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Kammergericht Berlin Beschluss vom 11.02.2019 - 3 Ws (B) 9/19 - 162 Ss 151/18 - Gerichtliche Aufklärung beim Ausbleiben in der Hauptverhandlung

KG Berlin v. 11.02.2019: Gerichtliche Aufklärung über die Entschuldigung des Betroffenen zum Ausbleiben in der Hauptverhandlung


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 11.02.2019 - 3 Ws (B) 9/19 - 162 Ss 151/18) hat entschieden:

   Nach § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG ist nicht maßgeblich, ob ein Betroffener sich genügend entschuldigt hat, sondern ob er objektiv entschuldigt ist (vgl. BGHSt 17, 391, 396, 397; KG in ständ. Rspr., vgl. NZV 2002 421 sowie Beschlüsse vom 25. Oktober 1999 - (4) 1 Ss 243/99 (123/99) - in juris und vom 7. Mai 1997 - (5) 1 Ss 100/97 (29/97) - in juris). Ein Betroffener ist nicht zur Glaubhaftmachung oder gar zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet. Liegen Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung vor, hat sich das Gericht um Aufklärung zu bemühen. Speziell in Fällen der Erkrankung ist das Ausbleiben nicht erst dann entschuldigt, wenn der Betroffene verhandlungsunfähig ist. Es genügt, dass ihm infolge der Erkrankung das Erscheinen vor Gericht nicht zuzumuten ist (KG NZV 2002, 421, 422 und Beschluss vom 23. Mai 2003 - 3 Ws (B) 212/03 -).


Siehe auch
Säumnis des Betroffenen bzw. Angeklagten in der Hauptverhandlung wegen Krankheit
und
Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen


Gründe:


I. Nachdem der Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 19. September 2017 form- und fristgerecht Einspruch eingelegte hatte, lud das Amtsgericht den Betroffenen und seine Verteidigerin zu dem auf den 21. September 2018, 12:15 Uhr, anberaumten Hauptverhandlungstermin. Mit per Fax übersandten Schreiben vom 20. September 2819 (bei Gericht um 12:14 Uhr eingegangen) und 21. September 2018 (bei Gericht um 11:02 Uhr eingegangen) beantragte die Verteidigerin unter Hinweis auf eine psychische Erkrankung des Betroffenen die Verlegung des Hautverhandlungstermins. Den Schreiben war jeweils eine - hinsichtlich des ausstellenden Arztes und des Befundes unleserliche - Kopie einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beigefügt. Zum Termin erschienen weder der Betroffene noch seine Verteidigerin. Daraufhin verwarf das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen durch Urteil vom 21. September 2019, ohne zuvor die beiden Verlegungsanträge beschieden zu haben. In den Urteilsgründen heißt zum Fernbleiben des Betroffenen:

   „Art, Dauer und Schwere der Erkrankung sind nicht ersichtlich. Das eingereichte Attest ist mit Ausnahme der Personalien nicht leserlich.“




Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde vom 5. Oktober 2018. Er trägt vor, durch das Urteil sei er in seinem grundgesetzlich geschützten Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Hinsichtlich der Einzelheiten seines Vortrags wird auf den Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 30. Oktober 2018 Bezug genommen.


II.

1. Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen einer gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), die den Formerfordernissen von §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt, aufzuheben (§ 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Dem Rügevortrag ist ferner zu entnehmen, dass der Betroffene durch den Gehörsverstoß mit entscheidungserheblichem Sachvortrag nicht gehört worden ist, insbesondere in einer Hauptverhandlung die Begehung der Ordnungswidrigkeit bestritten hätte.


2. Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die Einspruchsverwerfung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht den Begriff der genügenden Entschuldigung im Sinne von § 74 Abs. 2 OWiG verkannt und demgemäß das Fernbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung zu Unrecht als nicht genügend entschuldigt angesehen hat, wodurch der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt worden ist. Dazu hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 9. Januar 2019 unter anderem ausgeführt:

