Das Verkehrslexikon

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Bundesgerichtshof Urteil vom 27.07.1972 - 4 StR 287/72 - Unfallflucht nach Beschädigung eines Polizeifahrzeugs

BGH v. 27.07.1972: Unfallflucht nach Beschädigung eines Polizeifahrzeugs




Der Bundesgerichtshof (Urteil vom 27.07.1972 - 4 StR 287/72) hat entschieden:

   Ein Kraftfahrer, der das ihn wegen anderer Straftaten verfolgende Polizeifahrzeug vorsätzlich beschädigt und weiterfährt, um sich auch hinsichtlich dieses Vorfalls den Feststellungen zu entziehen, ist wegen Unfallflucht strafbar.

Siehe auch
Verkehrsunfall
und
Stichwörter zum Thema unerlaubtes Entfernen vom Unfallort


Gründe:


Das Schwurgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls und wegen vorsätzlichen Eingriffs in den Straßenverkehr durch Hindernisbereiten in Tateinheit mit Bereiten eines ähnlichen, ebenso gefährlichen vorsätzlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, Widerstandsleistung, Fahren ohne Fahrerlaubnis und Unfallflucht zur Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von fünf Jahren keine Fahrerlaubnis zu erteilen.

Die Revision des Angeklagten rügt Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die nicht näher ausgeführte Verfahrensrüge ist unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Sachbeschwerde ist unbegründet.

Anlass zur Erörterung gibt nur die (tateinheitliche) Verurteilung wegen Unfallflucht.




Nach den Urteilsfeststellungen rammte der Angeklagte, der keine Fahrerlaubnis besitzt, mit einem kurz zuvor von ihm gestohlenen Personenkraftwagen nach Durchbrechen mehrerer Polizeisperren zweimal absichtlich den ihn verfolgenden Streifenwagen, um sich unter allen Umständen der Strafverfolgung wegen Diebstahls und Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu entziehen. An beiden Fahrzeugen entstand erheblicher Sachschaden. Der Angeklagte setzte seine Flucht nunmehr auch deshalb fort, weil er sich hinsichtlich der Zusammenstöße der Feststellung seiner Person und der Art seiner Beteiligung entziehen wollte.

Das Schwurgericht hat den Tatbestand der Unfallflucht trotz der vorsätzlichen Verursachung der Schäden durch den Angeklagten als erfüllt angesehen. Nach seiner Meinung ist eine Bestrafung (auch) aus § 142 StGB "schon deshalb geboten, weil sonst der Vorsatztäter jedenfalls im Schuldspruch weniger als Verkehrsstraftäter gekennzeichnet würde als der Fahrlässigkeitstäter". Die Entscheidung entspricht der auf das Reichsgericht (RGSt 75, 355, 360) zurückgehenden ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

Danach ist unter dem Begriff "Verkehrsunfall" jedes mit dem Straßenverkehr und seinen Gefahren ursächlich zusammenhängende Ereignis zu verstehen, durch das ein Mensch zu Schaden kommt oder ein nicht ganz belangloser Sachschaden verursacht wird (BGHSt 8, 263 ff). Der Kennzeichnung eines solchen Geschehens als Verkehrsunfall steht nicht entgegen, dass ein daran Beteiligter es vorsätzlich herbeigeführt hat, wenn nur einem anderen ein von ihm ungewollter Schaden entstanden ist. Dann handelt es sich mindestens für diesen anderen um ein ungewolltes, ihn plötzlich von außen her treffendes Ereignis (BGHSt 12, 253 ff, 256; BGH VRS 11, 425; 21, 113, 117; 28, 359; 36, 23, 24). So liegt es hier. Der Führer des Streifenwagens mag mit der Möglichkeit eines Zusammenstoßes gerechnet haben; gewollt – auch im Sinne des bedingten Vorsatzes – hat er ihn und die Schäden jedenfalls nicht.


Der Senat hält die Einwendungen von Roxin (NJW 1969, 2038) – im Anschluss an eine Entscheidung des Landgerichts Duisburg (NJW 1969, 1261) – sowie von Dünnebier (GA 1957, 33, 42), Cramer (Straßenverkehrsrecht § 142 StGB Rn 12) und Jagusch (Straßenverkehrsrecht 19. Aufl. § 142 StGB Bem. 4 Abs. 5) gegen diese Rechtsprechung für unbegründet. Wie er schon wiederholt angedeutet hat (VRS 10, 220; 21, 113, 117), geht es hier nicht um die Beurteilung eines Verhaltens im öffentlichen Verkehrsraum, das ausschließlich dazu bestimmt ist, andere zu schädigen (vgl. auch Schönke/Schröder 16. Aufl. § 142 StGB Rn 14). Wenn das Kraftfahrzeug nicht (auch) als Mittel der Fortbewegung im Straßenverkehr, sondern nur als Werkzeug zur Verwirklichung eines außerhalb des Straßenverkehrs liegenden Erfolges benutzt wird, etwa um den Nebenbuhler zu töten oder das Gartentor des feindlichen Nachbarn zu zerstören, lassen sich in der Tat gewichtige Gründe, nicht zuletzt auch vom Sprachlichen her, gegen die Annahme eines Verkehrsunfalls und einer darauf fußenden Wartepflicht des Täters anführen. Um ein solches verkehrsatypisches Verhalten, dessen Schadensfolgen, wie Roxin meint, "keine Auswirkungen des allgemeinen Verkehrsrisikos, sondern einer deliktischen Planung sind, wie sie an beliebigen anderen Orten mit beliebigen anderen Mitteln auch durchführbar ist", handelt es sich vorliegend nicht. Solches Verhalten bedarf daher auch keiner weiteren Erörterung und abschließenden Entscheidung. Hier hat der Angeklagte wie üblicherweise ein Kraftfahrer als Verkehrsteilnehmer am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen. Er hat das Kraftfahrzeug stets und in erster Linie seinem Zweck entsprechend als Mittel der Fortbewegung im öffentlichen Verkehrsraum und nicht etwa (ausschließlich) als Tatwaffe benutzt. Der bei solcher Fortbewegung eines Kraftfahrzeugs im Verkehr einem anderen zugefügte Schaden ist Auswirkung des allgemeinen Verkehrsrisikos auch dann, wenn er nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich herbeigeführt wird. Er steht mit den im Straßenverkehr typischen Gefahren im unmittelbaren Zusammenhang und gehört damit zum Begriff des Verkehrsunfalls (so auch Oppe GA 1970, 368; Geppert GA 1970, 3; Dreher 33. Aufl. § 142 StGB Bem. 2; Rüth in LK 9. Aufl. § 142 StGB Rn 16, 17).

