Das Verkehrslexikon

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Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Beschluss vom 31.10.2018 - OVG 1 S 101.18 - Bedeutung der verfahrensrechtlichen Einjahresfristv

OVG Berlin-Brandenburg v. 31.10.2018: Zur Bedeutung der verfahrensrechtlichen Einjahresfrist


Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 31.10.2018 - OVG 1 S 101.18) hat entschieden:

   Soweit angenommen wird, dass ein Jahr nach dem Tag, den der Betroffene als Abstinenzbeginn behauptet, gleichsam automatisch nicht mehr vom Fortbestehen der fehlenden Fahreignung ausgegangen werden dürfe (sog. verfahrensrechtliche Jahresfrist vgl. BayVGH Beschluss vom 4. Februar 2009 - 11 CS 08.2591 - juris Rn. 17 und Beschluss vom 9. Mai 2005 - 11 CS 04.2526 - juris Rn. 20, 26; offenlassend aber Beschluss vom 27. Februar 2017 - 11 CS 16.2316 - juris Rn. 25), geht der Senat im Einklang mit der Rechtsprechung anderer Obergerichte davon aus, dass eine festgestellte Fahrungeeignetheit grundsätzlich ohne starre zeitliche Vorgaben und unabhängig von bloßen Zeitabläufen fortbesteht, solange die Wiedererlangung der Fahreignung nicht materiell nachgewiesen ist. Wie lange die (Regel-) Vermutung der Ungeeignetheit ohne weitere Ermittlungen fortbesteht, lässt sich dabei nur nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere im Hinblick auf Art, Umfang und Dauer des Drogenkonsums, und nicht schematisch anhand fester Fristen beurteilen (vgl. OVG Weimar, Beschluss vom 9. Juli 2014 - 2 EO 589/13 - juris Rn. 18; VGH Mannheim, Beschluss vom 7. April 2014 - 10 S 404/14 - juris, Rn. 9 ff.; OVG Münster, Beschluss vom 3. September 2010 - 16 B 382/10 - juris, Rn. 5 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 24. April 2002 - 3 Bs 19/02 - juris Rn. 23; OVG Greifswald, Beschluss vom 19. März 2004 - 1 M 2/04 - juris Rn. 30). Für die Annahme, dass der Fahrerlaubnisinhaber seine Fahreignung im Laufe der Zeit wiedererlangt hat, müssen jedenfalls begründete Anhaltspunkte vorliegen.


Siehe auch

Abstinenzbehauptung und verfahrensrechtliche Einjahresfrist

und

Wiedererteilung der Fahrerlaubnis - Wiedererlangung der Fahreignung


Gründe:


Die Beschwerde der Antragstellerin, mit der sie sich weiterhin gegen die sofortige Vollziehung des Entzugs ihrer Fahrerlaubnis (Klassen A, A2, AM, D, BE, C1E, D1E und L) wendet, nachdem eine ihr am 18. Mai 2017 als Führerin eines BVG-Busses entnommene Blutprobe eine Konzentration von 180,0 ng/ml Amphetamin, 10,0 ng/ml THC, 230,0 ng/ml THC-Carbonsäure und 9,0 ng/ml 11-Hydroxy-THC-Carbonsäure ergeben hatte, hat keinen Erfolg.

Das für die Prüfung des Senats maßgebliche Beschwerdevorbringen zeigt keine Gründe auf, aus denen der Beschluss vom 28. August 2018 abzuändern oder aufzuheben wäre (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO).

Erfolglos bleibt der Beschwerdeeinwand, bei der Antragstellerin sei unter Einbeziehung ihres angeblich ab dem 18. Mai 2017 eingestellten Drogenkonsums von einer einjährigen Abstinenz auszugehen, da sich im Wortlaut der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung für die „Forderung nach einer ‚nachgewiesenen‘ Abstinenz …keine Stütze“ finde; die Fahreignung der Antragstellerin wäre daher vor der Entziehung zu begutachten gewesen.




Durch den unstreitig festgestellten Konsum sog. „harter Drogen“ (Amphetamin) hat sich die Antragstellerin gemäß Ziffer 9.1. der Anlage 4 zur FeV als grundsätzlich fahrungeeignet erwiesen (vgl. Senatsbeschluss vom 10. Juni 2009 – OVG 1 S 97.09 - juris Leitsatz). Dies verpflichtet die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV i.V.m. Nr. 9.1. der Anlage 4 zur FeV der Antragstellerin die Fahrerlaubnis zu entziehen. Abweichungen von diesem Regelfall sind nach Nr. 3 der Vorbemerkung von Anlage 4 zu FeV ausnahmsweise möglich, wenn die grundsätzliche Eignungsbewertung der Nr. 9.1. der Anlage 4 zur FeV durch besondere Umstände zweifelhaft ist. In diesem Fall kann eine Begutachtung angezeigt sein. Besondere Umstände dieser Art zeigt die Beschwerde allerdings nicht auf. Dass die Antragstellerin ihre Tätigkeit als Busfahrerin der BVG in der Zeit vom Oktober 2017 bis Mitte Februar 2018 fortgeführt hat, belegt - entgegen der Beschwerde - die Fahreignung der Antragstellerin nicht, denn dieser Umstand besagt nichts über ihr Abstinenzverhalten bzw. eine etwaige Entgiftung und Entwöhnung. Zudem könnte der durch den hohen THC-Carbonsäurewert von 230,0 ng/ml bei der Antragstellerin nachgewiesene regelmäßige Cannabiskonsum (vgl. Behördengutachten vom 25. Juli 2017, Seite 4) ebenso eine relative Gewöhnung, d.h. Giftfestigkeit der Antragstellerin zur Folge haben, die sie „befähigt“, in Grenzen routinierte Handlungsabläufe bei der Steuerung eines Kraftfahrzeugs auch im berauschten Zustand vorzunehmen; eine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG ist damit nicht dargetan.

