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Oberlandesgericht Dresden Urteil vom 23.05.2017 - 4 U 1524/16 - Abfindungsvergleich und Sittenwidrigkeit

OLG Dresden v. 23.05.2017: Abfindungsvergleich mit Haftpflichtversicherer und Sittenwidrigkeit




Das Oberlandesgericht Dresden (Urteil vom 23.05.2017 - 4 U 1524/16) hat entschieden:

  1.  Fehleinschätzungen im Rahmen von Abfindungsvereinbarungen mit einem Haftpflichtversicherer liegen grundsätzlich im Risiko der Vertragsparteien. Die Sittenwidrigkeit eines Abfindungsvergleiches kann daher nicht aus Umständen hergeleitet werden, die dem Versicherer bei Abschluss des Vergleiches nicht bekannt waren.

  2.  Der Versicherer ist nicht verpflichtet, im Interesse des Geschädigten Ermittlungsakten beizuziehen oder Auskünfte von Kranken-, Renten- oder Unfallversicherungsträgern einzuholen, bevor er den Abschluss eines Abfindungsvergleiches anbietet.


Siehe auch
Abfindungsvergleich / Abfindungserklärung
und
Stichwörter zum Thema Unfallschadenregulierung


Gründe:


I.

Die Klägerin begehrt von den Beklagten Zahlung von Schmerzensgeld, Ersatz materiellen Schadens und Feststellung der Einstandspflicht für sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden aufgrund eines Verkehrsunfalls.

Am 22.11.2010 erfasste die Beklagte zu 2. mit ihrem Fahrzeug die Klägerin als Fußgängerin, als diese die Straße überqueren wollte. Die Beklagte zu 2. ist bei der Beklagten zu 1. haftpflichtversichert. Wegen der Einzelheiten des Unfallgeschehens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen. Vorgerichtlich hatte die Beklagte zu 1. nach zunächst ergebnislosen Bemühungen um Aufklärung des Sachverhalts der Klägerin mit Schreiben vom 29.06.2011 zur „Erledigung der Sache“ eine Einmalzahlung i.H.v. 4.000,00 EUR angeboten. Dieses Angebot nahm die Klägerin durch Unterzeichnung zwei Tage später an (Anlagen B 1 bis B 3).

In dieser Vergleichs- und Abfindungserklärung heißt es u.a.:

„Auf alle weitergehenden Ansprüche verzichte ich endgültig. Das gilt insbesondere für bereits entstandene aber nicht erkennbare, für alle vorhersehbaren, nicht vorhersehbaren und unerwarteten künftigen Ansprüche und Spätfolgen, die sich aus dem oben bezeichneten Ereignis und dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis ergeben.“

Am 05.04.2011 ging bei der Beklagten zu 1. ein Schreiben der Klägerin ein, mit dem sie mitteilte, sie habe ihre Entscheidung noch einmal überdacht und wolle nun eine Zahlung von 10.000,00 bis 15.000,00 EUR (Anlage K 5). Dies wurde beklagtenseits unter Berufung auf die aus ihrer Sicht wirksame Abfindungsvereinbarung abgelehnt.




Wegen der Einzelheiten des Ablaufs der Verhandlungen bis zum Abschluss des Abfindungsvergleiches wird ebenfalls auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.

Nach erfolglosen Nachverhandlungen hatte die Klägerin zunächst ein Mindestschmerzensgeld i.H.v. 12.500,00 EUR, auf das sie sich die Hälfte der vorgerichtlichen gezahlten 4.000,00 EUR anrechnen ließ, also 10.500,00 EUR, und nach Abzug weiterer 2.000,00 EUR 7.002,99 EUR materielle Schäden eingeklagt, ihre Klage hinsichtlich der materiellen Schäden dann aber rund eineinhalb Jahre nach Klageerhebung auf 20.562,41 EUR erhöht.

