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Verwaltungsgerichtshof München (Beschluss vom 28.01.2021 - 11 CS 20.2955 - Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erkrankung an Diabetes mellitus Typ 1

VGH München v. 28.01.2021: Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erkrankung an Diabetes mellitus Typ 1




Der Verwaltungsgerichtshof München (Beschluss vom 28.01.2021 - 11 CS 20.2955) hat entschieden:

   Voraussetzung für die - auch bedingte - Fahreignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 (Fahrerlaubnisklassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und FzF) bei Diabetes mellitus und medikamentöser Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko (z. B. Insulin) ist eine gute Stoffwechselführung ohne schwere Unterzuckerung über drei Monate und eine ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung.

Siehe auch
Diabetes
und
Krankheiten und Fahrerlaubnis


Gründe:


I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die Anordnung des Sofortvollzugs hinsichtlich der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1 und C1E und der Verpflichtung zur Abgabe seines Führerscheins.

Der 1972 geborene Antragsteller ist seit 2003 an Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt. Nach Aufforderung legte er dem Landratsamt R. (im Folgenden: Landratsamt) ein ärztliches Gutachten der ... L2. Service GmbH vom 24. August 2018 vor, das zu dem Ergebnis kam, er sei zwar (unter Auflagen) in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Fahrerlaubnisgruppe 1 gerecht zu werden, jedoch nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen der Fahrerlaubnisgruppe 2. Daraufhin entzog ihm das Landratsamt mit Bescheid vom 18. Oktober 2018 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1 und C1E und verpflichtete ihn zur Abgabe des Führerscheins. Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des hiergegen erhobenen Widerspruchs hat das Verwaltungsgericht Ansbach mit Beschluss vom 2. Januar 2019 abgelehnt. Der Beschwerde des Antragstellers gab der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 19. März 2019 statt. Dem vorgelegten Gutachten könne nicht mit hinreichender Sicherheit entnommen werden, dass der Antragsteller ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 sei. Es sei insoweit nicht nachvollziehbar, als es zu dem Ergebnis komme, der Antragsteller werde "aufgrund der instabilen Stoffwechsellage" den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 nicht gerecht. Ohne weitere Erläuterungen sei nicht plausibel, bei einer insulinpflichtigen Diabeteserkrankung allein von einem höheren, außerhalb des Zielbereichs liegenden HbA1c-Wert auf eine instabile Stoffwechsellage zu schließen. Der Antragsteller sei jedoch trotz der gutachterlichen Mängel weiterhin verpflichtet, an der Klärung der Frage mitzuwirken, ob und ggf. wie sich seine Erkrankung auf seine Fahreignung auswirke.

Nach Rücknahme des Bescheids vom 18. Oktober 2018 forderte das Landratsamt den Antragsteller mit Schreiben vom 20. Mai 2019 erneut zur Vorlage eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens auf. Das vorgelegte Gutachten vom 26. August 2019, ergänzt durch Stellungnahme vom 2. Oktober 2019, kommt zu dem Ergebnis, der Antragsteller sei (noch) nicht in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 vollständig gerecht zu werden. Im Verlauf der letzten Jahre sei die Stoffwechsellage persistierend schlecht eingestellt gewesen. Die Blutzuckerwerte lägen trotz Therapie immer noch im deutlich erhöhten Bereich. Es bestehe ein ausgeprägtes kardiovaskuläres Risikoprofil. Die Laborwerte deuteten auf einen höheren Alkoholkonsum hin als vom Antragsteller geschildert. Unter Alkoholeinfluss könne die Intensität von Unterzuckerungen, insbesondere im Zusammenhang mit einer Insulintherapie, deutlich erhöht sein. Die Auswertung des patienteneigenen Messgeräts weise eine beträchtliche Zunahme der Unterzuckerungen im Zeitraum von Mai bis August 2019 auf. Insgesamt bestehe eine chronisch entgleiste Stoffwechsellage. Die entsprechenden Kontrollen beim Hausarzt und in der Diabetesschwerpunktpraxis würden nicht im erforderlichen Umfang getätigt. Auch die Medikamentencompliance müsse hinterfragt werden. Ein Wahrnehmungstraining für Hypoglykämien oder eine Unterzuckerungsschulung habe nicht stattgefunden. Zur Wiederherstellung der Eignung seien Beschränkungen und Auflagen erforderlich (regelmäßige Dokumentation des Zuckerstoffwechsels und der Begleiterkrankungen, geeignete Schulungen, Reduktion der Unterzuckerungen, augenärztliche Untersuchungen, Nachbegutachtung).




