZR 57/88 - aaO unter 4 d, m.w.N.). Mangels entlastender Umstände ist im vorliegenden Fall der Schluss zu ziehen, dass die Klägerin auch subjektiv unentschuldbar handelte, als sie die auf Rot geschaltete Ampel unbeachtet ließ und in die Kreuzung mit unverminderter Geschwindigkeit einfuhr. Es tritt hinzu, dass die Klägerin auch das Herannahen des Verkehrsteilnehmers T. mit seinem Fahrzeug trotz guter Sicht unbeachtet ließ. Auch für diesen weiteren objektiven Pflichtverstoß fehlen Anhaltspunkte, die die Sorglosigkeit der Klägerin subjektiv geringer als grob fahrlässig erscheinen lassen.
c) Das Berufungsgericht hat erörtert, ob die Klägerin das rote Ampellicht übersehen haben könnte, weil ihre Wahrnehmung durch Sonnenstrahlen gegen die Ampel beeinträchtigt gewesen sein könnte. Es hat ausgeführt, ein solcher Tatbestand sei zwar nicht ausgeschlossen, könne aber nicht als wahrscheinlich oder gar sicher angenommen werden, weil der hinter der Klägerin fahrende Verkehrsteilnehmer K. den Farbwechsel der Ampelanlage auf Rot ohne Schwierigkeiten erkannt habe. Diese Erörterungen des Berufungsgerichts nötigen nicht zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, damit eine etwaige Sichtbeeinträchtigung der Klägerin durch Sonneneinstrahlung festgestellt werden kann. Denn wie das Berufungsgericht auch ausführt, hat die Klägerin eine Irritation oder Blendung durch das Sonnenlicht nicht behauptet. Sie hat nur - ebenso wie bei ihrer Anhörung vor dem Landgericht - den Versuch unternommen, ihr Verhalten auf diese Weise zu erklären. Das Berufungsgericht hat schon deshalb zutreffend seiner Beurteilung eine Sichtbehinderung durch Sonnenlicht nicht zugrunde gelegt.