Auch die sonst erhobenen Bedenken gegen die Bestrafung des Vorsatztäters sind nicht stichhaltig.

Roxin ist allerdings darin beizupflichten, dass nach heutiger Rechtsauffassung durch § 142 StGB nicht die "öffentliche Ordnung", das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung von Verkehrssündern, mit der noch das Reichsgericht (aaO) die Wartepflicht "erst recht" des vorsätzlich Handelnden begründet hatte, sondern allein das private Feststellungs- und Beweissicherungsinteresse der am Unfall Beteiligten wegen der zwischen ihnen entstandenen Rechtsbeziehungen geschützt wird (vgl. dazu BVerfGE 16, 191 ff mit Nachweisen). Das Feststellungsinteresse eines vorsätzlich geschädigten Unfallbeteiligten ist indessen keinesfalls geringer als das eines fahrlässig geschädigten. Hier einen Unterschied zu machen, wäre schlechterdings unverständlich.

Rechtlich bedeutungslos ist es, dass die Absicht, sich den nach den Zusammenstößen erforderlichen Feststellungen zu entziehen, nicht der einzige Beweggrund des Angeklagten war, dieser vielmehr nach wie vor mit der Flucht in erster Linie die Absicht verfolgte, sich der Strafverfolgung wegen Diebstahls und Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu entziehen (Urteil des Senats vom 27. September 1956 – 4 StR 290/56).

Unfallflucht ist nicht mitbestrafte Nachtat der vorsätzlichen Straßenverkehrsgefährdung des § 315 b StGB (so LG Duisburg aaO) oder der vorsätzlichen Sachbeschädigung des § 303 StGB (so Roxin aaO S. 2039) oder, worauf Roxin nicht eingeht, etwa einer vorsätzlichen Körperverletzung oder Tötung. Durch die Unfallflucht verletzt der Täter immer ein neues Rechtsgut; sie führt auch zu einem weiteren und andersartigen Schaden, nämlich zur Vereitelung des privaten Feststellungsinteresses der geschädigten Unfallbeteiligten.



Schließlich vermag sich der Senat auch der Auffassung nicht anzuschließen, dass dem Vorsatztäter wegen der "veränderten Motivationslage" (vgl. Roxin aaO S. 2040; auch LG Duisburg aaO) oder wegen seiner "außergewöhnlichen seelischen Zwangslage" (Geppert aaO S. 14) ein Warten an der Unfallstelle nicht zumutbar sei und deshalb seine Bestrafung wegen Unfallflucht entfallen müsse. Von Zumutbarkeit ist in § 142 StGB – im Gegensatz zu anderen Strafvorschriften, etwa zu § 330 c StGB – nicht die Rede. Im Gegenteil – § 142 StGB mutet es demjenigen, der einen Verkehrsunfall verursacht hat, gerade zu, die notwendigen Feststellungen durch Verweilen an der Unfallstelle zu ermöglichen (BGH, Urteil vom 27. November 1951 – 2 StR 370/51; BGH VRS 10, 220). Dieses begrenzte Verbot der Selbstbegünstigung ist verfassungsgemäß (BVerfG aaO). Es ist kein vernünftiger Grund dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber gerade den ungleich gefährlicheren Vorsatztäter hiervon ausnehmen und begünstigen wollte. Wer aus irgend einem Grunde fliehen will und das ihn blockierende Fahrzeug vorsätzlich rammt und beiseite stößt, kann billigerweise nicht günstiger behandelt werden als der, der zurücksetzt, um einen anderen Fluchtweg zu wählen und dabei fahrlässig ein anderes Fahrzeug beschädigt. Die psychische Zwangslage des Täters wird nicht von der Schuldform, sondern von anderen Umständen bestimmt und kann bei fahrlässigem Handeln durchaus ebenso groß oder noch größer als bei vorsätzlichem Handeln sein (vgl. auch Oppe NJW 1969, 1261 und GA 70, 370).

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