Nach Anhörung entzog das Landratsamt dem Antragsteller mit Bescheid vom 24. Oktober 2019 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1 und C1E und verpflichtete ihn zur Abgabe seines Führerscheins. Er sei nach dem vorgelegten und nachvollziehbaren Gutachten derzeit ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2.

Über die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Ansbach noch nicht entschieden. Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 13. November 2020 abgelehnt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei nicht zu beanstanden. Der Antragsteller sei zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses nicht geeignet gewesen, ein Fahrzeug der Fahrerlaubnisgruppe 2 sicher zu führen. Das ergebe sich aus dem vorgelegten und nachvollziehbaren Gutachten, auf das sich das Landratsamt gestützt habe. Die Eignung für die Gruppe 2 sei nur bei guter Stoffwechselführung ohne schwere Unterzuckerungen gegeben, wobei der Zeitraum drei Monate betragen müsse. Fortschritte des Antragstellers hinsichtlich seiner Compliance, seiner Adhärenz und seiner Hypoglykämiewahrnehmung nach Erlass des Bescheids seien in einem möglichen Wiedererteilungsverfahren zu prüfen. Im Übrigen bestätige der Entlassungsbrief des Fachklinikums, wo der Antragsteller vom 18. bis 29. November 2019 stationär behandelt worden sei, dass es noch im Behandlungszeitraum zu Unterzuckerungen gekommen sei, die der Antragsteller zum Teil nicht wahrgenommen habe.

Zur Begründung der hiergegen eingelegten Beschwerde, die der Antragsgegner wegen fehlender Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung als unzulässig ansieht, lässt der Antragsteller ausführen, dem Antrag sei schon wegen der Verfahrensdauer stattzugeben. Das Verwaltungsgericht habe über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr nicht entschieden, obwohl es sich um ein Eilverfahren handele. Der Antragsteller nutze seit einiger Zeit ein anderes Blutzuckermessgerät. Nach den ausgelesenen Daten sei es in keinem Zeitpunkt zu einem Messwert unter 50 mg/dl gekommen. Die Wahrnehmung von Hypoglykämien habe sich deutlich verbessert. Der Antragsteller habe sich zu keinem Zeitpunkt etwas im Straßenverkehr zu Schulden kommen lassen. Er müsse die Fahrerlaubnisklasse CE behalten, um seine Arbeitsstelle nicht zu verlieren. Er wäre aber bereit, die Fahrerlaubnis der Klasse C abzugeben. Die sofortige Vollziehung sei widersprüchlich, weil der Antragsteller seit Erlass des Bescheids weiterhin Fahrzeuge in einer Größenordnung von 7,5 Tonnen führe, größere Fahrzeuge allerdings nicht.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.





II.

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Zwar weist die Landesanwaltschaft Bayern zu Recht auf das Darlegungsgebot des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO hin, das eine Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung erfordert. Genügt die Beschwerde diesen Anforderungen nicht, ist sie als unzulässig zu verwerfen (§ 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO). Obwohl die Beschwerdebegründung des Antragstellers nicht auf alle tragenden Entscheidungsgründe eingeht, insbesondere nicht auf die letzte Behördenentscheidung als maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Fahrerlaubnisentziehung, lassen die weiteren Ausführungen zumindest ansatzweise erkennen, aus welchen Gründen der Antragsteller die Entziehung der Fahrerlaubnis als rechtswidrig ansieht. Sie genügen damit gerade noch dem Darlegungsgebot.

2. Die Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

a) Die Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens gebietet es nicht, die Ausgangsentscheidung aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen. Auch wenn seit dem richterlichen Schreiben vom 18. März 2020, auf das der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers nicht reagiert hat, bis zur Entscheidung vom 13. November 2020 ca. acht Monate vergangen sind, in denen das Gericht das Verfahren nicht fortgeführt hat, ändert dies nichts an der auch vom Senat geteilten Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis im Zeitpunkt des Bescheiderlasses rechtmäßig war und der Antragsteller trotz einer möglicherweise seither eingetretenen Veränderung der Sachlage zu seinen Gunsten keine Aufhebung des Bescheids verlangen kann.


