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Verwaltungsgericht Berlin Beschluss vom 22.11.2018 - 4 L 366.18 - EU-Fahrerlaubnismaßnahmen von Nicht-Wohnsitzstaaten

VG Berlin v. 22.11.2018: Zuständigkeit für EU-Fahrerlaubnismaßnahmen von Nicht-Wohnsitzstaaten


Das Verwaltungsgericht Berlin (Beschluss vom 22.11.2018 - 4 L 366.18) hat entschieden:

   Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 20. November 2008 – C-1/07 –, juris Rn. 38) ist zunächst allein der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet eine Zuwiderhandlung begangen wird, dafür zuständig, diese zu ahnden, indem er gegebenenfalls eine Maßnahme des Entzugs, eventuell verbunden mit einer Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis, verhängt. Ein Mitgliedstaat, der nicht der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes ist, darf wegen der in seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung des Inhabers eines zuvor in einem anderen Mitgliedstaat erhaltenen Führerscheins nur solche Maßnahmen nach seinen nationalen Rechtsvorschriften ergreifen, deren Tragweite auf dieses Hoheitsgebiet beschränkt ist und deren Wirkung sich auf die Ablehnung beschränkt, in diesem Gebiet die Gültigkeit dieses Führerscheins anzuerkennen (EuGH, Urteil vom 23. April 2015 – C-260/13 –, juris Rn. 60). Nach diesen Maßstäben durfte dem Antragsteller jedenfalls das Recht aberkannt werden, von seiner polnischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen.


Siehe auch
- EU-Fahrerlaubnis / EU-Führerschein
und
- Stichwörter zum Thema EU-Führerschein


Gründe:


I.

Der Antragsteller wendet sich gegen eine sofort vollziehbare Entziehung seiner polnischen Fahrerlaubnis.

Mit Bescheid vom 29. August 2016 ermahnte ihn das Landratsamt Lindau bei einem Stand von 4 Punkten im Fahreignungsregister. Als das Landesamt für Bürger-​und Ordnungsangelegenheiten Berlin davon Kenntnis erhielt, dass für den zwischenzeitlich mit einem Wohnsitz in Berlin gemeldeten Antragsteller 7 Punkte im Fahreignungsregister verzeichnet waren, verwarnte es den Antragsteller mit Bescheid vom 5. Dezember 2016. Das Kraftfahrtbundesamt teilte unter dem 10. Juli 2018 mit, dass nunmehr im Fahreignungsregister 10 Punkte für den Antragsteller verzeichnet waren. Unter dem 15. August 2018 hörte ihn das Landesamt zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an. Er ließ vortragen, er wohne tatsächlich in Polen und habe in Berlin nur eine Unterkunft als Zweitwohnsitz. Mit Bescheid vom 17. September 2018 entzog das Landesamt für Bürger-​und Ordnungsangelegenheiten dem Antragsteller seine polnischen Fahrerlaubnis und wies darauf hin, dass die Entziehung die Wirkung einer Aberkennung des Rechts habe, von seiner ausländischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen. Die Behörde gab dem Antragsteller ferner auf, seinen Führerschein binnen 5 Tagen nach Zustellung des Bescheides abzugeben oder zu übersenden. Gleichzeitig erhob sie Gebühren und Auslagen in Höhe von 222,04 Euro. Gegen den am 25. September 2018 zugestellten Bescheid erhob der Antragsteller am 28. September 2018 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist.




Mit dem am selben Tage anhängig gemachten Eilantrag verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Er ist der Auffassung, die Entziehung einer Fahrerlaubnis stehen nur dem EU-​Mitgliedstaat zu, welcher die Fahrerlaubnis ausgestellt habe. Es erschließe sich auch nicht, auf welcher rechtlichen Grundlage das Landesamt die körperliche Abgabe der polnischen Fahrerlaubnis verlange, obwohl sich lediglich ein Nichtgebrauch ergeben könnte.

Der Antragsteller beantragt,

  1.  die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid des Landesamtes für Bürger-​und Ordnungsangelegenheiten vom 17. September 2018 anzuordnen,

  2.  ferner, nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung das Verfahren auszusetzen und dem EuGH gemäß Art. 267 AEUV vorzulegen.

Der Antragsgegner beantragt,

   den Antrag zurückzuweisen.

Er hält an dem angefochtenen Bescheid fest.


II.

1. Der gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässige Hauptantrag, über den im Einverständnis der Beteiligten der Berichterstatter entscheidet (§ 87a Abs. 2, Abs. 3 VwGO), ist unbegründet.

Die aufgrund der gesetzlichen Anordnung in § 4 Abs. 9 StVG bestehende Vermutung für das Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung kann nur widerlegt werden, wenn im konkreten Fall das Aussetzungsinteresse aus besonderen Gründen den öffentlichen Interessen vorzuziehen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Mai 1994 – BVerwG 3 C 11.94 –, juris Rn. 9). Dies ist hier nicht der Fall. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung wird sich der angegriffene Bescheid in dem Hauptsacheverfahren insoweit mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig erweisen, so dass auch unter Berücksichtigung der jeweils betroffenen Interessen das Gericht im Rahmen seiner Ermessensentscheidung von einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung absieht.




a) Rechtsgrundlage für die Fahrerlaubnisentziehung bzw. der Aberkennung des Rechts, von der Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 2 StVG. Danach ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich im Fahreignungs-​Bewertungssystem in der Summe acht oder mehr Punkte ergeben. Nach § 5 Abs. 6 Satz 1 StVG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Maßnahme nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 2 oder 3 erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 1 oder 2 bereits ergriffen worden ist. Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVG hat die Entziehung bei einer ausländischen Fahrerlaubnis - auch wenn sie nach anderen Vorschriften erfolgt - die Wirkung einer Aberkennung des Rechts, von der Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen.