Einen vor Klageerhebung gestellten Antrag auf Prozesskostenhilfe hatte das Landgericht zunächst unter Verweis auf die unterzeichnete Vergleichs- und Abfindungserklärung zurückgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Beschwerde hatte Erfolg. Das Beschwerdegericht hat hingegen angenommen, den Beklagten werde es nicht gelingen, einen Mitverschuldensanteil der Klägerin nachzuweisen, so dass voraussichtlich von einer hundertprozentigen Haftung der Beklagten auszugehen sei. Des Weiteren sei davon auszugehen, dass der Vergleich in einem besonders krassen Missverhältnis zu den tatsächlichen Ansprüchen der Klägerin stünde (Beschluss vom 22.01.2015, 7 W 538/14, Bl. 47 ff. dA).

Das Landgericht hatte daraufhin den seinerzeit sachbearbeitenden Angestellten der Beklagten zu 1., Herrn B. M., als Zeugen vernommen und danach die Klage abgewiesen.

Zur Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie vor allem eine fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Landgericht und fehlerhafte rechtliche Ausführungen zum Begriff der „Sittenwidrigkeit“ rügt. Im Zusammenhang mit ihrer Argumentation zum krassen Missverhältnis zwischen den Ansprüchen der Klägerin einerseits und der Gegenleistung der Beklagten andererseits wiederholt sie ihre Auffassung, derzufolge mit dem Vergleich auch sämtliche denkbaren Ansprüche gegen Dritte, beispielsweise Sozialversicherungsträger, erfasst gewesen seien.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des am 23.09.2016 verkündeten Urteils des LG Chemnitz, Az. 5 O 2154/13

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen;

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 25.579,33 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, die aus dem Unfall vom 22.11.2010 auf der Einmündung zum Wohngebiet x in A… in Höhe des Hausgrundstücks 1 künftig entstehen, zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagten verteidigen das erstinstanzliche Urteil und verweisen darauf, dass aus ihrer Sicht die Beweiswürdigung des Landgerichts keine hinreichenden Angriffspunkte bietet, um in den Grenzen des § 529 ZPO erneut in die Beweisaufnahme einzutreten.





II.

Die zulässige Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrten Leistungen, weil sie mit Abschluss der streitgegenständlichen Abfindungsvereinbarung wirksam auf alle über die Abfindungsvereinbarung hinausgehenden Ansprüche aus dem streitgegenständlichen Unfall verzichtet hat. Die Vereinbarung ist nicht unwirksam, denn sie ist nicht sittenwidrig i.S.d. § 138 BGB. Andere Nichtigkeitsgründe kommen nicht in Betracht.

