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Oberlandesgericht Hamm Beschluss vom 10.03.2020 - 4 RBs 87/20 - Nachträgliche Geschwindigkeitsberechnung mit ProViDa

OLG Hamm v. 10.03.2020: Zur nachträglichen Geschwindigkeitsberechnung mit ProViDa




Das Oberlandesgericht Hamm (Beschluss vom 10.03.2020 - 4 RBs 87/20) hat entschieden:

Es bestehen keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, die Geschwindigkeitsberechnung mittels ProViDa dergestalt vorzunehmen, dass aus dem gefertigten Video nachträglich eine Auswertungsstrecke festgelegt wird und für diese Strecke dann mittels Bildzähler eine Geschwindigkeitsberechnung anhand des Videos stattfindet.

Siehe auch
Das Video-Messsystem ProViDa - Police-Pilot - Modular
und
Stichwörter zum Thema Geschwindigkeit

Gründe:


I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 250,- Euro unter Einräumung von Ratenzahlung verurteilt und gegen ihn ein einmonatiges Fahrverbot unter Gewährung der sog. „Viermonatsfrist“ angeordnet. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 07.08.2019 um 8.40 Uhr als Führer eines PKWs in B die B64 außerhalb geschlossener Ortschaften mit einer Geschwindigkeit von 142 km/h und überschritt damit die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit um 42 km/h. Die Messung erfolgte durch einen Polizeibeamten mittels Nachfahrens mit einem Motorrad unter Verwendung der Anlage ProViDa 2000 Modular und unter manueller Berechnung der Geschwindigkeit anhand des aufgenommenen Messfilms.

Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er eine Verletzung materiellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Rechtsbeschwerde als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.





II.

Die zulässige Rechtsbeschwerde hat auf die Sachrüge hin Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht (§§ 79 Abs. 3 und 6 OWiG, 349 Abs. 4 StPO).

1. Das - im Übrigen ausgesprochen sorgfältig abgefasste - angefochtene Urteil weist einen durchgreifenden Rechtsfehler zu Lasten des Betroffenen auf. Die Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem Tatrichter übertragen (§ 261 StPO). Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (vgl. nur: BGH, Beschluss vom 25. 02. 2015 - 4 StR 39/15 -, Rn. 2, juris). Vorliegend ist die Beweiswürdigung in einem Punkt lückenhaft bzw. widersprüchlich.

a) Zur Aufhebung führt für sich genommen noch nicht, dass das Amtsgericht bei der vorliegenden Mess- und Auswertemethode fälschlich von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen ist, denn das Amtsgericht hat die Geschwindigkeitsberechnung im einzelnen gut nachvollziehbar in den Urteilsgründen dargelegt. Es wird insoweit auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft Bezug genommen. Es bestehen auch keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, - wie hier geschehen - die Geschwindigkeitsberechnung mittels ProViDa dergestalt vorzunehmen, dass aus dem gefertigten Video nachträglich eine Auswertestrecke festgelegt wird und für diese Strecke dann mittels Bildzähler eine Geschwindigkeitsberechnung anhand des Videos stattfindet (AG Lüdinghausen, Urt. v. 20.04.2015 - 19 OWi - 89 Js 1431/14 - 139/14 - juris; Krumm in: NK-GesVerkR, 2. Aufl., Anh. 3 zu § 3 StVO Rdn. 138).


