Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgerichtshof München Beschluss vom 28.06.2018 - 11 CS 17.2068 - Verlust und Wiedererlangung der Fahreignung bei Alkoholmissbrauch

VGH München v. 28.06.2018: Verlust und Wiedererlangung der Fahreignung bei Alkoholmissbrauch


Der Verwaltungsgerichtshof München (Beschluss vom 28.06.2018 - 11 CS 17.2068) hat entschieden:

   Ungeachtet der Blutalkoholkonzentration ist von Alkohomissbrauch auszugehen, wenn ein Fahrzeug wiederholt unter unzulässig hoher Alkoholkonzentration geführt worden ist. Als wiederhergestellt gilt die Fahreignung, wenn nicht mehr mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit mit einer Fahrt unter Alkoholeinfluss gerechnet werden muss. Davon ist zum einen auszugehen, wenn Alkohol nur noch kontrolliert getrunken oder – sofern aufgrund der Lerngeschichte erforderlich – Abstinenz eingehalten wird, zum andern, wenn die vollzogene Änderung im Umgang mit Alkohol stabil und motivational gefestigt ist. Das kann festgestellt werden, wenn die Verhaltensänderung genügend lang erprobt ist und sich entsprechende Erfahrung gebildet hat (in der Regel nach einem Jahr, mindestens jedoch sechs Monaten), sich ein angemessenes Problembewusstsein entwickelt hat, die durch die Verhaltensveränderung erzielten Wirkungen positiv erlebt werden, der Änderungsprozess nachvollziehbar aufgezeigt worden ist, eine den Alkoholmissbrauch eventuell bedingende Persönlichkeitsproblematik erkannt und korrigiert ist und die äußeren Bedingungen (Lebensverhältnisse u.a.) nicht entgegenstehen.



Siehe auch

Alkoholmissbrauch

und

Alkohol und Führerschein im Fahrerlaubnisrecht


Gründe:


I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis.

Am 4. August 2017 legte der Antragsteller, der in der Vergangenheit wiederholt wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss aufgefallen war, der Fahrerlaubnisbehörde – auf entsprechende auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV gestützte Anforderung hin – ein medizinisch-​psychologisches Gutachten vor, wonach zu erwarten ist, dass er das Führen von Kraftfahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen kann. Dem Antragsteller wurde empfohlen, konsequent und dauerhaft auf Alkohol zu verzichten und sich an eine verkehrspsychologische Einrichtung zu wenden, um die bestehende Alkoholproblematik aufzuarbeiten und einen dauerhaften Alkoholverzicht zu etablieren, welcher vor einer erneuten medizinisch-​psychologischen Begutachtung durch entsprechende Urinproben zu belegen sei.




Daraufhin entzog das Landratsamt Main-​Spessart dem Antragsteller mit Bescheid vom 28. August 2017 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1, C1E, L, M, S und T.

Hiergegen ließ der Antragteller durch seinen Bevollmächtigten beim Verwaltungsgericht Würzburg Klage erheben, über die noch nicht entschieden ist, und gleichzeitig Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO stellen. Mit Beschluss vom 5. Oktober 2017 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag im Wesentlichen mit der Begründung ab, das Landratsamt habe wegen der drei im Fahreignungsregister eingetragenen Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss aus den Jahren 2009, 2011 und 2017 zu Recht gemäß § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV die Beibringung eines medizinisch-​psychologischen Gutachtens angeordnet. Ein Verstoß gegen die einschlägigen Tilgungs- und Verwertungsbestimmungen sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Auch die positive medizinisch-​psychologische Begutachtung aus dem Jahr 2012 und die darauf erfolgte Wiedererteilung der Fahrerlaubnis würden nicht die Berücksichtigung früherer Trunkenheitsfahrten verbieten. Letztlich könne aber dahinstehen, ob das Gutachten zu Recht angefordert worden sei, da ein vorgelegtes Fahreignungsgutachten eine neue Tatsache mit selbständiger Bedeutung darstelle. Das nachvollziehbare widerspruchsfreie Gutachten vom 28. Juli 2017 sei verwertbar. Die geltenden Grundsätze für die Durchführung der Untersuchung und Erstellung des Gutachtens seien beachtet worden. Der Vortrag, der Antragsteller lebe seit März 2017 abstinent und könne dies belegen, vermöge das Gutachten ebenfalls nicht zu erschüttern, da die Annahme eines gefestigten Verhaltenswandels nicht allein von der Zurücklegung bestimmter Abstinenzzeiträume abhänge. Weiter habe der Antragsteller seine Fahreignung auch nicht wiedererlangt, da er weder die nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung erforderlichen Voraussetzungen erfülle noch ein positives medizinisch-​psychologisches Gutachten vorgelegt habe. Das vorgelegte Gutachten habe vielmehr überzeugend belegt, dass ein stabiler tiefgreifender Einstellungswandel bei ihm gegenwärtig nicht erkennbar sei. Die Absicht, regelmäßig an Urinscreenings teilzunehmen, genüge nicht. Daher komme auch eine dahingehende Auflage nicht in Betracht. Im Hinblick auf die feststehende fehlende Fahreignung des Antragstellers, der schon wiederholt unter Alkoholeinfluss am Straßenverkehr teilgenommen habe, könne die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage auch nicht im Rahmen einer Interessenabwägung verantwortet werden.



