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Verwaltungsgerichtshof München Beschluss vom 20.04.2021 - 11 CS 21.630 - Erforderlichkeit therapeutischer Maßnahmen für die Wiedererlangung der Fahreignung

VGH München v. 20.04.2021: Erforderlichkeit therapeutischer Maßnahmen für die Wiedererlangung der Fahreignung




Der Verwaltungsgerichtshof München (Beschluss vom 20.04.2021 - 11 CS 21.630) hat entschieden:

   Steht aufgrund der Ermittlungen im Strafverfahren und eigener Einlassung des Betroffenen Kokainkonsum über einen längeren Zeitraum fest, kann nach vorausgegangenem Entzug der Fahrerlaubnis die für die Wiedererteilung nötige Fahreignung nur dadurch erlangt werden, dass die erforderliche Stabilität der Drogen- und Alkoholabstinenz durch eine suchttherapeutische Maßnahme, eine Psychotherapie oder einen fachlichen Beratungsprozess unterstützt wird.

Siehe auch
Drogenabstinenz und Wiedererlangung der Fahrerlaubnis
und
Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein


Gründe:


I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die Anordnung des Sofortvollzugs hinsichtlich der Entziehung seiner am 18. Februar 2011 erteilten Fahrerlaubnis der Klassen AM, A1 und A (jeweils Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04), B und L und der Verpflichtung zur Abgabe seines Führerscheins.

Die Staatsanwaltschaft Landshut teilte der Führerscheinstelle der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 30. Oktober 2019 mit, dass sie gegen den Antragsteller wegen Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Anklage erhoben habe. Ergänzend teilte die Kriminalpolizeiinspektion Passau der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 25. November 2019 unter Beifügung eines Gutachtens des Landeskriminalamts vom 21. November 2019 mit, eine Haarprobe vom 30. August 2019 habe einen mittelstarken bis stark ausgeprägten Kokainkonsum des Antragstellers ergeben. Mit Urteil vom 8. Juni 2020 sprach das Amtsgericht Landshut den Antragsteller des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Mittäterschaft in zwei tatmehrheitlichen Fällen (jeweils 1 kg Marihuana, Tatzeitraum Juni bis Juli 2018) schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. In der mündlichen Verhandlung hatte er dem Sitzungsprotokoll zufolge angegeben, als Gegenleistung habe er kein Geld, sondern Kokain zum Eigenkonsum erhalten. Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft (13.9.2019) habe er kein Kokain mehr konsumiert.




Mit Schreiben vom 11. August 2020 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller, der zuvor durch seinen Bevollmächtigten Abstinenz seit dem letzten festgestellten Betäubungsmittelkonsum geltend gemacht hatte, zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens auf. Das vom Antragsteller vorgelegte Gutachten der Begutachtungsstelle für Fahreignung Landshut (TÜV Süd Life Service GmbH) vom 27. Oktober 2020 kommt zu dem Ergebnis, der Antragsteller könne trotz der Hinweise auf (früheren) Drogenmissbrauch ein Kraftfahrzeug unter Leistungsgesichtspunkten sicher führen. Es könne aber nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller ein Kraftfahrzeug unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln oder anderen psychoaktiven Stoffen oder deren Nachwirkungen führen werde. Beim Antragsteller habe sich eine fortgeschrittene Drogenproblematik entwickelt. Er habe über einen längeren Zeitraum hinweg bis zu mehrmals wöchentlich Kokain konsumiert, oftmals kombiniert mit Alkohol. Eine günstige Verhaltensprognose erfordere, dass eine suchttherapeutische Maßnahme, eine Psychotherapie oder ein fachlicher Beratungsprozess die Voraussetzungen für eine stabile Abstinenz geschaffen habe, die von ausreichender Dauer und nachvollziehbar dokumentiert worden sei. Gleiches gelte hier für eine stabile Alkoholabstinenz. Die Richtigkeit der angegebenen Abstinenz habe der Antragsteller nicht nachweisen können. Außerdem habe offensichtlich noch keine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Verhaltensbereitschaft stattgefunden, die zur Herausbildung der fortgeschrittenen Drogenproblematik geführt habe. Dies begründe Zweifel an der Stabilität der Drogen- und Alkoholabstinenz.

Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 18. November 2020 reichte der Antragsteller einen Untersuchungsbefund des Forensisch-Toxikologischen Centrums (FTC) München vom 11. November 2020 nach, in der ihm ein negatives Ergebnis hinsichtlich der Untersuchung einer 6 cm langen Haarprobe für Kokain, Opiate, andere Opioide, Amphetamine, Benzodiazepine und Cannabinoide bestätigt wurde.

Nach Anhörung entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit Bescheid vom 30. November 2020 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn zur Abgabe seines Führerscheins. Er sei nach dem vorgelegten und nachvollziehbaren Gutachten derzeit ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Die Haarprobe mit negativem Ergebnis über einen Zeitraum von sechs Monaten sei kein Beleg für die Wiederherstellung der fehlenden Fahreignung.




Über die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Regensburg noch nicht entschieden. Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 8. Februar 2021 abgelehnt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei nicht zu beanstanden. Der Antragsteller habe seine Fahreignung durch den feststehenden Kokainkonsum verloren und diese bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses nicht wiedererlangt. Das vorgelegte, nachvollziehbare und verwertbare Gutachten vom 27. Oktober 2020 komme zu einem für den Antragsteller negativen Ergebnis. Dieser habe keine Nachweise über eine Drogenabstinenz von einem Jahr vorgelegt. Hierfür genüge weder die eidesstattliche Versicherung, keine Drogen mehr zu konsumieren, noch die Annahme im Strafurteil, dass er nicht mehr straffällig werde. Außerdem stütze sich das Gutachten nicht allein auf die fehlenden Abstinenznachweise, sondern zusätzlich auch darauf, dass eine tiefergehende Auseinandersetzung des Antragstellers mit der Drogenproblematik nicht stattgefunden habe.

Zur Begründung der hiergegen eingelegten Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt, lässt der Antragsteller ausführen, das Gutachten der Begutachtungsstelle für Fahreignung sei fehlerhaft, weil dem Antragsteller keine Haarprobe entnommen worden sei. Eine solche mit negativem Ergebnis habe er daraufhin selbst eingeholt und der Antragsgegnerin vorgelegt. Aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen sei bei dieser Haarprobe allerdings nur die Hälfte des Pigments untersucht worden. Er habe daher nur für einen Zeitraum von sechs Monaten belegen können, dass er keine der aufgeführten Substanzen konsumiert habe. Von seinem Angebot, auch die zweite Hälfte auswerten zu lassen, habe weder die Begutachtungsstelle für Fahreignung noch die Führerscheinstelle Gebrauch gemacht. Inzwischen seien weitere sechs Monate vergangen. Er könne daher Drogenabstinenz für einen ausreichend langen Zeitraum nachweisen. Im Übrigen habe er seit seiner Haftentlassung bis zum Bescheiderlass unbeanstandet am Straßenverkehr teilgenommen und sei auch nicht rückfällig geworden.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.




II.

Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), vor Erlass des Bescheids zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. Juli 2020 (BGBl I S. 1653), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 20. April 2020 (BGBl I S. 814), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder wenn der Fahrerlaubnisinhaber erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen hat. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).


Nach Nr. 9.1 der Anlage 4 zur FeV entfällt bei Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (ausgenommen Cannabis) die Fahreignung. Dies gilt unabhängig von der Häufigkeit des Konsums, von der Höhe der Betäubungsmittelkonzentration, von einer Teilnahme am Straßenverkehr in berauschtem Zustand und vom Vorliegen konkreter Ausfallerscheinungen beim Betroffenen. Dementsprechend ist die Entziehung der Fahrerlaubnis bereits dann gerechtfertigt, wenn der Fahrerlaubnisinhaber mindestens einmal sogenannte harte Drogen wie Kokain konsumiert hat (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 5.2.2018 – 11 ZB 17.2069 – juris Rn. 10 m.w.N.). Dass der Antragsteller über einen längeren Zeitraum Kokain konsumiert hat, steht aufgrund der Ermittlungen im Strafverfahren und seiner eigenen Einlassung fest. Hierdurch hat er seine Fahreignung verloren. Davon konnte die Antragsgegnerin grundsätzlich auch ohne Anordnung zur Beibringung eines Fahreignungsgutachtens ausgehen (§ 11 Abs. 7 FeV).

