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Kammergericht Berlin Beschluss vom 14.09.2017 - 3 Ws (B) 262/17 - 122 Ss 144/17 - Nach der Hauptverhandlung zur Akte gelangtes Lichtbilds

KG Berlin v. 14.09.2017: Verwertung eines nach der Hauptverhandlung zur Akte gelangten Lichtbilds


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 14.09.2017 - 3 Ws (B) 262/17 - 122 Ss 144/17) hat entschieden:

  1.  Ein erst nach der Hauptverhandlung zur Akte gelangtes Beweismittel (hier: Lichtbild hinsichtlich eines innerorts begangenen Rotlichtverstoßes) darf nicht bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden. Grundlage der Überzeugungsbildung des Richters und der Urteilsfindung darf nur das sein, was innerhalb der Hauptverhandlung, d.h. vom Aufruf der Sache bis zum letzten Wort des Angeklagten mündlich so erörtert worden ist, dass alle Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.

  2.  Gründet das Gericht seine Überzeugung auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern konnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs.


Siehe auch
Lichtbildbeweis - Radarfoto
und
Rechtliches Gehör im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren


Gründe:


Das Amtsgericht Tiergarten hat die Betroffene wegen eines innerorts begangenen Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot gegen sie angeordnet. Nach den Feststellungen missachtete die Betroffene am Großen Stern das rote Ampellicht und fuhr in den Kreuzungsbereich ein, als dieses bereits 2,7 Sekunden leuchtete. Der Bußgeldrichter war von diesem Tatgeschehen überzeugt, weil er die in der Hauptverhandlung anwesende Betroffene als die durch die Verkehrsüberwachungskamera fotografierte Fahrerin wiederzuerkennen glaubte. Die Betroffene wendet sich gegen das Urteil mit der Rechtsbeschwerde. Das Rechtsmittel hat mit der Inbegriffsrüge Erfolg.

1. Die Rüge, das Amtsgericht habe sein Erkenntnis auf ein Beweismittel gestützt, das nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war, ist zulässig erhoben. Zwar bezeichnet die Rechtsmittelschrift diese Beanstandung unzutreffend als Sachrüge. Eine falsche Begriffswahl ist aber unschädlich, wenn der Inhalt der Begründungsschrift deutlich erkennen lässt, welche Beanstandung erhoben werden soll (vgl. BGH NStZ 2017, 52 mwN, Senat VRS 130, 251). Dies ist hier der Fall.




2. Die Inbegriffsrüge ist auch begründet. Die Generalstaatsanwaltschaft hat insoweit ausgeführt:

   „Das Amtsgericht hat seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft der Betroffenen ausdrücklich sowohl auf einen Vergleich der Betroffenen mit dem Lichtbild Bl. 4 d. A. als auch mit dem Lichtbild Bl. 110 d. A. gestützt (UA S. 3). Aus der Übersendungsverfügung des Polizeipräsidenten in Berlin vom 26. Juni 2017 und dem Eingangsstempel des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juni 2017 (Bl. 100 d. A.) ergibt sich jedoch, dass das Lichtbild Bl. 110 d. A. erst nach der Hauptverhandlung zu den Akten gelangt ist und damit in die Hauptverhandlung nicht eingeführt worden sein kann.

Grundlage der Überzeugungsbildung des Richters und der Urteilsfindung darf nur das sein, was innerhalb der Hauptverhandlung, d.h. vom Aufruf der Sache bis zum letzten Wort des Angeklagten mündlich so erörtert worden ist, dass alle Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten (vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.; BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 47; Ott in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl., § 261 Rdnr. 6). Gründet das Gericht seine Überzeugung auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern konnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.).

Eine Verletzung des § 261 StPO kann auch nicht bereits an der Erwägung scheitern, das Urteil könne nicht auf einem Vorgang beruhen, der sich erst nach Verkündung des Urteils ereignet hat, weil dieser Vorgang bei der vorangegangen Überzeugungsbildung und Urteilsfindung keine Rolle gespielt haben könne.