1. Zur Feststellung der Sittenwidrigkeit der in einem Vergleich getroffenen Regelungen – namentlich eines insoweit bedeutsamen krassen Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung – ist nicht das Verhältnis das Wertes der beiderseits übernommenen Verpflichtungen, sondern das beiderseitige Nachgeben gegeneinander abzuwägen. Maßgeblich ist, wie die Parteien die Sach- und Rechtslage bei Vergleichsabschluss eingeschätzt haben und in welchem Ausmaß sie davon abgewichen sind und zur Bereinigung des Streitfalles gegenseitig nachgegeben haben (vgl. dazu BGH, U.v.02.07.1999, V ZR 135/98 juris Rn. 8; OLG Brandenburg vom 18.07.2007 – 4 U 88/01, juris, Rn. 48 ff.; OLG Hamm, U.v.22.10.2008, 20 U 70/07, juris Rz. 29 ; OLG Düsseldorf, U.v.12.04.2011, 23 U 67/10, juris Rn. 76). Eine Nichtigkeit nach § 138 Abs. 2 BGB setzt neben einem – regelmäßig bei einer Abweichung um 100 % oder mehr anzunehmenden (vgl. dazu OLG Düsseldorf, BauR 2012, 106, Rn. 76; Palandt/Ellenberger, BGB, 75. Aufl., § 138, Rn. 67 und auch Rn. 34 ff. m.w. Nachw.) – auffälligen Missverhältnis der beiderseitigen Leistungen (hier des beiderseitigen Nachgebens) die Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche des anderen Beteiligten voraus (vgl. dazu allgemein nur Palandt/Ellenberger, aaO., § 138 Rn. 69 ff.). Aber auch dann, wenn nicht alle Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB vorliegen, kann in der Gesamtschau eine Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB in Betracht kommen, wobei allerdings aus dem Vorliegen des einen oder anderen Wuchermerkmals i.S.d. § 138 Abs. 2 BGB nicht ohne weiteres auf eine Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB geschlossen werden darf; insbesondere reicht ein auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung allein nicht aus, müssen vielmehr weitere sittenwidrige Umstände wie etwa eine – bei einem besonders groben Missverhältnis indes ggf. vermutete – verwerfliche Gesinnung oder das Ausnutzen der schwächeren Lage des anderen hinzukommen (vgl. BGH,U.v.24.01.2014, V ZR 249/12, juris Rz.. 5 und 7 ff.; ferner Palandt/Ellenberger, aaO., § 138, Rn. 34 ff., m.w.Nachw.). Bei Haftpflichtvergleichen ist eine Nichtigkeit nach § 138 BGB in aller Regel nur ausnahmsweise denkbar (vgl. dazu Geigel/Bacher, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 40, Rn. 5). Dies ergibt sich vor allem aus Folgendem: Nach der Rechtsprechung kommt es für die Bewertung eines etwaigen Missverhältnisses darauf an, wie bei ex ante-Betrachtung der Umfang des gegenseitigen Nachgebens war, d.h. es kommt darauf an, welche Forderungen in welcher Höhe die Klägerin geltend gemacht hatte bzw. mit welchen Forderungen die Beklagte zumindest auf der Grundlage der ihr vorliegenden Unterlagen rechnen musste (OLG Hamm, Urteil vom 28.06.2016, 1-9 U 38/15, juris, Rz. 36.; vgl. BGH, Urteil vom 02.07.1999, V ZR 135/98, juris Rz.. 8). Nicht zulässig ist es hingegen, ungeachtet ihrer Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit all diejenigen Forderungen der Vergleichssumme gegenüberzustellen, die sich im Nachhinein ergeben haben oder im Nachgang behauptet werden um daraus ein besonders hohes Äquivalenzmissverhältnis und daraus folgend die Vermutung für eine Sittenwidrigkeit abzuleiten. Im Prozess kann die Klägerseite bei der Ermittlung eines Missverhältnisses nicht darauf abstellen, was sie erhalten hätte, wenn sie im Prozess voll obsiegen würde. Sie muss auch berücksichtigen, dass sie nichts erhalten würde, wenn sie den Prozess verliert (OLG Hamm, U.v.22.10.2001, 20 U 70/07, juris Rz.29). Es gilt der Grundsatz, dass Fehleinschätzungen der künftigen Entwicklung im Rahmen von Abfindungsvereinbarungen über Schadensersatzansprüche grundsätzlich zu den von den Parteien jeweils übernommenen Risiken gehören (OLG Düsseldorf, U.v.12.04.2011, 23 U 67/10, juris Rz. 100 m.w.N.).




a) Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist es zunächst nicht zu beanstanden, dass der Zeuge M. dem Abfindungsvergleich eine angenommene Haftungsquote von 50 % zugrunde legte. Dem Zeugen M. lagen zum Zeitpunkt der Abfassung des Abfindungsvergleichs hierfür die Schadensanzeige der Beklagten zu 2 vor, wonach diese die Klägerin bei Dunkelheit und Regen beim Wenden auf der Straße mit ihrem vorderen linken Kotflügel erfasst habe. Die Klägerin hatte nach den Angaben der Beklagten zu 2 obendrein dunkle Kleidung an. (Kraftfahrt-Schadensanzeige vom 22.11.2010, Schadensakte der Beklagen zu 1., Teilband 7 a.E.). Ferner lag der Beklagten zu 1 die Unfallanzeige der Klägerin vom 23-.11.2010 vor (Schadensakte der Beklagten, Teilakte 2 a.E.). Nach der dortigen Schilderung wurde sie von der Beklagten erfasst, „als sie versuchte, die Straße zu überqueren”. Sie sei „zwischen Straße und Pkw eingeklemmt” gewesen. Nach ergänzender handschriftlicher Schilderung durch die Klägerin gegenüber der Unfallkasse rund 4 Monate später (Schreiben vom 19.3.2011 an die Unfallkasse, Schadensakte der Beklagten, Teilakte 2 a.W.) sei sie „auf den Fußweg gewechselt”. Weitere Unfallschilderungen lagen der Beklagten am 29.6.2011 nicht vor. Aus der beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Chemnitz, Az 540 Js 43977/10 ergibt sich, dass die Beklagte jeweils am 10.01. 2011 (BI. 45 EA), am 28.03.2011 (BI. 35 EA) und am 30.03.2011 (BI. 33 EA) vergeblich Akteneinsicht beantragt hatte, und ihr diese erst nach einem vierten Gesuch vom 18.07.2011 gewährt wurde. Bei dieser Sachlage musste der Zeuge M. bei der Bildung einer fiktiven Haftungsquote in jedem Falle § 25 Abs. 3 StVO berücksichtigen, wonach Fußgänger im Grundsatz den Vorrang des Fahrverkehrs auf Fahrbahnen zu berücksichtigen haben. Umgekehrt schuldet der Fahrzeugführer trotz seines Vorrangs dem überquerenden Fußgänger Rücksicht (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 25 StVO, Rz. 38 m.w.N.). Obendrein ist bei einem unfallbeteiligten Kraftfahrzeug stets die Betriebsgefahr im Blick zu behalten. Was die Frage betrifft, ob sich der Unfall auf der Fahrbahn ereignete oder möglicherweise auf dem Gehweg – was sich u.U. aus der Schadensanzeige der Klägerin gegenüber der Unfallkasse und der dortigen Formulierung „auf den Fußweg gewechselt” schließen lassen könnte, so sprachen doch die ursprünglichen Unfallschilderungen der Klägerin gegenüber der Unfallkasse und der Beklagten zu 2. gegenüber der Beklagten zu 1. für die Annahme eines Unfalls auf der Fahrbahn. In solchen Konstellationen reichen die Haftungsquoten in aller Regel von 50% zu Lasten des Fußgängers (BGHU.v.1802.1969, VI ZR 279/64) bis zu 100 % zu Lasten des Fußgängers bei grober Fahrlässigkeit, die eine Betriebsgefahr sogar zurücktreten lässt (BGH, VersR 66, 877; Kammergericht,U.v.06.06.2006, 12 U 138/05; Kammergericht, Urteil vom 29.09.2003, 12 U 315/01; BGH, Urteil vom 14.06.1966, VI ZR 279/64, juris Rz. 29; OLG Dresden, Urteil vom 09.05.2017, 4 U 1596/16). Angesichts dieser Rechtsprechungslage durfte der Zeuge M. – unabhängig von der Frage, ob und wie ausführlich er zuvor diese Rechtsprechung recherchiert hatte – zur Abgeltung der Unwägbarkeiten und auch zur Abgeltung der gering erscheinenden Möglichkeit, dass die Beklagte zu 2. tatsächlich bis auf den Fußgängerweg beim Wenden gelangt war, eine Quote von 50 % annehmen. Gegenteiliges ergibt sich im übrigen auch nicht aus der Beschwerdeentscheidung des 7. Senats des Oberlandesgerichts Dresden vom 22.01.2015 (7 W 538/14). Die dortige Prämisse nämlich, dass die Beklagte zu 2. die Klägerin beim Rückwärtsfahren erfasste, ist unzutreffend. Es ist vielmehr nach dem Inhalt der beigezogenen Akten des Verfahrens 2 O 181/13, Landgericht Chemnitz nebst Beiakte der Staatsanwaltschaft Chemnitz unter dem Az. 540 Js 43977/10, insbesondere dem dort erstellten unfallanalytischen Sachverständigengutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. Am. und den in den Akten enthaltenen Vernehmungen davon auszugehen, dass die Beklage zu 2. die Klägerin frontal erfasste. Damit erscheint die ursprüngliche Annahme einer hälftigen Haftung nicht als verwerflich.