Mit seiner Beschwerde begehrt der Antragsteller sinngemäß die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Er trägt vor, die gerichtliche Entscheidung sei schon deshalb fehlerhaft, weil ihm unterstellt werde, Alkoholmissbrauch zu betreiben. Dies widerspreche dem vorgelegten Gutachten, wonach der Antragsteller selbst einen Alkoholverzicht für notwendig halte und diesen auch praktiziere. Nach den einschlägigen Richtlinien sei das Alkoholtrinkverhalten dann stabil geändert, wenn nur noch kontrolliert getrunken werde oder Alkoholabstinenz zuverlässig eingehalten werde. Letzteres werde durch die mehrmonatige Abstinenz zum Untersuchungszeitpunkt und deren Einhaltung bis heute nachgewiesen. Bereits aus dem medizinischen Teil des Gutachtens ergebe sich, dass diese Verhaltensänderung stabil sei. In Anbetracht der Abstinenz seit Februar 2017 sei die Entziehung der Fahrerlaubnis zumindest unverhältnismäßig. Die einschlägigen Richtlinien verlangten strikte Abstinenz nur von Personen, die entweder Alkohol in missbräuchlicher Weise konsumierten oder Alkoholiker seien. Auch liege die im Februar 2017 festgestellte Blutalkoholkonzentration von 0,64 ‰ noch im unteren Bereich. Für einen nachgewiesenen Kontrollverlust sei dieser Wert auch wohl zu niedrig. Weder das Verwaltungsgericht noch das Landratsamt setze sich damit auseinander, ob eine strikte Abstinenzauflage angesichts der Fallumstände ausreichend sei, um das öffentliche Interesse an der Verkehrssicherheit zu gewährleisten. Soweit das Gericht einen Einstellungswandel fordere, verkenne es, dass dieser durch die gelebte Abstinenz bereits umgesetzt worden sei. Mit Schreiben vom 18. April 2018 legte der Antragsteller Abstinenznachweise für den Zeitraum vom 2. Oktober 2017 bis 1. April 2018 vor.

Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und

Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der angefochtene Entziehungsbescheid rechtswidrig wäre.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (BGBl. I S. 3202), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-​Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Verordnung vom 14. August 2017 (BGBl. I S. 3232), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV fehlt die Fahreignung in Fällen des Alkoholmissbrauchs, d.h. wenn das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden. Dieser fahrerlaubnisrechtliche Begriff setzt folglich nicht voraus, dass Alkohol im Übermaß konsumiert wird, etwa in gesellschaftliche Normen überschreitender oder gesundheitlich riskanter Weise (vgl. OVG NW, B.v. 11.1.2018 – 16 B 1465/17 juris Rn. 11 m.w.N.). Nach Beendigung des Missbrauchs besteht die Fahreignung gemäß Nr. 8.2 der Anlage 4 zur FeV für alle Fahrerlaubnisklassen erst dann wieder, wenn die Änderung des Trinkverhaltens gefestigt ist, was gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d FeV durch ein medizinisch-​psychologisches Gutachten nachzuweisen ist (vgl. BayVGH, B.v. 3.8.2015 – 11 CS 15.1204 – juris Rn. 13; B.v. 18.1.2016 – 11 ZB 15.2025 – juris Rn. 16). Die Herstellung der Fahreignung durch alkoholbezogene Beschränkungen bzw. Abstinenzauflagen ist in diesen Fällen gesetzlich nicht vorgesehen, so dass deren nachträglicher Erlass, aber auch die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis unter entsprechenden Beschränkungen bzw. Auflagen im Regelfall nicht in Betracht kommen (vgl. VGH BW, U.v. 11.12.2017 – 10 S 2263/16 – NZV 2018, 149 = juris Rn. 32 ff.).

Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind nach § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a die Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (VkBl. S. 110) in ihrer jeweils geltenden Fassung. Nach Abschnitt 3.13.1 der Begutachtungsleitlinien ist – ungeachtet der Blutalkoholkonzentration – u.a. dann von Missbrauch auszugehen, wenn, wie im Fall des Antragstellers, ein Fahrzeug wiederholt unter unzulässig hoher Alkoholkonzentration geführt worden ist. Als wiederhergestellt gilt die Fahreignung, wenn nicht mehr mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit mit einer Fahrt unter Alkoholeinfluss gerechnet werden muss. Davon ist zum einen auszugehen, wenn Alkohol nur noch kontrolliert getrunken oder – sofern aufgrund der Lerngeschichte erforderlich – Abstinenz eingehalten wird, zum andern, wenn die vollzogene Änderung im Umgang mit Alkohol stabil und motivational gefestigt ist. Letzteres kann nach den Vorgaben der Begutachtungsleitlinien (Abschnitt 3.13.1) festgestellt werden, wenn die Verhaltensänderung genügend lang erprobt ist und sich entsprechende Erfahrung gebildet hat (in der Regel nach einem Jahr, mindestens jedoch sechs Monaten), sich ein angemessenes Problembewusstsein entwickelt hat, die durch die Verhaltensveränderung erzielten Wirkungen positiv erlebt werden, der Änderungsprozess nachvollziehbar aufgezeigt worden ist, eine den Alkoholmissbrauch eventuell bedingende Persönlichkeitsproblematik erkannt und korrigiert ist und die äußeren Bedingungen (Lebensverhältnisse, u.a.) nicht entgegenstehen.


Nach diesen Maßgaben lässt sich die Prognose einer stabilen und motivational gefestigten Verhaltensänderung also nicht, wie der Antragsteller meint, allein aus seiner alkoholabstinenten Lebensweise ableiten. Diese ist, sofern sie vom Gutachter wie hier aufgrund der Lerngeschichte für notwendig erachtet wird, lediglich eines von mehreren Beurteilungskriterien. Zudem war die geübte Alkoholabstinenz im Untersuchungszeitpunkt als auch im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheids im August 2017 noch nicht lange genug erprobt und damit noch kein tragfähiges Kriterium. Nach eigenen Angaben hatte der Antragsteller am Untersuchungstag Ende Juli 2017 erst „seit vier Monaten“ bzw. „Anfang/Mitte März“, also nicht wie in der Beschwerde vorgetragen seit Februar 2017, keinen Alkohol mehr getrunken. Dafür, dass in seinem Fall atypische Umstände vorliegen, die ein Abweichen von der Jahresregel rechtfertigen würden, ist nichts vorgetragen und auch sonst nichts ersichtlich. Die im Beschwerdeverfahren zum Nachweis einer Abstinenz von mehr als einem Jahr vorgelegten Nachweise betreffen den Zeitraum nach Entziehung der Fahrerlaubnis und können daher erst im Wiedererteilungsverfahren berücksichtigt werden. Im Übrigen ist das Verwaltungsgericht auch zu Recht davon ausgegangen, dass die gutachterliche Abstinenzforderung schlüssig begründet worden ist. Dies hat der Antragsteller mit der Beschwerde auch nur insoweit angegriffen, als er behauptet, es sei gutachterlich festgestellt, dass Alkoholmissbrauch bei ihm nicht bestehe. Das Gegenteil ist der Fall. Das Gutachten vom 28. Juli 2017 kam vielmehr zu dem Ergebnis, dass der aufgrund wiederholter Trunkenheitsfahrten feststehende Alkoholmissbrauch noch nicht beendet war. Denn unabhängig von der Frage einer abstinenten Lebensweise wird in dem Gutachten (S.13 ff.) nachvollziehbar erläutert, dass das geänderte Trinkverhalten des Antragstellers motivational nicht hinreichend gefestigt ist, weil die künftige Wirksamkeit des Änderungsmotivs in Frage zu stellen sei. Die Wahrnehmung seines früheren Alkoholkonsums sei von Verdrängung geprägt; auch habe er keine hinreichenden Strategien zur Vermeidung eines Rückfalls entwickelt.

Vor diesem Hintergrund war die Entziehung der Fahrerlaubnis im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch nicht unverhältnismäßig.

Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs in der Fassung der am 31. Mai/1. Juni 2012 und am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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