Dem steht entgegen, dass das Revisionsgericht das angefochtene Urteil nur „in der untrennbaren Einheit“ nachprüfen kann, die der Urteilstenor und die schriftlichen Urteilsgründe miteinander bilden (vgl. bereits RGSt 71, 326, 327; vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.). Andernfalls bestünde die Gefahr, dass eine nachträglich erkannte Lücke in der Beweiswürdigung durch Erkenntnisse, die nach Abschluss der Hauptverhandlung gewonnen werden, noch geschlossen werden könnte. Die schriftlichen Urteilsgründe sollen indes die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen des Urteils wiedergeben, wie sie nach der Hauptverhandlung in der Beratung gewonnen worden sind, und dadurch dem Revisionsgericht die Nachprüfung der getroffenen Entscheidungen auf ihre Richtigkeit ermöglichen. Daher darf auch das schriftliche Urteil nur auf Erkenntnisse gestützt werden, die im Verfahren nach § 261 StPO gewonnen worden sind und zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (vgl. BGH a.a.O.). Es dürfen mithin weder Erkenntnisse, die während (vgl. BGH NStZ 2001, 595, 596; 9) noch solche, die erst nach der Urteilsverkündung erlangt wurden, zur schriftlichen Begründung der gewonnenen Überzeugung herangezogen werden.

Es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht; denn das Amtsgericht hat seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft der Betroffenen ausdrücklich auf beide Lichtbilder gestützt, die auch unterschiedliche Perspektiven des Gesichts der Betroffenen aufweisen.

Die Bezugnahme auch auf dieses Lichtbild in den schriftlichen Urteilsgründen könnte zwar dann unschädlich sein, wenn zweifelsfrei feststünde, dass das - rechtlich fehlerfrei - gewonnene Ergebnis lediglich durch Umstände bestätigt wurde, die nach Verkündung des Urteils entstanden sind (vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.). So verhält es sich hier aber nicht. Der Tatrichter ist nicht von einer nur späteren Bestätigung seiner - unabhängig von dem zweiten Lichtbild - gewonnenen Überzeugung ausgegangen, sondern hat bereits verschwiegen, dass es sich um ein erst nachträglich zu den Akten gelangtes Lichtbild handelt.

Im Übrigen beanstandet die Rechtsbeschwerde mit der Sachrüge zu Recht, dass das Amtsgericht den Ausschluss der älteren Schwester der Betroffenen als Fahrerin durch einen Vergleich zwischen dem in der Hauptverhandlung überreichten Lichtbild der Schwester der Betroffenen und der Betroffenen selbst vorgenommen hat (UA S. 4) und nicht durch einen Vergleich des Lichtbildes der Schwester mit dem Lichtbild der Fahrerin; denn der Vergleich der beiden Schwestern wäre nur dann von Bedeutung, wenn bereits feststünde, dass die Betroffene die Fahrerin war. Dies sollte jedoch erst bewiesen werden.



Ferner begegnet Bedenken, dass der Tatrichter Zweifel an der Einlassung der Betroffenen, ihre ältere Schwester könne gefahren sein, auch darauf gestützt hat, dass diese im Vorverfahren nicht benannt wurde (UA S. 3). Denn ein belastendes Indiz darf nicht aus dem Zeitpunkt des Antritts eines Entlastungsbeweises hergeleitet werden. Selbst wenn der Zeitpunkt eines Vorbringens ausnahmsweise als solcher einer Beweiswürdigung zugänglich sein sollte, ist eine darauf abstellende Beweiswürdigung nur dann lückenlos und tragfähig, wenn naheliegende Erklärungsmöglichkeiten für ein verspätetes Vorbringen erörtert und ausgeräumt werden (vgl. BGH NStZ 2002, 161).“

Dem folgt der Senat.

3. Da das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht, war es insgesamt aufzuheben, und die Sache war an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen.

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