In subjektiver Hinsicht spricht gegen eine sittenwidrige Gesinnung des Zeugen M. im Hinblick auf die angenommene Haftungsquote darüber hinaus, dass er diese Quote ausweislich der zur Akte gereichten Schadensakte der Beklagten bereits vor Abfassung des Vergleiches von Anfang an auch gegenüber der Unfallkasse vertreten hatte. Hinsichtlich dieser kommt aber die gewollte Ausnutzung einer Unerfahrenheit oder gar Zwangslage nicht in Betracht.

b) Was die Verletzungsfolgen der Klägerin und damit die sich möglicherweise ergebenden Schmerzensgeld- und sonstigen materiellen Schadensersatzansprüche betrifft, so gilt auch hier, dass die Frage des Missverhältnisses sich danach bestimmt, wie bei ex-ante Betrachtung das Verhältnis des gegenseitigen Nachgebens war. Damit kommt es darauf an, welche Forderungen die Klägerin selbst geltend gemacht hatte und/oder mit welchen Forderungen die Beklagte aufgrund der sonstigen ihr bekannten Umstände rechnen musste.

Vorliegend hatte die Klägerin unstreitig vor Unterzeichnung der Abfindungsvereinbarung keine konkreten Geldforderungen gestellt und auch keine Vorstellung über die ihr ihrer Auffassung nach zustehenden Beträge gegenüber der Beklagten zu 1. geäußert. Die Beklagte zu 1. in Gestalt des sachbearbeitenden Zeugen M. konnte daher nur auf die übrigen äußeren Umstände zurückgreifen, um sich ein Bild von den mutmaßlichen Forderungen der Klägerin zu machen. Hier hat die erstinstanzliche Beweisaufnahme ergeben, dass ihm die Schadensanzeige der Klägerin vom 06.12.2010 (Anlage B 6) vorlag. Danach hatte sie einen Bänderriss erlitten und musste eine Knieoperation über sich ergehen lassen. Ferner lag ihm ein Schreiben der Unfallkasse vom 16.05.2011 (Schadensakte, Teilakte 2 a.E.) vor, demzufolge es keine Erwerbsunfähigkeit über die 26. Woche gab, und in welchem der Klägerin attestiert wurde, dass keinerlei funktionelle Einschränkungen am Knie verblieben seien. Der dem Zeugen M. ebenfalls vorliegenden Abrechnung der Unfallkasse vom 09.06.2011 war zu entnehmen, dass es elf Tage stationären Aufenthaltes bedurfte, um die Knieverletzung zu kurieren und hieraus und aus der postoperativen physiotherapeutischen Betreuung Kosten i.H.v. 11.352,15 EUR resultierten (Teilakte 2). Was die zu erwartende Schmerzensgeldforderung betrifft, so hatte der Zeuge M. jedenfalls keine weiteren Anhaltspunkte im Hinblick auf die Patellafraktur, sondern konnte und durfte von einer Operation eines (oder mehrerer) Bänderrisse ausgehen.