   „Nach § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG ist nicht maßgeblich, ob ein Betroffener sich genügend entschuldigt hat, sondern ob er objektiv entschuldigt ist (vgl. BGHSt 17, 391, 396, 397; KG in ständ. Rspr., vgl. NZV 2002 421 sowie Beschlüsse vom 25. Oktober 1999 - (4) 1 Ss 243/99 (123/99) - in juris und vom 7. Mai 1997 - (5) 1 Ss 100/97 (29/97) - in juris). Es kommt daher nicht darauf an, was der Betroffene selbst zur Entschuldigung vorgetragen hat, sondern darauf, ob sich aus den Umständen, die dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt und im Wege des Freibeweises feststellbar waren, eine ausreichende Entschuldigung ergibt (KG NZV 2002, 421 und Beschlüsse vom 5. Februar 2003 - 3 Ws (B) 516/02 - und vom 31. Januar 2003 - 3 Ws (B) 555/02 -). Ein Betroffener ist nicht zur Glaubhaftmachung oder gar zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet. Liegen Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung vor, hat sich das Gericht um Aufklärung zu bemühen. Nur wenn sich das Amtsgericht die Überzeugung verschafft hat, dass genügende Entschuldigungsgründe nicht gegeben sind, darf der Einspruch verworfen werden, nicht aber, wenn lediglich der entsprechende Verdacht besteht (vgl. KG a.a.O. m.w.N.). Bestehen weiterhin Zweifel und können diese auch im Freibeweisverfahren nicht geklärt werden, darf ein Verwerfungsurteil nicht ergehen (KG jew. a.a.O. sowie Beschluss vom 3. August 2005 - 3 Ws (B) 287/05 -). Speziell in Fällen der Erkrankung ist das Ausbleiben nicht erst dann entschuldigt, wenn der Betroffene verhandlungsunfähig ist. Es genügt, dass ihm infolge der Erkrankung das Erscheinen vor Gericht nicht zuzumuten ist (KG NZV 2002, 421, 422 und Beschluss vom 23. Mai 2003 - 3 Ws (B) 212/03 -).

Die Urteilsausführungen, die sich auf die Feststellung beschränken, dass das per Fax von der Verteidigerin mit der Angabe, der Betroffene sei arbeits- und verhandlungsunfähig, übermittelte Attest nicht lesbar ist, zeigen, dass das Amtsgericht den Umfang seiner Aufklärungspflicht verkannt hat und lassen besorgen, dass es rechtsfehlerhaft zu hohe Anforderungen an den Begriff der genügenden Entschuldigung stellt. Das Gericht traf daher eine Nachforschungspflicht, die zwar mangels Erkennbarkeit des Ausstellers nicht direkt mit diesem durch eine telefonische Rücksprache möglich war. Es reicht für die Verneinung einer genügenden Entschuldigung aber nicht aus, darauf hinzuweisen, dass das Attest unleserlich ist (vgl. KG Beschluss vom 2. März 2009 - 3 Ws (B) 120/09 -). Das Gericht hat sich dann von Amts wegen um Aufklärung zu bemühen, die hier ohne weiteres durch einen Anruf bei der Verteidigerin, der sich auch die Unleserlichkeit des übermittelten Attests nicht aufdrängen musste, möglich gewesen wäre. Über diese wäre die Telefonnummer des ausstellenden Arztes in Erfahrung zu bringen gewesen. Wenn das Gericht darüber hinaus meint, einem Betroffenen sei trotz der Arbeitsunfähigkeit das Erscheinen in der Hauptverhandlung zumutbar, muss es im Urteil darlegen, warum es von der Unrichtigkeit des Attests überzeugt ist oder warum es die Krankheit in ihren Auswirkungen für so unbedeutend hält, dass sie einer Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht entgegensteht (vgl. KG Beschluss vom 3. August 2015 - 3 Ws (B) 376/15 -).“



Diese Ausführungen macht sich der Senat zu Eigen.

Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht. Die von dem Betroffenen vorgebrachten Tatsachen waren nicht offensichtlich ungeeignet, sein Ausbleiben in der Hauptverhandlung genügend zu entschuldigen (vgl. Senat, Beschluss vom 4. Juni 2015 - 3 Ws (B) 264/15 - m.w.N.). Der Betroffene hat einen Sachverhalt vorgetragen, der - unterstellt, er träfe zu - eine genügende Entschuldigung im Sinne von § 74 Abs. 2 OWiG darstellen könnte.

4. Die Sache wird daher zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht zurückverwiesen.

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