Bei der Antragstellerin ist auch keine die Fahreignung wiederherstellende Entwöhnung und Entgiftung im Sinne von Nr. 9.5. der Anlage 4 zur FeV anzunehmen, denn - anders als die Beschwerde meint - fehlt es bereits an der erforderlichen einjährigen Abstinenzphase. Den Beginn der Abstinenzphase hat das Verwaltungsgericht dabei zu Recht erst mit dem Eintritt der Antragstellerin in das Drogenkontrollprogramm im Oktober 2017 angenommen. Soweit sich die Antragstellerin auf die - in der Beschwerde nur in Bezug genommene - Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes beruft, der der in Nr. 9.5. der Anlage 4 zur FeV genannten materiellrechtlichen Zeitspanne zur Wiedererlangung der Fahreignung auch eine verfahrensrechtliche Bedeutung dahin zuspricht, dass ein Jahr nach dem Tag, den der Betroffene als Abstinenzbeginn behauptet, gleichsam automatisch nicht mehr vom Fortbestehen der fehlenden Fahreignung ausgegangen werden dürfe (sog. verfahrensrechtliche Jahresfrist vgl. BayVGH Beschluss vom 4. Februar 2009 - 11 CS 08.2591 - juris Rn. 17 und Beschluss vom 9. Mai 2005 - 11 CS 04.2526 - juris Rn. 20, 26; offenlassend aber Beschluss vom 27. Februar 2017 - 11 CS 16.2316 - juris Rn. 25) dringt sie nicht durch. Der Senat geht im Einklang mit der Rechtsprechung anderer Obergerichte davon aus, dass eine festgestellte Fahrungeeignetheit grundsätzlich ohne starre zeitliche Vorgaben und unabhängig von bloßen Zeitabläufen fortbesteht, solange die Wiedererlangung der Fahreignung nicht materiell nachgewiesen ist. Wie lange die (Regel-) Vermutung der Ungeeignetheit ohne weitere Ermittlungen fortbesteht, lässt sich dabei nur nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere im Hinblick auf Art, Umfang und Dauer des Drogenkonsums, und nicht schematisch anhand fester Fristen beurteilen (vgl. OVG Weimar, Beschluss vom 9. Juli 2014 - 2 EO 589/13 - juris Rn. 18; VGH Mannheim, Beschluss vom 7. April 2014 - 10 S 404/14 - juris, Rn. 9 ff.; OVG Münster, Beschluss vom 3. September 2010 - 16 B 382/10 - juris, Rn. 5 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 24. April 2002 - 3 Bs 19/02 - juris Rn. 23; OVG Greifswald, Beschluss vom 19. März 2004 - 1 M 2/04 - juris Rn. 30). Für die Annahme, dass der Fahrerlaubnisinhaber seine Fahreignung im Laufe der Zeit wiedererlangt hat, müssen jedenfalls begründete Anhaltspunkte vorliegen. Diese sind nicht schon gegeben, wenn ein Fahrerlaubnisinhaber vorgibt, seit längerer Zeit keine Drogen mehr zu konsumieren, oder einzelne Abstinenznachweise erbringt. Vielmehr setzt dies im Regelfall eine mindestens einjährige Abstinenz voraus, die - bei den hier in Rede stehenden Zeitspannen - in einer forensisch gesicherten Form nachgewiesen werden muss, d.h. qualifizierten Anforderungen einer anzuerkennenden Analyse genügt. Außerdem ist durch eine medizinisch-psychologische Untersuchung der Nachweis zu erbringen, dass der Fahrerlaubnisinhaber seine Einstellung zum Drogenkonsum geändert hat und von einer dauerhaften und stabilen Drogenabstinenz ausgegangen werden kann (stRspr. des Senats, zuletzt Beschluss vom 14. August 2018 - OVG 1 S 70.18 - S. 3; ebenso OVG Weimar, Beschluss vom 9. Juli 2014 - 2 EO 589/13 - juris Rn. 17; VGH Kassel, Beschluss vom 21. September 2017 - 2 D 1471.17 - juris Rn. 15). Begründete Anhaltspunkte der vorgenannten Art fehlen indes nach wie vor, denn, obgleich das von der Antragstellerin begonnene einjährige Drogenkontrollprogramm am 4. Oktober 2018 beendet werden sollte, hat sie mit der vorliegenden Beschwerde weder die gesicherte einjährige Abstinenz nachgewiesen noch den stabilen, einen Rückfall in ein die Fahreignung ausschließendes Verhaltensmuster hinreichend sicher ausschließenden, inneren Einstellungswandel belegt.