Das Spektrum des von der Rechtsprechung für solche Fälle zugebilligten Schmerzensgeldes beträgt rund 2.000,00 EUR (z.B. LG Hildesheim, Urteil vom 14.08.1992, 2 0 198/92 aus Hacks/Wellner/Hecker, Schmerzensgeldbeträge 2016, 34. Aufl., lfd. Nr. 238, und AG Rosenheim, Urteil vom 21.06.2001, 10 C 1935/00 aus Hacks/Wellner/Hecker, aaO., lfd. Nr. 246). Höhere Schmerzensgelder werden regelmäßig nur bei dauerhafter MdE von über 10 % gewährt (z.B. Hacks/Wellner/Hecker, aaO., lfd. Nm. 252; 254; 256; 257 – letztere bei 100 % Haftung um je rund 8.500,00 und 9.500,00 EUR). Für das Schmerzensgeld wäre daher unter der Prämisse einer 50-%igen Mithaftung ein Schmerzensgeld von 2.000,00 bis 3.000,00 EUR als angemessen anzusehen gewesen.

Was die materiellen Schäden betrifft, so gilt Folgendes:

Soweit die Klägerin Haushaltsführungsschäden i.H.v. rund 5.150,00 EUR geltend macht und diese im Einzelnen berechnet, so gaben weder die dem Zeugen M. unstreitig vorliegenden noch die behauptetermaßen vorliegenden Unterlagen Anlass, einen solchen Haushaltsführungsschaden in die Überlegungen zum Vergleichsabschluss einzubeziehen. Auszugehen ist davon, dass jedenfalls während des stationären Aufenthalts ein solcher im Wesentlichen nicht angefallen ist und dass im Übrigen nach Entlassung in die ambulante physiotherapeutische Behandlung nichts dafür ersichtlich war, dass die Klägerin überhaupt nicht laufen konnte, also etwa auf einen Rollstuhl angewiesen gewesen wäre o.ä. Vielmehr konnte der Zeuge im Rahmen einer lebensnahen Abschätzung davon ausgehen, dass die Klägerin zumindest „humpeln” und damit, wenn auch mit verlangsamtem Tempo, jedenfalls die wesentlichen Haushaltsarbeiten wie Kochen, Wäsche in der Waschmaschine waschen und aufhängen und Staub wischen selbst bewerkstelligen konnte. Für eine Pflicht zur Erbringung von Haushaltsleistungen gegenüber Dritten war zum damaligen Zeitpunkt nichts ersichtlich. Was unausführbare Tätigkeiten, wie beispielsweise das Fensterputzen – jedenfalls in der Anfangszeit – betrifft, so gilt, dass dem Geschädigten regelmäßig eine gewisse Umorganisation des Haushaltes zuzumuten ist (Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschäden, 10. Aufl., Rz. 197 m.w.N.). Von einem nennenswerten Schadensbetrag musste der Zeuge M. also insoweit nicht ausgehen.

Was Verdienstausfall, insbesondere durch den möglicherweise bekannten Verlust eines Ausbildungsjahres betrifft, so war jedenfalls bekannt, dass der Unfall als Wegeunfall eingestuft worden war, so dass die Beklagte zu 1. grundsätzlich von der Zahlung von Verletztengeld ausgehen durfte. Sofern dem Zeugen M. das Schreiben der Bundesagentur für Arbeit vom 24.06.2011 bei Abfassung der Abfindungsvereinbarung vom gleichen Tage bereits bekannt gewesen sein sollte – was dieser in seiner Zeugenvernehmung vor dem Landgericht in Abrede stellte – ergibt sich hieraus nichts anderes:

Wie die Klägerin selbst vortragen lässt, war davon auszugehen, dass sie Anspruch auf Verletztengeld hat, weil es sich um einen Wegeunfall handelte, und dass sie dieses auch erhält.

Bei – unterstellter – Kenntnis des Schreibens vom 24.06.2011 hätte der Zeuge M. obendrein Anlass gehabt, im Rahmen seiner vorzunehmenden Prognose Verdienstausfall für ein Jahr anzunehmen, und zwar in Form der Differenz zwischen gezahltem BaföG und dem als Erzieherin anfangs zu erzielenden Gehalt. Diese Differenz beziffert die Klägerin selbst mit 3.853,75 EUR. Unter Zugrundelegung eines nicht zu beanstandenden vermuteten 50-%igen Haftungsanteils ergibt dies einen einzusetzenden Betrag von rund 1.930,00 EUR. Auch unter Hinzuziehung dieses Betrages bewegt sich der beklagtenseits vorgeschlagene Vergleichsbereich nicht in einem Missverhältnis zu den nach redlicher Prognose zu erwartenden Schäden. Für das abgebrochene Ausbildungsjahr im Zeitraum November 2010 bis Ende August 2011 macht die Klägerin selbst keinen Erwerbsschaden geltend, weil das entgangene BaföG durch anderweitige Leistungen zum Lebensunterhalt kompensiert wurde (S. 7 und 8 der Klageschrift).