Wie bereits ausgeführt ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 11.4.2019 - 3 C 14.17 - BVerwGE 165, 215 Rn. 11 m.w.N.), hier also der Erlass des angefochtenen Bescheids vom 24. Oktober 2019. Damit bleiben seither eingetretene Änderungen sowohl für das noch anhängige Klageverfahren als auch für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes von vornherein außer Betracht und können allenfalls in einem behördlichen Verfahren zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis berücksichtigt werden.

b) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), vor Erlass des Bescheids zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Juni 2019 (BGBl I S. 846), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Oktober 2019 (BGBl I S. 1416), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Nach Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV setzt die Eignung oder bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 (Fahrerlaubnisklassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und FzF) bei Diabetes mellitus und medikamentöser Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko (z. B. Insulin) voraus, dass eine gute Stoffwechselführung ohne schwere Unterzuckerung über drei Monate und eine ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung vorliegt. Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (Verkehrsblatt S. 110) in der Fassung vom 28. Oktober 2019 (Verkehrsblatt S. 775) weisen in Nr. 3.5 (gültig ab 24.5.2018) ebenfalls darauf hin, dass die Gefährdung der Verkehrssicherheit beim Diabetes mellitus in erster Linie vom Auftreten einer Hypoglykämie mit Kontrollverlust, Verhaltensstörungen oder Bewusstseinsbeeinträchtigungen ausgeht. Für das Führen von Fahrzeugen der Gruppe 2 sei grundsätzlich eine stabile Stoffwechselführung über drei Monate nachzuweisen.

Das war nach dem vorgelegten Gutachten im Zeitpunkt des Bescheiderlasses beim Antragsteller nicht der Fall. Das Gutachten stellt eine chronisch entgleiste Stoffwechsellage, eine beträchtliche Zunahme der Unterzuckerungen, erhöhte Blutzuckerwerte trotz Therapie und ein ausgeprägtes kardiovaskuläres Risikoprofil fest. Begründete Einwände gegen das Gutachten hat der Antragsteller weder erhoben noch sind sie sonst ersichtlich. Die durch den Klinikaufenthalt nach Erlass des Bescheids eingetretenen positiven Veränderungen stellen die Richtigkeit der gutachterlichen Befunde nicht in Frage. Die Ungeeignetheit gemäß Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV setzt auch nicht voraus, dass der Fahrerlaubnisinhaber im Straßenverkehr negativ aufgefallen ist.



c) Auch die Interessenabwägung ist nicht zu beanstanden. Da die Erfolgsaussichten des Klageverfahrens nicht offen sind, sondern alles dafür spricht, dass der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist, muss das Interesse des Antragstellers, aus beruflichen Gründen bis auf weiteres auch mit Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1 und C1E am Straßenverkehr teilnehmen zu können, hinter dem Schutz der Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrzeugführern zurücktreten. Insoweit kommt es auch nicht darauf an, dass es offenbar noch zu keinen krankheitsbedingten Vorfällen im Straßenverkehr gekommen ist, bei dem andere Verkehrsteilnehmer gefährdet oder gar geschädigt wurden. Soweit der Antragsteller in der Beschwerdebegründung anmerken lässt, er nehme nach wie vor mit Fahrzeugen "in einer Größenordnung von 7,5 Tonnen" (entspricht der Fahrerlaubnisklasse C1) am Straßenverkehr teil, sei darauf hingewiesen, dass ihm auch dies aufgrund der für sofort vollziehbar erklärten Entziehung der Fahrerlaubnis seit Bekanntgabe des Bescheids vom 24. Oktober 2019 untersagt ist. Ebenfalls nicht schlüssig ist die Erklärung des Antragstellers, die Fahrerlaubnis der Klasse C abgeben, gleichzeitig aber die Klasse CE behalten zu wollen. Da die Klasse CE Fahrzeugkombinationen betrifft, die aus einem Zugfahrzeug der Klasse C und Anhängern oder einem Sattelanhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 750 kg bestehen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 FeV), ergibt die isolierte Inhaberschaft der Fahrerlaubnisklasse CE ohne die Klasse C keinen Sinn.

3. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.

4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1 und 46.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Fahrerlaubnisklassen C1 und C1E sind in den Fahrerlaubnisklassen C und CE enthalten (§ 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 und Nr. 7 FeV) und wirken sich daher nicht streitwerterhöhend aus.

5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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