b) Indes begegnet die Beweiswürdigung des Amtsgerichts zu dem Umstand, dass sich der Abstand zwischen dem verfolgenden Polizeimotorrad und dem Fahrzeug des Betroffenen vergrößerte, durchgreifenden rechtlichen Bedenken in dem o.g. Sinne. Das Amtsgericht bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Lichtbilder Bl. 11 d.A., welche die Einzelbilder vom Anfang und vom Ende der Messung aus dem aufgenommenen Videofilm wiedergeben und aus denen sich ergeben soll, dass die Auswertung der Spurhöhe des Fahrzeugs des Betroffenen am Beginn der Messung, also auf dem ersten Bild, 39 Pixel, am Ende, also auf dem zweiten Bild, nur 36 Pixel betrage (UA S. 4). Aufgrund der zulässigen Inbezugnahme der Bilder gem. §§ 71 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 S. 3 StPO durfte und musste sich der Senat Kenntnis von den Bildern verschaffen und sie in seine rechtliche Prüfung einbeziehen. Die Inaugenscheinnahme der Bilder ergab Folgendes: Es findet sich zwar auf diesen eine Einblendung in einem weißen Feld mit dem Inhalt „039 Pixel“ bzw. „036 Pixel“. Abgesehen davon, dass diese Pixelzahlen anhand der Bilder nicht nachvollzogen werden können, ist - gravierender noch - der Umstand, dass auf diesen Bildern (möglicherweise infolge einer Verschlechterung der Bildqualität gegenüber dem Videofilm durch Ausdruck) ein verfolgtes Fahrzeug auch nicht ansatzweise zu erkennen ist. Auf dem ersten Bild (also von Beginn der Auswertung) lässt sich ein V-förmiges Stück Himmel zwischen dichter Bewaldung links und rechts davon sicher erkennen. Noch schwach ist in der unteren Bildmitte eine Fahrbahn erkennbar. Erahnen lässt sich noch - offenbar sehr weit entfernt - ein Fahrzeug, welches aber angesichts seiner Position auf der Straße und Scheinwerfern dem entgegenkommenden Verkehr zuzurechnen sein dürfte. Auf dem zweiten Bild sieht man, neben dem etwa V-förmigen Stück Himmel und der Bewaldung, links unten ebenfalls ein Fahrzeug und in etwas Abstand von diesem drei oder vier weitere Fahrzeuge. Auch bei diesen deuten Position und Scheinwerfer aber auf entgegenkommenden Verkehr hin.

Damit ist nicht nur die Beweiswürdigung bzgl. eines sich vergrößernden Abstands zwischen dem Messfahrzeug und dem gemessenen Fahrzeug für das Rechtsbeschwerdegericht nicht nachvollziehbar, sondern die Beweiswürdigung wird insgesamt widersprüchlich zu der Beweiswürdigung im Übrigen, wonach z.B. aus dem Messfilm erkennbar sein soll, das das Polizeimotorrad nicht auf das Fahrzeug des Betroffenen aufgeschlossen hat (was voraussetzt, dass man das Fahrzeug des Betroffenen überhaupt sieht).



Der Senat kann damit nicht hinreichend sicher ausschließen, dass das Amtsgericht bei Berücksichtigung der genannten Umstände zu einer dem Betroffenen günstigeren Bewertung gelangt wäre.

Für eine Zurückverweisung an eine andere für Bußgeldsachen zuständige Abteilung des Amtsgerichts Paderborn bestand kein Anlass.

2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass ggf. auch zu prüfen bzw. anhand der Vorgaben der Bedienungsanleitung abzuklären sein wird, ob ein höherer Toleranzwert in Ansatz zu bringen ist, als der im angefochtenen Urteil im Rahmen der Berechnung vorgenommene Toleranzabzug von 4% hinsichtlich der Wegstrecke und der Toleranzaufschlag von 0,1% vermehrt um 0,02 Sekunde hinsichtlich der Messzeit (vgl. dazu Golder in: Ludovisy/Eggert/Burhoff (Hrsg.), Praxis des Straßenverkehrsrechts, 6. Aufl., Rdn. 83 f., der es für nicht nachvollziehbar hält, dass unterschiedliche Toleranzgrenzen bei geräteseitiger und manueller Geschwindigkeitsberechnung gelten sollen, obwohl die Messdaten auf gleichem Wege erfasst und aufgezeichnet werden; ferner auch AG Lüdinghausen a.a.O., wo ein Gesamttoleranzabzug von im Ergebnis 5 km/h bei einer Geschwindigkeit unterhalb von 100km/h vorgenommen worden ist, das also offenbar von einem Toleranzwert von 5%, mindestens aber 5 km/h ausgeht).

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