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OLG Bamberg Beschluss vom 03.07.2018 - 3 Ss OWi 932/18 - Berücksichtigung der Sacheinlassung des entbundenen Betroffenen

OLG Bamberg v. 03.07.2018: Berücksichtigung der Sacheinlassung des von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung entbundenen Betroffenen


Das OLG Bamberg (Beschluss vom 03.07.2018 - 3 Ss OWi 932/18) hat entschieden:

   Nach Art. 103 Abs. 1 GG ist eine schriftliche, gegebenenfalls durch die Verteidigung weitergeleitete Sacheinlassung des von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung entbundenen (abwesenden) Betroffenen auch dann zu berücksichtigen, wenn sie dem Gericht erst am Sitzungstag unmittelbar vor dem anberaumten Termin übermittelt wird. Darauf, ob die Sacheinlassung bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung dem Gericht vorgelegt wird oder ihr Inhalt tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist, kommt es nicht an.



Siehe auch
Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen
und
Rechtliches Gehör im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren


Gründe:


I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen eines Abbiegefehlers, der zu einem Unfall führte, zu einer Geldbuße von 85 Euro verurteilt. Das schriftliche Urteil enthält keine Entscheidungsgründe. Mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er beantragt, rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Die Verfahrensrüge, das Gericht habe den Sachvortrag des Betroffenen, bei Einleitung des Abbiegevorgangs mit seinem Fahrzeug sei kein weiteres Fahrzeug sichtbar gewesen und er habe den Abbiegevorgang sofort nach dessen Sichtbarwerden abgebrochen, übergangen bzw. nicht zur Kenntnis genommen, ist zulässig und auch begründet. Dieses Vorgehen verletzt den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).

1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis zu nehmen und in seine Entscheidungserwägungen einzubeziehen (vgl. nur BVerfG NJW 1992, 1875 und NJW 1996, 2785, 2786). Zwar kommt ein Verstoß gegen rechtliches Gehör nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. etwa BGH NStZ-​RR 2013, 157) nur dann in Betracht, wenn sich aus den besonderen Umständen des konkreten Einzelfalles ergibt, dass der Tatrichter ein Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. BVerfGE 54, 86; KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 80 Rn. 41 m.w.N.). Solche besonderen Umstände liegen hier jedoch vor.




a) Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat das Amtsgericht die am Hauptverhandlungstag eingegangene schriftliche Einlassung des Betroffenen nicht nur nicht in die Hauptverhandlung eingeführt, sondern sogar unzutreffender weise festgestellt, dass dieser sich über die Einräumung der Fahrereigenschaft hinaus nicht zur Sache einlasse. Auch aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht, dass das Amtsgericht die für die Schuldfrage relevante Einlassung zumindest der Sache nach in Betracht gezogen und für unerheblich oder widerlegt gehalten hätte. Von einer Absetzung schriftlicher Gründe hat das Gericht vielmehr in rechtsfehlerhafter Weise abgesehen, obwohl die in § 77b Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 OWiG genannten Voraussetzungen hierfür mangels Verzichts und mangels Vertretung des Betroffenen in der Hauptverhandlung nicht vorgelegen haben.

b) Darauf, dass die vom Verteidiger weitergeleitete Einlassung des Betroffenen erst am 22.03.2018 um 14.24 Uhr und damit nur kurz vor dem auf 14.45 Uhr angesetzten Hauptverhandlungstermin per Telefax beim Amtsgericht einging und möglicherweise dem zuständigen Richter gar nicht mehr vorgelegt wurde, kommt es nicht an. Maßgeblich ist vielmehr allein, dass nach Aktenlage die Einlassung das Amtsgericht am Terminstag vor Beginn der Hauptverhandlung tatsächlich erreicht hatte und deshalb bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem zuständigen Richter rechtzeitig hätte zugeleitet werden können. Im Falle der Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens nach § 74 Abs. 1 OWiG gebietet es die Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht, dass der Richter sich zuvor bei seiner Geschäftsstelle informiert. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats für den Fall des Eingangs eines Entbindungsantrags nach §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 2 OWiG (vgl. u.a. OLG Bamberg, Beschl. v. 30.10.2007 - 2 Ss OWi 1409/07 = NStZ-​RR 2008, 86 = NZV 2008, 259; vom 27.01.2009 - 2 Ss OWi 1613/08 = NStZ-​RR 2009, 149 = ZfS 2009, 290 = NZV 2009, 355 = OLGSt OWiG § 74 Nr. 2 und vom 29.12.2010 - 2 Ss OWi 1939/10 = NZV 2011, 409, jeweils m.w.N.; vgl. auch OLG Naumburg, Beschl. v. 25.08.2015 - 2 Ws 163/15 [bei juris] sowie KG, Beschl. v. 10.11.2011 - 2 Ss 286/11 [bei juris] und vom 28.08.2014 - 122 Ss 132/14 = StraFo 2014, 467 = VRS 127 [2014], 181) und kann in der vorliegenden Fallkonstellation nicht anders gehandhabt werden, da es dem Betroffenen jederzeit freisteht, sein Einlassungsverhalten auch kurzfristig zu ändern und da schriftliche Mitteilungen des Betroffenen bzw. prozessuale Gesuche erfahrungsgemäß nicht selten noch am Terminstag bei Gericht eingehen.



2. Das Urteil beruht auch auf dem Rechtsfehler. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses bei Berücksichtigung der Einlassung des Betroffenen zu seinen Gunsten ausgefallen wäre.

III.

Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG). Der Senat merkt an, dass sich die amtsgerichtliche Entscheidung im Falle einer Verurteilung des Betroffenen in Tenor und Gründen auch zur Schuldform zu verhalten hat.

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