Die Beschwerde rügt weiter, das Verwaltungsgericht habe die formelle Rechtswidrigkeit der Entziehung zu Unrecht verneint, denn es fehle an der erforderlichen Anhörung. Der Antragsgegner habe weder ihre vor Erlass der Entziehungsverfügung ausdrücklich angekündigte Stellungnahme abgewartet noch sei die vom Verwaltungsgericht angenommene Heilung im Widerspruchsverfahren erfolgt, weil diese erst durch Erlass eines - hier noch ausstehenden - Widerspruchbescheides eintreten könne. Auch hiermit zeigt die Antragstellerin keinen Grund zur Änderung des angegriffenen Beschlusses auf. Sofern die Antragstellerin rügt, dass bislang (noch) keine Heilung nach § 1 Abs. 1 BlnVwVfG i.V.m. § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG eingetreten sei, weil das Widerspruchsverfahren nicht abgeschlossen sei, bliebe dies jedenfalls nach § 1 Abs. 1 BlnVwVfG i.V.m. § 46 VwVfG folgenlos, weil sich ein Anhörungsverstoß auf die gebundene Entziehungsentscheidung des Antragsgegners offensichtlich nicht auswirkte. In der Sache hätte keine andere Entscheidung ergehen können, da auch das jetzige Vorbringen - wie vorstehend dargelegt - weder die Eignungsbewertung nach Nr. 9.1. der Anlage 4 zur FeV in Frage stellt noch eine Wiedererlangung der Fahreignung aufzeigt.

Ungeachtet dessen kann die Beschwerde ohnehin, keinen Erfolg haben, weil - den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts folgend - das öffentliche Vollziehungsinteresse selbst bei offenen Erfolgsaussichten das private Aussetzungsinteresse verdrängen würde, solange die Fahreignung der Antragstellerin nicht positiv festgestellt ist. Dieser Vorrang folgt aus dem Gewicht der sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ergebenden staatlichen Schutzpflicht, der zufolge der Staat gehalten ist, sich schützend und fördernd vor das menschliche Leben zu stellen und dieses vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten Anderer zu bewahren (vgl. BVerfG, Urteil vom 16. Oktober 1977 - 1 BvQ 5/77 - juris Rn. 13). Diese staatliche Schutzpflicht gilt auch und gerade im Hinblick auf die Sicherheit des Straßenverkehrs (BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2002 - 1 BvR 2062/96 - juris Rn. 52) und somit für die Abwehr von Gefahren, die durch die Teilnahme von nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen geeigneten Fahrern am Straßenverkehr entstehen können (so zur Intention der §§ 3 Abs. 1 StVG, 46 Abs. 1 FeV: BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 - 3 C 32.07 - juris Rn. 14). Von daher beansprucht auch hier der Grundsatz Geltung, dass die Gefahren für die Allgemeinheit, die von einem möglicherweise zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet geltenden Verkehrsteilnehmer ausgehen, jedenfalls solange schwerer wiegen als das private Interesse des Einzelnen, weiterhin am motorisierten Straßenverkehr teilnehmen zu können, bis die Zweifel an seiner Kraftfahreignung ausgeräumt sind (stRspr. des Senats, dazu grundliegend: Beschluss vom 6. Februar 2018 - OVG 1 S 100.18 - juris Rn. 9).




Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Dabei war der erstinstanzliche Beschluss von Amts wegen zu ändern, § 63 Abs. 2 Nr. 3 GKG. Der Streitwert für die in Rede stehenden Klassen A, A2, AM, D, BE, C1E, D1E und L beträgt in Anlehnung an den Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit i.d.F. der am 31. Mai/1. Juni 2012 und 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen 8.750,00 Euro. Dabei berücksichtigt der Senat lediglich diejenigen Fahrerlaubnisklassen mit einem Einsatzwert, die eine eigenständige Bedeutung haben, vgl. insoweit § 6 Abs. 3 und 1 i.V.m. den Anlagen 3 und 9 zur FeV (ausführlich OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. Oktober 2017 - OVG 1 L 39.17 - BA S. 2 f.). Hiernach ergibt sich ein - im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu halbierender - Streitwert von insgesamt 17.500,00 Euro, da die Fahrerlaubnis der Klassen C1E und A (Nr. 46.5 und 46.1 des Streitwertkatalogs) jeweils mit dem vollen Auffangwert von 5.000,00 Euro anzusetzen sind und die Fahrerlaubnisklasse D mit dem eineinhalbfachen Auffangwert (Nr. 46.6. des Streitwertkatalogs). Die Fahrerlaubnis der Klasse C1E umfasst die Klassen BE, AM und L. Die Fahrerlaubnis Klasse D1E umfasst die Klasse D und die Fahrerlaubnisklasse A2 ist in der Klasse A enthalten.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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