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller allerdings im Hinblick auf dessen Abstinenzbehauptung und die vergangene Zeit seit dem letzten nachgewiesenen Konsum von Kokain im August 2019 die Möglichkeit eingeräumt, durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten die Wiedererlangung der Fahreignung zu belegen. Dieser Nachweis ist dem Antragsteller nicht gelungen. Vielmehr kommt das von ihm beigebrachte Gutachten der Begutachtungsstelle für Fahreignung Landshut vom 27. Oktober 2020 schlüssig und nachvollziehbar zu dem Ergebnis, angesichts des mehrjährigen Kokainkonsums in häufiger Kombination mit Alkohol liege eine fortgeschrittene Drogenproblematik vor mit der Folge, dass die erforderliche Stabilität der Drogen- und Alkoholabstinenz eine suchttherapeutische Maßnahme, eine Psychotherapie oder einen fachlichen Beratungsprozess voraussetze.

Dies entspricht bei einer fortgeschrittenen Drogenproblematik den Kriterien für eine angemessene Problembewältigung (vgl. Schubert/Dittmann/Hartmann, Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung – Beurteilungskriterien, 3. Auflage 2013, S. 184 [Kriterium D 2.4 N]). Eine solche therapeutische Maßnahme trägt in erheblichem Umfang zur Stabilität der Abstinenz und Verhaltensänderung bei. Nachdem der Antragsteller bis zum maßgeblichen Zeitpunkt – dem Erlass des angefochtenen Bescheids vom 30. November 2020 (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 11.4.2019 – 3 C 14.17 – BVerwGE 165, 215 Rn. 11 m.w.N.) – offenbar keine entsprechende Beratung oder Therapie in Anspruch genommen hat, ergibt sich schon daraus eine ungünstige Prognose, unabhängig davon, ob er einen ausreichend langen Abstinenzzeitraum nachgewiesen hat. Zu einer weiteren Abklärung der Abstinenzbehauptung war weder die vom Antragsteller beauftragte Begutachtungsstelle für Fahreignung noch das ebenfalls von ihm beauftragte Untersuchungslabor verpflichtet. Vielmehr ist die Antragsgegnerin, dem Gutachten folgend, von einer nicht hinreichend stabilen Abstinenz ausgegangen und hat dem Antragsteller die Fahrerlaubnis daher zu Recht entzogen.



Nach Bescheiderlass eingetretene Änderungen können weder im noch anhängigen Klageverfahren noch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, sondern allenfalls in einem behördlichen Verfahren zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis berücksichtigt werden. Auch hier wäre es Sache des Antragstellers, Nachweise für eine ausreichend lange Abstinenz und für etwaige therapeutische Maßnahmen zu erbringen. Dabei wird angesichts der Vorgeschichte – der Antragsteller hat nach eigenen Angaben 2016 (Fahreignungsgutachten S. 6) oder 2017 (Fahreignungsgutachten S. 11) mit dem Kokainkonsum begonnen und somit jedenfalls über mehrere Jahre hinweg Kokain und teilweise damit im Zusammenhang erhebliche Mengen hochprozentigen Alkohols konsumiert – auch unter Berücksichtigung der seither erkennbaren positiven Entwicklung allein der Nachweis einer einjährigen Abstinenz für eine positive Prognose kaum ausreichen. Wenn nach zuvor gestellter Diagnose eines Drogengebrauchs oder -missbrauchs von einer Abstinenz für einen ausreichend langen Zeitraum ausgegangen werden kann, muss deren Stabilität im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Untersuchung beurteilt werden. Wichtiger Punkt bei der Prognosebeurteilung ist die Frage nach einem offenen und selbstkritischen Umgang mit der Problematik, wobei der Betreffende seine Rückfallgefährdung realistisch einschätzen können und Vermeidungsstrategien entwickelt haben muss (vgl. Schubert/Hetten/Reimann/Graw, Kommentar zu den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Auflage 2018, S. 304 f.). Hierbei erscheinen therapeutische Maßnahmen im Hinblick auf die festgestellte fortgeschrittene Drogenproblematik unverzichtbar.

Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Maßgeblich ist nur die Fahrerlaubnisklasse B, die die Klassen AM und L einschließt (vgl. § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV). Die mit den Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04 versehenen Klassen A1 und A berechtigen nur zum Führen dreirädriger Fahrzeuge (vgl. Anl. 9 B I. lfd. Nr. 126 und 127 zur FeV) und wirken sich nicht streitwerterhöhend aus (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2014 – 11 CS 13.2342 – BayVBl 2014, 373 = juris Rn. 22). Der Senat macht daher von seiner Befugnis gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG Gebrauch, die Wertfestsetzung des Verwaltungsgerichts von Amts wegen zu ändern.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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