Was den dann noch deutlich verspäteten Berufseintritt betrifft, so stellt sich die Frage, welche prognostische Einschätzung der Zeuge M. redlicherweise treffen musste, um sie zum Ausgangspunkt seines Vergleichsvorschlages zu machen. Hier kommt der Rechtsgedanke des § 252 BGB zum Tragen, dass als entgangener Gewinn derjenige Gewinn gilt, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Eine Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin nach Wiederholung des Ausbildungsjahres keinen Ausbildungsplatz bekommen würde, war aus ex-ante Sicht nicht gegeben. Im Gegenteil bescheinigte das Schreiben vom 16.05.2011 der Klägerin, dass keinerlei funktionelle Einschränkungen am Knie verblieben seien. Weitere Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Klägerin – wie behauptet – derartige Schwierigkeiten bekommen würde, einen Arbeitsplatz zu erhalten, waren aus damaliger Sicht nicht vorhanden. Im übrigen sprechen die Äußerungen der Klägerin eher dafür, dass ein solch verspäteter Berufseintritt eher nicht auf den Verletzungsfolgen beruhte, denn nach ihren Angaben war vor allem ein Hindernis, dass sie kein Geld hatte, einen Führerschein zu machen.

c) Soweit die Klägerin meint, ein Missverhältnis ergäbe sich auch daraus, dass sich die Abfindungserklärung auch auf Ansprüche gegen Dritte, beispielsweise Sozialversicherungsträger, erstreckt, so folgt der Senat dieser Argumentation nicht. Die Reichweite einer Abfindungsklausel ist eine Frage der Auslegung, die sich nach den allgemeinen Vorschriften in §§ 133, 157 BGB richtet (Geigel, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 40 Rz. 18). Insoweit heißt es zwar im Wortlaut der Abfindungserklärung, sollten hiermit alle Ansprüche abgefunden werden, welche der Klägerin gegen die „Concordia Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit, deren Versicherte und/oder sonstige Dritte zustehen”. Diesem Wortlaut lässt sich indessen nicht entnehmen, dass die Beklagte die Klägerin auch verpflichten wollte, sie von etwaigen Regressansprüchen Dritter freizuhalten bzw. dass die Beklagte einen derart weitreichenden „Vertrag zugunsten Dritter” schließen wollte. Das Gegenteil wird auch dadurch belegt, dass die Beklagte sowohl vor als auch nach Abschluss der streitgegenständlichen Vereinbarung auf der Basis einer angenommenen 50-%igen Haftung beanstandungslos die von der Unfallkasse zurückgeforderten Leistungen beglich.

2. Im Übrigen bestand weder in erster noch in zweiter Instanz Anlass, den klägerseits angebotenen Zeugen Sprung zu vernehmen. Zwar war erstinstanzlich der Beweisantrag nicht verspätet, denn wie die Klägerseite zutreffend ausführt, stellte er sich als Reaktion auf das Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme dar. Dennoch war die Vernehmung entbehrlich, denn die unter Beweis gestellten Tatsachen sind teils unstreitig bzw. können teils als wahr unterstellt werden, ohne dass dies für die rechtliche Würdigung erheblich wäre. Dies gilt zunächst für die zu bezeugende Tatsache, es hätten am 29.06.2011 keine hinreichenden Informationen zum Unfallhergang vorgelegen. Dies ist unstreitig. Insoweit diente der Vergleich gerade der Abgeltung von Unwägbarkeiten. Soweit der Zeuge bekunden soll, dass weitere Informationen „leicht hätten angefordert werden können”, so gilt, dass hierzu bei der Beklagten keine Pflicht bestand (hierzu sogleich unten). Im Übrigen handelt es sich bei der Behauptung, aus sämtlichen vorliegenden oder anzufordernden Informationen hätte man genügend Kenntnisse gehabt oder erlangen können, um eine verwerfliche Gesinnung zu hegen, um eine eigene Schlussfolgerung der Klägerin. Zu seiner inneren Haltung war der Zeuge M. im Übrigen gehört worden.