Nach diesen Maßstäben ist die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtmäßig erfolgt. Der Antragsteller war am 29. August 2016 bei einer Gesamtpunktzahl von 4 Punkten nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG schriftlich ermahnt worden. Am 5. Dezember 2016 war eine schriftliche Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG bei einem Punktestand von 7 Punkten erfolgt. Sodann entzog ihm der Antragsgegner gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG die Fahrerlaubnis, als sich für ihn im Fahreignungsregister zehn Punkte ergaben. Rechtsfehler sind dabei nicht zu erkennen (vgl. in diesem Sinne bereits den Beschluss der Kammer vom 1. Juli 2016 – VG 4 L 153.16 –, bestätigt durch Beschluss des OVG Berlin-​Brandenburg vom 10. Mai 2017 – OVG 1 S 55.16).

b) Das Recht der Europäischen Union steht der Entziehung der Fahrerlaubnis bzw. der Aberkennung des Rechts, von der Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, nicht entgegen. Die genannten Vorschriften des deutschen Fahrerlaubnisrechts verstoßen nicht gegen die Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein – Führerschein-​Richtlinie –, welche die Richtlinie 91/439/EWG mit Wirkung vom 19. Januar 2013 aufgehoben hat (Art. 17 Führerschein-​Richtlinie).

Nach Art. 11 Abs. 2 Führerschein-​Richtlinie kann vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen Territorialitätsgrundsatzes der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf den Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein erforderlichenfalls umtauschen. Nach Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 Führerschein-​Richtlinie lehnt ein Mitgliedstaat die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins ab, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, deren Führerschein im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen worden ist.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 20. November 2008 – C-​1/07 –, juris Rn. 38) ist zunächst allein der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet eine Zuwiderhandlung begangen wird, dafür zuständig, diese zu ahnden, indem er gegebenenfalls eine Maßnahme des Entzugs, eventuell verbunden mit einer Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis, verhängt. Ein Mitgliedstaat, der nicht der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes ist, darf wegen der in seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung des Inhabers eines zuvor in einem anderen Mitgliedstaat erhaltenen Führerscheins nur solche Maßnahmen nach seinen nationalen Rechtsvorschriften ergreifen, deren Tragweite auf dieses Hoheitsgebiet beschränkt ist und deren Wirkung sich auf die Ablehnung beschränkt, in diesem Gebiet die Gültigkeit dieses Führerscheins anzuerkennen (EuGH, Urteil vom 23. April 2015 – C-​260/13 –, juris Rn. 60).

Nach diesen Maßstäben durfte dem Antragsteller jedenfalls das Recht aberkannt werden, von seiner polnischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, ohne dass es für die allein gebotene summarische Prüfung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes darauf ankommt, ob und seit wann er seinen ordentlichen Wohnsitz nicht (mehr) in Deutschland hat. Zwar können die deutschen Fahrerlaubnisbehörden die polnische Fahrerlaubnis nicht selbstständig entziehen. Es ist allein Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats, zu prüfen, ob die im Unionsrecht aufgestellten Mindestvoraussetzungen, insbesondere hinsichtlich des Wohnsitzes und der Fahreignung, erfüllt sind (EuGH, Urteil vom 23. April 2015, a.a.O., Rn. 46 m.w.N.). Allerdings tritt unabhängig davon anstelle der eigentlichen Entziehungsentscheidung die gesetzliche Folge der Aberkennung des Rechts, von der ausländischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, ein. Dies steht nach der zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union mit dem Unionsrecht in Einklang.



2. Soweit sich der Antrag auch auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO von Gesetzes wegen sofort vollziehbaren Gebührenfestsetzung richtet, bleibt er ebenfalls ohne Erfolg, weil diese keinen rechtlichen Bedenken begegnet.

3. Im Hinblick auf die im Tenorpunkt 3) des angefochtenen Bescheides enthaltene Aufforderung, den Führerschein bei der Behörde abzugeben oder zu übersenden, fehlt dem Antragsteller das Rechtsschutzinteresse für den begehrten vorläufigen Rechtsschutz. Zwar erfasst die gesetzliche Regelung des § 4 Abs. 9 StVG nicht gleichzeitig die Pflicht, den Führerschein abzuliefern (OVG Berlin-​Brandenburg, Beschluss vom 30. März 2007 – OVG 1 S 31.07 –, juris). Doch gibt es keinen Anlass festzustellen, dass der Widerspruch des Antragstellers insoweit aufschiebende Wirkung besitzt, weil nichts dafür erkennbar ist, dass der Antragsgegner Vollstreckungsmaßnahmen im Hinblick auf die Abgabe des Führerscheins beabsichtigt. Dies folgt schon daraus, dass der Bescheid keine Zwangsmittelandrohung enthält. Vielmehr weist der Bescheid darauf hin, dass die Abgabe des Führerscheins, die gemäß § 47 Abs. 2 Satz 2 FeV allein dem Eintrag eines Sperrvermerkes dient, mit Rücksicht auf die daran anknüpfende Wiederzuerkennung des § 4 Abs. 10 StVG im Interesse des Antragstellers liegt.




4. Die Anregung des Antragstellers, das Verfahren nach einer Sachentscheidung auszusetzen und dem EuGH zum Zwecke der Vorabentscheidung vorzulegen, geht ins Leere, weil es nach einer Entscheidung in der Sache keine streitentscheidende Auslegungsfrage des Unionsrechts im Sinne des Artikels 267 AEUV mehr gibt. Es gäbe sie auch nicht vor einer Entscheidung in der Sache, da die vom Antragsteller angesprochene Auslegungsfrage durch das von ihm selbst angeführte Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 23. April 2015 bereits entschieden ist.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

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