3. Schlussendlich sieht der Senat keine Pflicht auf Beklagtenseite, sich initiativ weitere Erkenntnisquellen zu erschließen, Akten einzusehen, bis zur Vorlage der Schweigepflichtsentbindung durch die Klägerin zuzuwarten oder ihrerseits Gutachten einzuholen. Gemäß § 100 VVG ist der Versicherer verpflichtet, einerseits den Versicherungsnehmer von sämtlichen (berechtigten) Ansprüchen Dritter freizustellen, andererseits aber auch unbegründete Ansprüche abzuwehren. Ihn trifft ein Rücksichtnahmegebot gegenüber dem Dritten, dessen Reichweite sich nach den Umständen des Einzelfalles richtet und er schuldet seinem Versicherungsnehmer einen Abwehrschutz (Prölss/Martin VVG, 29 Aufl. § 100, Rzrn. 2, 3 m.w.N.) Bei Auswahl der Alternativen „Abwehrschutz“ und „Entschädigung“ hat er nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (Kramer, Beurteilungsermessen in r+s 2008, 1, 2). Darüber hinaus hat er zu berücksichtigen, dass er im Falle berechtigter Ansprüche auch eine Pflicht zur zügigen Regulierung hat. Im Spannungsfeld dieser Interessen hat die Beklagte pflichtgemäß gehandelt, wenn sie sich einerseits über einen Zeitraum von immerhin rund einem halben Jahr um Aufklärung bemühte, andererseits dem erkennbaren Interesse der Klägerin an der zügigen Regulierung einerseits entgegenkam. Sämtliche damit einhergehenden Unwägbarkeiten – die unter Umständen auch zu Lasten der Beklagten hätten ausgehen können – sollten mit dem Vergleich gerade abgegolten werden.

4. Vor dem Hintergrund der obigen Auslegung des Vergleichstextes kommt eine Nichtigkeit nach §§ 305 ff. BGB nicht in Betracht.

5. Der Senat sieht in der Vorgehensweise der Beklagten nach Erklärung des Widerrufs durch die Klägerin auch keinen zur Nichtigkeit führenden Verstoß gegen Treu und Glauben nach § 242 BGB. Die Frist für die Klägerin, sich den Abschluss der Vereinbarung zu überlegen und dabei auch noch fremden Rat zur Hilfe zu nehmen, war ausreichend bemessen. Anhaltspunkte für eine derart beschränkte Geschäftsfähigkeit der Klägerin, dass sie ihre eigenen Interessen in keiner Weise hinreichend wahrnehmen konnte, waren nicht ersichtlich. Die Klägerin hat vielmehr in ihrem an die Beklagte gerichteten Schreiben deutlich gemacht, dass ihr nunmehr am Fortgang des Verfahrens gelegen sei, andererseits ließ das Schreiben keine so große Dringlichkeit erkennen, dass die Beklagte Anlass gehabt hätte, an eine finanzielle Notlage der Klägerin zu glauben.

Eine von der Klägerin zu beweisende Sittenwidrigkeit oder auf sonstigen Gründen beruhende Nichtigkeit der Abfindungsvereinbarung kann damit nicht festgestellt werden.


III.

Die Kostenentscheidung hat ihre Grundlage in § 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Den Streitwert hat der Senat nach § 3 ZPO festgesetzt. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

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